Theoriefragmente für eine Zustandsbeschreibung
Der Begriff der Klasse

von Karl Müller

02/06

trend
onlinezeitung

Marx hat immer wieder betont, daß der Kapitalismus kein stationäres Gebilde ist, sondern eine Gesellschaft im historischen Fluß. Deswegen ging es Marx darum, die Bewegungsgesetze dieses Fließens - sprich die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise - zu entdecken. Unter diesem Gesichtpunkt behandelt, erscheint das Proletariat allerdings nur mit dem Teil, der dem kapitalistischen Verwertungsprozeß direkt unterworfen ist (in der Fabrik) und zwar als "variables Kapital". Diese Behandlung des Proletariats in seinem ökonomischen Hauptwerk "Das Kapital" hat zu einer Reihe von Mißverständnissen und Diskussionen Anlaß gegeben, die in der Behauptung gipfelten, nur wer in der Fabrik für Lohn arbeitet ist Prolet. Tatsächlich aber bricht die Behandlung der Frage der Klasse bei Marx im "Kapital" an der Stelle ab, wo er versuchte, die Klasse als eine auf die Totalität der Gesellschaft bezogene Erscheinung zu behandeln. (52. Kapitel, III. Band des Kapitals). Deshalb muß der Klassenbegriff, so wie er dessen Ableitung begonnen hatte und durch Tod nicht mehr beenden konnte, auch erarbeitet werden, nämlich vom Standpunkt der Gesellschaft als Ganzes.

Die kategoriale Rekonstruktion des Klassenbegriffs aus der Totalität der gesellschaftlichen Verfaßheit umfaßt demnach für die Bestimmung des Proletariats alle die, die ihr Leben nur durch Verkauf ihres Arbeitsvermögens - selbst wenn sich dieser Verkauf nicht jederzeit realisieren läßt - reproduzieren können. Das entscheidende Problem ist jedoch die Durchdringung der Wirklichkeit unter dem erkenntnistheoretischen Anspruch der Dialektik von Begriff und realen Verhältnissen. Dieses Problem kann nur überwunden werden, wenn die Frage nach der inneren Gliederung der proletarischen Klasse in Bezugsetzung auf das Kapitalverhältnis gestellt wird, d.h. wie sich die Klasse durch die Bewegung des Kapitals strukturiert. Erst durch eine Beantwortung in diesem Sinne kann überhaupt das quantitative Ausmaß der Klasse in Abgrenzung zu den anderen Klassen und Schichten bestimmt werden. Und im Anschluß daran käme man zu einer soziologischen Behandlung der Klassenfrage, die ihrerseits nur dann eine sozialemanzipatorische Funktion erfüllte, wenn das Objekt der Untersuchung durch die Untersuchung selber zum Subjekt im historischen Sinne würde.

Gegen diese Auffassung des Übergangs der Klasse an sich zu einer Klasse für sich wird von werttheoretischer Seite vorgetragen, Marx habe sich mit seinen Aussagen über das revolutionäre Subjekt, welches er historisch beim Proletariat verortete, unvermittelt neben seine Erkenntnisse über den Gang der Wertvergesellschaftung gestellt. Diese Sichtweise kehrt die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie hegelianisch um, indem der Wert, worin sich die vergesellschaftete Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen realabstrakt ausdrückt, in eine transzendentale Ebene verschoben wird und die tätigen Subjekte nur noch als Agenten seines Vollzugs auf der konkret-historischen Bühne erscheinen. Der im Fetisch Geld inkarnierte Wert bleibt demnach gegenüber den tätigen Individuen als seinen Vollzugsorganen unentdeckt und eine bewußte Aufhebung dieses Verhältnisses ist solange ausgeschlossen, bis der Zeitpunkt naht, wo der Wert sich selbst nicht mehr genügen kann. Der Wert ist quasi das historische und sich selbst aufhebende Subjekt. Ein politischer Zusammenschluß gegen dieses Subjekt, das heißt die Selbstformierung der Klasse zum Zwecke der Aufhebung der Arbeit und damit der Klassen überhaupt ist denklogisch ausgeschlossen, da es vom Standpunkt einer als Ganzes begriffenen Gesellschaft nur ein historisches Subjekt geben kann.

Die Arbeit an der Klassenanalyse, d.h. die Durchdringung der gesellschaftlichen Totalität und Rückführung der alltäglichen Erscheinungen auf die kapitalistischen Verwertungsbedingungen, ist keine akademische Profilierungsfrage, wo nur soziologisch aufgedröselt wird, wer Prolet ist und wer nicht, bzw. ab wann wieder usw.usf., sondern hier geht es um die Aufhebung der Arbeit und darum herauszuarbeiten, wer ein Interesse daran hat, mit der Aufhebung der Arbeit die Aufhebung der Klassen einzuleiten. Denn die gesellschaftliche Organisation der Arbeit unter dem Diktat des Kapitalverhältnisses reproduziert eben nicht nur die Klassen, Unterdrückung und den Staat, sondern vermittelt an der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft als Sichtweise von diesen Vorgängen nur wie die Verteilung der Arbeit erscheint und sich in verschiedenen Einkommensquellen ausdrückt. Die klassenanalytische Beschäftigung mit diesen Erscheinungen und ihre Rückführung auf das Kapitalverhältnis bedeuten daher, diese Erscheinungen und die dazugehörigen Fetischisierungen zu durchbrechen, um in der politischen Praxis Strategien und Taktiken, Forderungen und Parolen aus der Wirklichkeit zum Zwecke ihrer Aufhebung ableiten zu können.

Editorische Anmerkungen

Der Text entstammt den Vorarbeiten zu "Ästhetisierung des Politischen" aus dem Jahre 1995. Die anderen Textteile befinden sich im Archiv des INFOPARTISAN.net.