Marxistische Lehrbriefe
Einführung in die
marxistische Dialektik (Teil 3)
02/07

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In unseren vorangegangenen Lehrbriefen zum Thema Dialektik erörterten wir die allgemeinsten Gesetze dieser tiefgründigsten, allseitigsten Entwicklungslehre. Es wäre jedoch falsch zu glauben, damit wäre - wenn auch nur skizzenhaft - der Reichtum der Dialektik erfaßt. Die Dialektik der Wirklichkeit kommt auch in einer Reihe von wechselseitig (korrelativ) aufeinander bezogenen Grundbegriffen (Kategorien) zum Ausdruck. Es handelt sich um Kategorien, die einander zugleich entsprechen und ausschließen, wie Wesen und Erscheinung, Inhalt und Form, Ursache und Wirkung, Notwendigkeit und Zufälligkeit, Notwendigkeit und Freiheit, Möglichkeit und Wirklichkeit. Nachfolgend wollen wir das dialektische Verhältnis dieser korrelativen Kategorien kurz darstellen.

Wesen und Erscheinung

Bei der Betrachtung der Dinge, Verhältnisse und Prozesse der Natur und Gesellschaft müssen wir Wesen und Erscheinung unterscheiden. Das Wesen der Dinge zeigt sich nicht unmittelbar; es ist in den Erscheinungen bzw. unter der Oberfläche verborgen. Jeder kennt beispielsweise die Erscheinung der täglichen Bahn der Sonne um die Erde von ihrem Anfang im Osten bis zu ihrem Untergang im Westen. Das Wesen dieser Erscheinung ist indessen nicht eine Bewegung der Sonne um die Erde, sondern eine Bewegung der Erde um ihre eigene Achse, wodurch sich das Verhältnis jedes Punkts der Eroberfläche zur Sonne im Laufe des Tages entsprechend ändert. In der Erscheinung ist ferner die Sonne nicht größer als ein Fußball, aber dem Wesen der Sache nach ist die Sonne so groß, daß,.vergliche man sie mit einem Fußball, die Erde dann kleiner wäre als eine Erbse.

Im Kapitalismus erscheint der Arbeitslohn als eine Bezahlung der ganzen in einer Zeiteinheit geleisteten Arbeit, während der Arbeiter dem Wesen der Sache nach nur einen Teil des von ihm in dieser Zeit geschaffenen Wertes als Lohn erhält.

Wohin wir uns wenden, müssen wir feststellen, daß Wesen und Erscheinungen der Dinge und Prozesse nicht ein und dasselbe sind. „Alle Wissenschaft wäre überflüssig", sagt Marx, „wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen." (K. Marx, Das Kapital, Bd. III, Berlin 1953, S. 870). Aber Wesen und Erscheinung sind auch nicht durch eine unüberschreitbare Kluft voneinander getrennt. Es ist doch immer das Wesen einer Sache, das in den Erscheinungen zum Ausdruck kommt. Nur darum können wir, mit der Untersuchung der Erscheinungen beginnend, durch Vergleiche, durch das Suchen nach Zusammenhängen usw. zum Kern, zum Wesen vordringen.

Darum sind zwei Verhaltensweisen der dialektischen Beziehung von Wesen und Erscheinung unangemessen. Die eine reduziert die Dinge auf ihre Erscheinungen. Sie gibt sich z.B. damit zufrieden, wenn ein Großteil der Arbeiter in der Bundesrepublik unkritisch gegenüber dem Kapitalismus ist: „Die Arbeiter sind nicht mehr revolutionär", heißt es dann aus den Kreisen mancher Leute, die Linke sein wollen. Hier wird die objektive Rolle der Arbeiterklasse (das Wesen) mit ihrem gegenwärtigen Bewußtsein (der Erscheinung) verwechselt. Auch offen ideologische Verteidiger des Kapitalismus stehen auf diesem Boden, wenn sie etwa sagen: „Die Arbeiterklasse (oder der Kapitalismus) ist heute verschwunden." Die zweite falsche Haltung besteht darin, Wesen und Erscheinung zu trennen, das Wesen zu verselbständigen - z.B. nur die objektive Rolle der Arbeiterklasse zu sehen und den konkreten Bewußtseinsstand zu unterschätzen, wird das „Wesen" gar „verjenseitigt", so geraten wir in den Bereich der Theologie, für die das Wesen eine göttliche Erscheinung ist. Die richtige Lösung anerkennt dagegen die widersprüchliche Einheit von Wesen und Erscheinung.

Inhalt und Form

Auch diese beiden Grundbeziehungen alles Seins und Werdens stehen zueinander in einem dialektischen Verhältnis. Nirgends gibt es einen Inhalt ohne Form oder eine Form ohne Inhalt. So ist der Inhalt der gesellschaftlichen Produktion bestimmt durch die jeweils vorhandenen Produktivkräfte (Werkzeuge, Technik sowie Arbeitserfahrung, Wissen), während die Form, die Produktionsverhältnisse, die Eigentumsverhältnisse, sind. An diesem Beispiel läßt sich zeigen, in welchem Verhältnis Inhalt und Form zueinander stehen:

In der Produktion bereichern die Menschen ihre Produktivkräfte. Diese -der Inhalt - beginnen, sich zu ändern. Dabei kommt es schließlich zu einem Widerspruch zwischen dem Inhalt (den Produktivkräften) und der Form (den Produktionsverhältnissen), die der Weiterentwicklung der Produktivkräfte im Wege steht. Ursprünglich, als der Kapitalismus den Feudalismus verdrängte, waren die kapitalistischen Produktionsverhältnisse die den neu herangewachsenen Produktivkräften angemessene, sie fördernde Form (vgl. die Lehrbriefe der Serie A, Nr. 2: Wie sich Mensch und Gesellschaft entwickelten - Von der Urgemeinschaft bis zum Untergang des Feudalismus; Serie A, Nr. 6: Die Entwicklung des Kapitalismus). Mit der Entwicklung der Produktivkräfte trat im Kapitalismus jedoch ein ähnlicher Widerspruch auf: die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sind zu eng geworden für die modernen Produktivkräfte (vgl. hierzu die Lehrbriefe der Serie A, Nr. 7: Der utopische Sozialismus; Nr. 8: Der wissenschaftliche Sozialismus).

Wir haben es also wiederum mit dem dialektischen Verhältnis einer widerspruchsvollen Einheit zwischen Inhalt und Form zu tun, wobei der Inhalt die bestimmende Seite dieses Verhältnisses ist, die Form jedoch nicht etwas Passives darstellt, sondern fördernd oder hemmend auf den Inhalt zurückwirkt. Diese widerspruchsvolle Einheit wird im Verlaufe der Entwicklung, die vom Inhalt ausgeht, gesprengt und durch eine neue widerspruchsvolle Einheit von Inhalt und Form ersetzt.

Auch hier ist wieder vor der falschen Position einer Verselbständigung und Entgegensetzung der Paare des Gegensatzes zu warnen, welche Position von reaktionären Kräften gern eingenommen wird, die sich dabei an das formale Element klammern. So gibt es Dutzende von „Reform"-Vorschlägen, die die Form, das kapitalistische Eigentum, erhalten, ein wenig etwa in Richtung auf „Volksaktionäre", „Volkskapitalismus" usw. „ausgestalten" wollen, um die Zerstörung des kapitalistischen Inhalts selbst, die Schaffung der notwendigen, neuen Einheit von Inhalt und Form, des Sozialismus, hinauszuzögern. Im Bereich der Ideologie tritt diese Position, die Form über den Inhalt zu stellen, in der Weise auf, daß barbarische Inhalte übersehen, da sie in „vollendeter Form" dargeboten werden. Aber auch junge Linke, die über den „revolutionären" oder „revisionistischen" Charakter von Kampfformen „an sich" streiten, also über Räte „an sich" , Parlamentarismus „an sich", Mitbestimmung „an sich", trennen undialektisch die Form und Inhalt, das heißt: sie wenden eine bürgerliche Methode der Untersuchung und Beurteilung an.

Ursache und Wirkung

Nichts, was existiert, ist ohne Ursache, kraft deren es existiert. Alle Dinge und Erscheinungen sind Wirkungen von Ursachen, hängen ursächlich mit anderen Dingen und Erscheinungen zusammen. Darum ist die Kausalität eine wesentliche Art und Weise des allgemeinen Zusammenhangs der Dinge und Erscheinungen. Zwischen Ursache und Wirkung besteht ein bestimmter Zusammenhang: Bestimmte Ursachen rufen unter gleichen Bedingungen stets die gleichen bestimmten Wirkungen hervor. Es ist von großer Bedeutung, auf diese Seite der „gleichen Bedingungen" zu verweisen. Wenn sich beispielsweise der Luftdruck erheblich verändert, so ändert sich auch die Temperatur, bei der Wasser zum Kochen kommt. Die Einführung der Automation hat im Kapitalismus andere soziale Folgen als im Sozialismus, weil die gesellschaftlichen Bedingungen grundverschieden sind.

Weiter muß zwischen Haupt- und Nebenursachen unterschieden werden oder zwischen mittelbaren und unmittelbaren Ursachen. Der Erfolg der Nazis von 1933 ergab sich aus dem Nichtzustandekommen der Aktionseinheit der Arbeiterklasse. Dies lag — hier haben wir die Hauptursache — am Antikommunismus der sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsführer. Nebenursache waren die politischen Fehler, die damals von der KPD begangen wurden. In dieser Politik der KPD wirkte als mittelbare Ursache die Tatsache mit, daß die Weimarer Republik das Ergebnis einer Konterrevolution war, die Tausenden Arbeitern das Leben kostete, (vgl. Lehrbrief der Serie E, Nr. 11: Der Untergang der Weimarer Republik.) Auch hier wäre es falsch, Ursache und Wirkung einander unvermittelt entgegenzusetzen. Jede Ursache war Wirkung einer anderen Ursache, jede Wirkung ist ihrerseits Ursache einer anderen Wirkung. Was in einer Hinsicht Ursache, ist in anderer Hinsicht Wirkung. Ursache und Wirkung können sogar ineinander umschlagen, wofür der Klassenkampf, zum Beispiel die Auseinandersetzungen bei Demonstrationen, immer wieder Beispiele liefert.

Untersucht man umfassend, hinsichtlich der unendlichen Mannigfaltigkeit der Welt, ihrer Dinge, Erscheinungen und Prozesse, das Verhältnis von Ursache und Wirkung, so müssen wir uns zu der Erkenntnis einer universellen Wechselwirkung erheben, innerhalb derer die Kausalität nur eine Art des allseitigen dialektischen Zusammenhangs darstellt, nur bedingt aus ihm herausgelöst werden darf.

Diese Auffassung steht in einem direkten Gegensatz zur teleologischen oder finalistischen (telos - Ziel, fina - Ende) der Religionen. Diese geht davon aus, daß in jeder Ursache ein Zweck wirke, daß jede Ursache auf ein bestimmtes Ziel hinwirke. Folglich müsse es eine erste, zwecksetzende Kraft und ein letztes Ziel (beides sei Gott) des Weltprozesses geben. Diese Auffassung kommt dadurch zustande, daß die zwecksetzende menschliche Tätigkeit auf die Erklärung der Vorgänge in der Natur übertragen wird. Die Teleologie wurde im Bereich der Biologie durch Darwins Abstammungslehre widerlegt, für die tote Natur wird sie heute nicht einmal mehr von den Theologen angenommen. Für die Gesellschaft ist sie nicht nur durch die marxistische Gesellschaftstheorie widerlegt, sondern sie scheitert auch daran, daß sie nicht den „Zweck" des „Bösen" im menschlichen und gesellschaftlichen Leben erklären kann: wozu soll ein allmächtiger und allgütiger Gott „das Böse" geschaffen oder zugelassen haben? Warum gab es Auschwitz und Hiroshima, gibt es Vietnam? Was müßte das für ein Gott sein, der so etwas zuläßt - ganz abgesehen davon, daß es, wie schon in mehreren Lehrbriefen dieser Reihe dargelegt, keine Möglichkeit gibt, das Vorhandensein eines Erstbewegers, ersten Formgebers, ersten Zielsetzers usw., also Gottes, zu begründen.

Notwendigkeit und Zufälligkeit

Auch Notwendigkeit und Zufälligkeit sind aufeinander bezogene Begriffe zur Kennzeichnung grundlegender Zusammenhänge zwischen den Dingen und Erscheinungen. Die Welt stellt keine zusammenhanglose Aufhäufung voneinander isolierter Dinge und Erscheinungen dar. Zwischen ihnen bestehen vielmehr notwendige Zusammenhänge. Alles, was existiert, ist durch Ursachen hervorgerufen und tritt insofern notwendig auf. Aber es wäre falsch, diese richtige Erkenntnis einfach umzukehren: aus der Tatsache, daß jederr Dackel ein Hund ist, folgt nicht, daß jeder Hund ein Dackel ist. Aus der Tatsache, daß alles, was existiert, eine Ursache hat, folgt noch nicht, daß alles notwendig ist.

Bei der Einschätzung des Verhältnisses von Notwendigkeit und Zufälligkeit treffen wir drei Fehler an. Der erste besteht darin, den Zufall zu isolieren, ihn zu verselbständigen. Die Grundlage dieser Ansicht ist die Leugnung des allgemeinen Zusammenhangs zwischen den Dingen und Erscheinungen: Alles soll allein für sich und allein aus sich heraus existieren, ohne Grund und Ursache.

Dies widerspricht jedoch all unserem Wissen von den Dingen und Erscheinungen in Natur und Gesellschaft. Zwischen dem, das keinerlei Zusammenhang hat, gibt es keine praktische oder theoretische, also keine Erkenntnisbeziehung, die ja einen durch Praxis vermittelten Zusammenhang zwischen dem erkennenden Subjekt und seinen Objekten darstellt. Ohne Zusammenhang gibt es weder Sein noch Erkenntnis.

Der zweite Fehler' besteht darin, nur „eiserne Notwendigkeit" anzuerkennen. Engels widerlegt diese Ansicht treffend: „Nach dieser Auffassung herrscht in der Natur nur die einfache direkte Notwendigkeit. Daß diese Erbsenschote fünf Erbsen enthält und nicht vier oder sechs, daß der Schwanz dieses Hundes fünf Zoll lang ist und nicht eine Linie länger oder kürzer, daß diese Kleeblüte dies Jahr durch eine Biene befruchtet wurde und jene nicht, und zwar durch diese bestimmte Biene und zu dieser bestimmten Zeit, daß dieser bestimmte verwehte Löwenzahnsamen aufgegangen ist und nicht jener, daß mich vorige Nacht ein Floh um vier Uhr morgens gebissen hat und nicht um drei oder fünf, und zwar auf die rechte Schulter nicht aber auf die linke Wade, alles, alles das sind Tatsachen, die durch eine unverrückbare Verkettung von Ursache und Wirkung, durch eine unerschütterliche Notwendigkeit hervorgebracht sind, so zwar, daß bereits der Gasball, aus dem das Sonnensystem hervorging, derart angelegt war, daß diese Ereignisse sich so, und nicht anders zutragen mußten. Mit dieser Art Notwendigkeit kommen wir auch nicht aus der theologischen Naturauffassung heraus. Ob wir das den ewigen Ratschluß Gottes mit Augustin und Calvin, oder mit den Türken das Kismet, oder aber die Notwendigkeit nennen, bleibt sich ziemlich gleich für die Wissenschaft. Von einer Verfolgung der Ursachenkette ist in keinem dieser Fälle die Rede, wir sind also so klug im einen Falle wie im anderen, die sog. Notwendigkeit bleibt eine leere Redensart, und damit - bleibt auch der Zufall, was er war.

Solange wir nicht nachweisen können, worauf die Zahl der Erbsen in der Schote beruht, bleibt sie eben zufällig, und mit der Behauptung, daß der Fall bereits in der ursprünglichen Konstitution des Sonnensystems vorgesehen sei, sind wir keinen Schritt weiter. Noch mehr. Die Wissenschaft, welche sich daransetzen sollte, den casus („Fall") dieser einzelnen Erbsenschote in seiner Kausalverkettung rückwärts zu verfolgen, wäre keine Wissenschaft mehr, sondern pure Spielerei.

Denn dieselbe Erbsenschote allein hat noch unzählige andere, individuelle, als zufällig erscheinende Eigenschaften, Nuancen der Farbe, Dicke und Härte der Schale, Größe der Erbsen, von den durch das Mikroskop zu enthüllenden individuellen Besonderheiten gar nicht zu reden. Die eine Erbsenschote gäbe also schon mehr Kausalzusammenhänge zu verfolgen, als alle Botaniker der Welt verfolgen könnten.

Die Zufälligkeit ist hier also nicht aus der Notwendigkeit erklärt, die Notwendigkeit ist vielmehr heruntergebracht auf die Erzeugung von bloß Zufälligem. Wenn das Faktum, daß eine bestimmte Erbsenschote sechs Erbsen enthält und nicht fünf oder sieben, auf derselben Ordnung steht, wie das Bewegungsgesetz des Sonnensystems oder wie das Gesetz der Verwandlung der Energie, dann ist in der Tat nicht die Zufälligkeit in die Notwendigkeit erhoben, sondern die Notwendigkeit degradiert in die Zufälligkeit. Noch mehr. Die Mannigfaltigkeit der auf einem bestimmten Terrain nebeneinander bestehenden organischen und anorganischen Arten und Individuen mag noch so sehr als auf unverbrüchlicher Notwendigkeit begründet behauptet werden, für die einzelnen Arten und Indididuen bleibt sie, was sie war, zufällig. Es ist für das einzelne Tier zufällig, wo es geboren ist, welches Medium es zum Leben vorfindet, welche und wieviele Feinde es bedrohen. Es ist für die Mutterpflanze zufällig, wohin der Wind ihren Samen verweht, für die Tochterpflanze, wo das Samenkorn Keimboden findet, dem sie entstammt, und die Versicherung, daß auch hier alles auf unverbrüchlicher Notwendigkeit beruhe, ist ein pauvrer („ärmlicher") Trost. Die Zusammenwürfelung der Naturgegenstände auf einem bestimmten Gebiet, noch mehr, auf der ganzen Erde, bleibt bei aller Urdetermina-tion von Ewigkeit her doch, was sie war - zufällig." (K. Marx, Fr. Engels, Werke Bd. 20, - „Dialektik der Natur" - S. 487 ff) Ein dritter Fehler besteht darin, Notwendigkeit und Zufälligkeit zwar anzuerkennen, sie aber beide unvermittelt nebeneinander bestehen zu lassen. Praktisch bedeutet dies, die Konsequenzen der beiden oben angeführten Fehler anzunehmen: mitten in unabänderlichen, mechanisch-determiniert ablaufenden Prozesse bricht das Ursachlose, Zufällige ein. Wir haben es mit dem zu tun, was die Theologen „Wunder" nennen.

Kurzum: die einzig richtige Lösung des Verhältnisses von Notwendigkeit und Zufälligkeit besteht darin, beider dialektische Einheit! anzuerkennen. Ursache und Notwendigkeit sind nicht dasselbe. Der Sieg des Faschismus hatte Ursachen, die es zu erforschen gilt, damit man die Frage beantworten kann, ob dieser Sieg vermeidbar war oder nicht. Nur wenn er unvermeidbar war, war er „notwendig".

Notwendigkeit und Freiheit

Auch diese beiden Grundbeziehungen dürfen nicht undialektisch einander gegenübergestellt werden. In unserem Lehrbrief (Serie E, Nr. 4: "Freiheit in marxistischer Sicht, Teil I") zeigen wir, daß Freiheit eine gesellschaftlich-geschichtliche Erscheinung ist. Wir zeigen dort, wie sich Freiheit auf der Grundlage der Notwendigkeit, ihrer Erkenntnis, entfaltet. (Lehrbrief, S.. 8). Alle menschliche Tätigkeit ist abhängig von Naturgesetzen und gesellschaftlichen Gesetzen und damit der Notwendigkeit unterworfen. In der Tätigkeit aber liegt Freiheit, soweit sie objektive Gesetze bewußt zur Vervollkommnung des menschlichen Lebens anwendet. „Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung." (Engels)

Möglichkeit und Wirklichkeit

Das Neue in der Entwicklung steckt zunächst nur als Möglichkeit im Alten. Erst wenn sich bestimmte, notwendige Bedingungen herausgebildet haben, verwirklicht sich solche Möglichkeit. Diese reale Möglichkeit muß von der ausgedachten, nur formalen Möglichkeit unterschieden werden, weil die formale Möglichkeit nicht in der Wirklichkeit begründet ist. Die utopischen Sozialisten z.B. glaubten an die Möglichkeit des Sozialismus ohne Klassenkampf. Sie rechneten mit der Möglichkeit, Fürsten und vermögende Leute von der Überlegenheit des Sozialismus überzeugen und ihn mit ihrer Hilfe verwirklichen zu können. Eine solche Möglichkeit bestand real nicht. Real ist die Möglichkeit, wenn sie auf objektiven Grundlagen beruht, d.h. objektive Voraussetzungen für ihre Verwirklichung gegeben sind.

Möglichkeit und Wirklichkeit sind also auch dialektisch miteinander verbunden. Dennoch müssen beide sauber unterschieden werden. Es liegen verschiedene Möglichkeiten in einer gegebenen Wirklichkeit. Zum Beispiel kann ein Organismus sich je nach der Veränderung der Umweltbedingungen, so und so verändern. In der geschichtlichen Praxis hängt es von der

Einsicht und der Tätigkeit der Menschen ab, welche Möglichkeit verwirklicht wird, denn keine verwirklicht sich im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung von selbst. Wenn im Kapitalismus die Möglichkeit seiner Umwälzung in den Sozialismus gegeben ist, so vollzieht sich diese Umwandlung nicht im Selbstlauf, sondern durch das bewußte Handeln der Menschen. Der dialektische Materialismus unterstreicht die große Rolle der aktiven Tätigkeit der Menschen bei der Umwandlung realer Möglichkeiten in Wirklichkeit.

Die materialistische Dialektik erfordert, die realen Möglichkeiten nicht nur aufzudecken, sondern für den Sieg des Neuen und gegen alle widrigen, reaktionären Möglichkeiten entschieden zu kämpfen. Unter den gegenwärtigen internationalen Bedingungen besteht die reale Möglichkeit für die Erhaltung des Weltfriedens und für die friedliche Koexistenz von Ländern mit verschiedener Gesellschaftsordnung. Wir dürfen aber auch die reale Möglichkeit für die Entfesselung eines neuen, furchtbaren und verheerenden Weltkrieges nicht ignorieren und die daraus folgende Aufgabe, für den Frieden zu kämpfen. Die Verwirklichung der einen oder der anderen dieser Möglichkeiten hängt von der Tätigkeit der Menschen ab. Es liegt in der Macht der Völker, einen dritten Weltkrieg zu verhindern und einen dauerhaften Frieden zu sichern.

Die Bedeutung der Dialektik in unserem praktischen Verhalten

Das Studium der Dialektik ist kein sich selbst genügsames Vergnügen, sondern notwendig, damit wir uns in unserem Handeln nach richtig erkannten Bewegungsgesetzen orientieren können. Die Dialektik nötigt uns gewisse unverzichtbare Verhaltensregeln auf.

Wenn es richtig ist, daß alle Dinge und Erscheinungen miteinander zusammenhängen, so gilt: „Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und Vermittlungen' erfassen und erforschen. Wir werden das niemals vollständig erreichen, die Forderung der Allseitigkeit wird uns aber vor Fehlern und vor Erstarrung bewahren." (Lenin)

Das Herangehen vom Standpunkt „schöner", abstrakt-ausgedachter Ideale ist nutzlos. Nötig ist die exakte Erforschung der konkreten materiellen Verhältnisse. Dabei müssen wir jede Erscheinung möglichst allseitig und in ihrer Entwicklung erforschen. Da wir aber nicht unendlich viele Zusammenhänge erfassen können, müssen wir danach streben, den oder die jeweils entscheidenden Beziehungen aufzudecken: „Es genügt nicht, einfach Revolutionär und Anhänger des Sozialismus oder Kommunismus zu sein. Man muß es verstehen, in jedem Augenblick jenes besondere Kettenglied zu finden, das mit aller Kraft angepackt werden muß, um die ganze Kette festzuhalten und den Übergang zum nächsten Kettenglied mit fester Hand vorzubereiten, wobei die Ordnung der Glieder, ihre Form, ihre Verbindung, ihr Unterschied voneinander in der historischen Kette der Ereignisse nicht so einfach und nicht so simpel sind wie in einer gewöhnlichen, von einem Schmied hergestellten Kette." (Lenin)

Der Marxist muß sich in der Forschung und im praktischen Verhalten auf den historischen Standpunkt stellen: So, wie es ist, bleibt es nicht. Entscheidend ist nicht, was besteht und scheinbar unerschütterlich dasteht, sondern das, was sich im Schöße des Bestehenden an Neuem entwickelt. Daran muß man sich orientieren, auch wenn das Neue noch so schwach ist.

Da das Wesen der Entwicklung der Kampf der Widersprüche in allen Dingen und Erscheinungen ist, wäre es falsch, in solchen Widersprüchen ein Unglück zu sehen. Das Interessanteste an den Widersprächen ist ihre Lösung. Diese Lösung erfolgt nicht durch die Predigt der Klassenharmonie, nicht durch Opportunismus, sondern durch den Klassenkampf, wobei für einen Marxisten entscheidend ist, sich an den inneren Widersprüchen zu orientieren, also nicht etwa fasziniert auf die Kämpfe (außerhalb eines konkreten Kampfplatzes) zu starren, etwa den Export der Revolution zu erhoffen, sondern im eigenen Land den Kampf zu führen.

Zusammenfassung

Wir haben nun die wichtigsten Gesetzmäßigkeiten der Bewegung und Entwicklung kennengelernt. Man bezeichnet die drei Gesetze, die die wesentlichsten Seiten der Entwicklung der materiellen Welt widerspiegeln, als die Grundgesetze der marxistischen materialistischen Dialektik. Alle drei Gesetze — das Gesetz vom Übergang quantitativer Veränderungen in qualitative und umgekehrt, das Gesetz von der Negation der Negation und das Gesetz von der Einheit und vom Kampf der Gegensätze - sind eng miteinander verbunden, weil jedes von ihnen den Entwicklungsprozeß von einer bestimmten Seite her erklärt. Alle drei Gesetze gemeinsam erklären umfassend und zutiefst wissenschaftlich die Entwicklung aller Dinge und Erscheinungen unserer materiellen Welt.

Die materialistische Dialektik ist die umfassendste und inhaltsreichste Entwicklungslehre.

Sie ist untrennbar mit dem philosophischen Materialismus verbunden, denn sie hat die Grundgesetze der Bewegung, das heißt der Daseinsweise der Materie zum Gegenstand. Mit dem philosophischen Materialismus zusammen bildet sie die einheitliche philosophische Lehre des Marxismus. In dieser einheitlichen philosophischen Lehre befaßt sich der marxistische philosophische Materialismus vor allem mit dem Verhältnis von Materie und Bewußtsein, mit der Materieauffassung, mit dem Problem der materiellen Einheit der Welt usw. (Vgl. unsere Lehrbriefe Serie E, Nr. 2: Die Grundfrage der Philosophie, Serie E, Nr. 3: Können wir die Welt erkennen?)

Die materialistische Dialektik hingegen untersucht vor allem die allgemeinen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Bewegung und Entwicklung in der Natur und in der menschlichen Gesellschaft sowie auch die Widerspiegelung dieser Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten im Denken des Menschen.

Für die Wissenschaft und für das praktische Denken ist es außerordentlich wichtig, die Grundgesetze der Dialektik zu kennen. Wenn man nämlich weiß, wie sich die Entwicklung vollzieht und welche Triebkräfte in ihr wirken, dann weiß man auch, wie man die sich entwickelnde Wirklichkeit untersuchen muß, um zu richtigen oder wenigstens weitgehend richtigen

Ergebnissen und Schlußfolgerungen zu kommen. Dabei genügt es freilich nicht, nur die Grundgesetze der Dialektik zu kennen, denn sie ersetzen nicht die genaue Kenntnis aller einzelnen Probleme und Gegenstände und ihrer verschiedenen Seiten. Aber wer dialektisch an alle Probleme und Gegenstände herangeht, der geht grundsätzlich richtig heran, und das ist schon ein großer Vorteil gegenüber unsicherem und zögerndem Tasten nach dem richtigen Weg. Dialektisch an die Dinge heranzugehen, das heißt, sie allseitig, in ihrer Bewegung und Entwicklung, in ihrem Zusammenhang und ihren wechselseitigen Übergängen zu betrachten; das heißt, die Widersprüche in ihnen aufzudecken und zu erkennen, wohin die Lösung der Widersprüche führt, das heißt, das Neue in den Dingen und Erscheinungen rechtzeitig zu erkennen und es vom Alten, Absterbenden zu unterscheiden.

Es wäre natürlich verfehlt, in der materialistischen Dialektik ein allmächtiges Zaubermittel zu sehen, das von allein wirkt und das eigene Denken erspart. Wer meint, die Grundgesetze der Dialektik wie eine Schablone benutzen zu können, um mit ihrer Hilfe die Wirklichkeit zu messen und sie der Schablone anzupassen, der ist unbedingt auf dem Holzwege. So vielfältig und vielgestaltig die Welt ist, in so vielgestaltiger Weise wirken auch die Grundgesetze der Dialektik, mit denen wir uns hier beschäftigt haben. Deshalb dient die materialistische Dialektik nur dem, der sie schöpferisch anzuwenden versteht.


Seminarfragen
1. Erläutere an einigen Beispielen das dialektische Verhältnis der „korrelativen Kategorien".
2. Wie ist das Verhältnis von Materialismus und Dialektik?
3. Worin besteht die Bedeutung der Dialektik für unser praktisches Verhalten?

Lenin über
Die Elemente der Dialektik

„Man kann sich diese Elemente detaillierter wohl so vorstellen:
1. Die Objektivität der Betrachtung (nicht Beispiele, nicht Abschweifungen, sondern das Ding an sich selbst).
2. Die ganze Totalität der mannigfaltigen Beziehungen dieses Dinges zu den anderen.
3. Die Entwicklung dieses Dinges (resp. der Erscheinung), seine eigene Bewegung, sein eigenes Leben.
4. Die innerlich widersprechenden Tendenzen (und Seiten) in diesem Ding.
5. Das Ding (die Erscheinung etc.) als Summe und Einheit der Gegensätze.
6. Kampf resp. Entfaltung dieser Gegensätze, der widersprechenden Bestrebungen etc.
7. Vereinigung von Analyse und Synthese — das Zerlegen in einzelne Teile und die Gesamtheit, die Summierung dieser Teile.
8. Die Beziehungen jedes Dinges (jeder Erscheinung etc.) sind nicht nur mannigfaltig, sondern allgemein, universell. Jedes Ding (Erscheinung, Prozeß etc.) ist mit jedem verbunden.
9. Nicht nur Einheit der Gegensätze, sondern Übergänge jeder Bestimmung, Qualität, Eigenheit, Seite, Eigenschaft in jede andere (in ihren Gegensatz?).
10. Unendlicher Prozeß der Erschließung neuer Seiten, Beziehungen etc.
11. Unendlicher Prozeß der Vertiefung der Erkenntnis des Dinges, der Erscheinungen, Prozesse usw. durch den Menschen, von den Erscheinungen zum Wesen und vom weniger tiefen zum tiefsten Wesen.
12. Vom Nebeneinander zur Kausalität, und von der einen Form des Zusammenhangs und der wechselseitigen Abhängigkeit zu einer anderen, tieferen, allgemeineren.
13. Die Wiederholung bestimmter Züge, Eigenschaften etc. eines niederen Stadiums in einem höheren und
14. die scheinbare Rückkehr zum Alten (Negation der Negation).
15. Kampf des Inhalts mit der Form und umgekehrt. Abwerfen der Form, Umgestaltung des Inhalts.
16. Übergang der Quantität in die Qualität und vice versa („umgekehrt") (15 und 16 sind Beispiele von 9).
Die Dialektik kann nur als die Lehre von der Einheit der Gegensätze bestimmt werden. Damit wird der Kern der Dialektik erfaßt sein, aber das muß erläutert und weiterentwickelt werden."
W.I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, siehe Lenin, Werke, Band 38, S. 21 Off.)

Aus einer Darlegung der Dialektik durch den russischen Marxisten Plechanow:

Hegel bezeichnete als metaphysisch den Standpunkt jener Denker — einerlei ob Idealisten oder Materialisten —, die, außerstande, den Entwicklungsvorgang von Erscheinungen zu begreifen, diese Erscheinungen sich und anderen als erstarrt, zusammenhanglos, als unfähig, ineinander überzugehen, darstellten. Diesem Standpunkt stellte er die Dialektik entgegen, die die Erscheinungen gerade in ihrer Entwicklug und folglich in ihrer Wechselbeziehung erforscht.

Nach Hegel ist die Dialektik das Prinzip jedes Lebens. Man begegnet nicht selten Menschen, die, nachdem sie eine abstrakte These ausgesprochen haben, gern einräumen, daß sie sich vielleicht irren und daß vielleicht gerade die entgegengesetzte Ansicht richtig sei. Das sind wohlerzogene Leute, die bis in die Fingerspitzen von „Toleranz" durchdrungen sind; leben und leben lassen, sagen sie sich in ihrem Verstand. Die Dialektik hat mit der skeptischen Toleranz weltgewandter Menschen nichts gemein, doch versteht auch sie, direkt entgegengesetzte abstrakte Thesen zu vereinigen. Der Mensch ist sterblich, sagen wir und betrachten den Tod als etwas, was in den äußeren Verhältnissen wurzelt und der Natur des lebendigen Menschen völlig fremd ist. Es ergibt sich, daß der Mensch zwei Eigenschaften besitzt: erstens, lebendig zu sein, und zweitens, auch sterblich zu sein. Bei näherer Betrachtung erweist es sich aber, daß das Leben selbst die Keime des Todes in sich trägt und daß jede Erscheinung überhaupt in dem Sinne widerspruchsvoll ist, als sie aus sich selbst heraus die Elemente entwickelt, die früher oder später ihrer Existenz ein Ende machen, sie in ihr eigenes Gegenteil verwandeln. Alles fließt, alles verändert sich, und es gibt keine Kraft, die imstande wäre, diesen ständigen Fluß aufzuhalten, diese ewige Bewegung zum Stillstand zu bringen; es gibt keine Kraft, die fähig wäre, sich der Dialektik der Erscheinungen zu widersetzen.

In einem bestimmten Augenblick befindet sich ein bewegter Körper in einem bestimmten Punkt, gleichzeitig befindet er sich auch nicht in diesem Punkt, denn wenn er sich nur in ihm befände, wäre er zumindest für diesen Augenblick unbewegt. Jede Bewegung ist ein dialektischer Prozeß, ein lebendiger Widerspruch; da es aber keine einzige Naturerscheinung gibt, bei deren Erklärung wir nicht letzten Endes an die Bewegung appellieren, muß man Hegel recht geben, wenn er sagt, daß das Dialektische auch die Seele alles wahrhaften wissenschaftlichen Erkennens ist. Das bezieht sich aber nicht nur auf die Erkenntnis der Natur. Was bedeutet zum Beispiel der alte Aphorismus: Summum jus summa injuria? (1) Soll das heißen, daß wir am gerechtesten dann handeln, wenn wir, indem wir dem Recht Genüge tun, zugleich auch dem Unrecht Genüge tun? Nein, so denkt nur „die gemeine Erfahrung, der Verstand der Narren". Dieser Aphorismus bedeutet, daß sich jedes abstrakte Recht, bis zu seinem logischen Ende geführt, in Unrecht, das heißt in sein eigenes Gegenteil verwandelt. Shakespeares „Kaufmann von Venedig" veranschaulicht das auf das glänzendste. Betrachten Sie nun die ökonomischen Erscheinungen. Was ist das logische

Ende der „freien Konkurrenz"? Jeder Unternehmer will seine Konkurrenten schlagen und alleiniger Herr des Marktes bleiben. Und nicht selten kommt es vor, daß es irgendeinem Rothschild oder Vanderbilt glücklich gelingt, dieses Streben zu verwirklichen. Das zeigt aber, daß die freie Konkurrenz zum Monopol führt, das heißt zur Negation der Konkurrenz, zu ihrem eigenen Gegenteil. Oder sehen Sie sieh an, wohin das von unserer Volkstümlerliteratur gerühmte sogenannte Arbeitsprinzip des Eigentums führt. Mir gehört nur das, was ich durch meine Arbeit geschaffen habe. Das ist im höchsten Grade gerecht. Nicht weniger gerecht ist es, daß ich den von mir geschaffenen Gegenstand nach meinem freien Gutdünken verwende; ich benutze ihn selbst oder tausche ihn gegen einen anderen Gegenstand, den ich aus irgendeinem Grunde begehre. Ebenso gerecht ist es schließlich, daß ich den von mir eingetauschten Gegenstand ebenfalls nach freiem Gutdünken so verwende, wie es mir angenehmer, besser, vorteilhafter dünkt. Nehmen wir nun an, ich hätte das Produkt meiner eigenen Arbeit für Geld verkauft und das Geld zur Entlohnung eines Arbeiters verwendet, das heißt fremde Arbeitskraft gekauft. Wenn ich diese fremde Kraft benutze, erweise ich mich als Eigentümer eines Wertes, der bedeutend mehr Wert besitzt, als der von mir gezahlte Kaufpreis. Das ist einerseits völlig gerecht, da es schon anerkannt ist, daß ich den eingetauschten Gegenstand so benutzen kann, wie es mir besser und vorteilhafter erscheint, anderseits ist es höchst ungerecht, weil ich fremde Arbeit ausbeute und damit jenes Prinzip negiere, das meinem Gerechtigkeitsbegriff zugrunde lag. Der durch meine persönliche Arbeit erworbene Besitz verschafft mir einen Besitz, der durch Arbeit anderer geschaffen ist. Summum jus summa injuria. . .

Also, jede Erscheinung wird durch die Wirkung jener gleichen Kräfte, die ihre Existenz bedingen, früher oder später doch unvermeidlich in ihr eigenes Gegenteil verwandelt.

Wir sagten, die idealistische deutsche Philosophie betrachtete alle Erscheinungen vom Standpunkt ihrer Entwicklung aus, und daß dieses gerade hieße, sie dialektisch anzusehen. Man muß erwähnen, daß die Metaphysiker es verstehen, die eigentliche Lehre von der Entwicklung zu entstellen. Sie wiederholen ständig, es gebe weder in der Natur noch in der Geschichte Sprünge. Wenn sie von der Entstehung einer Erscheinung oder gesellschaftlichen Einrichtung sprechen, stellen sie die Sache so dar, als sei diese Erscheinung oder Einrichtung einst sehr klein, völlig unmerklich gewesen und dann allmählich gewachsen. Wenn es sich um die Vernichtung der gleichen Erscheinung oder Einrichtung handelt, wird im Gegensatz dazu eine Verringerung angenommen, die so lange vor sich gehe, bis die Erscheinung infolge ihrer mikroskocischen Abmessungen unmerklich geworden sei. Eine so verstandene Entwicklung erklärt gar nichts; sie setzt die Existenz jener Erscheinungen, die sie erklären soll, voraus und berücksichtigt nur die darin vor sich gehenden quantitativen Veränderungen. Die Vorherrschaft des metaphysischen Denkens war in der Naturwissenschaft einst so groß, daß sich viele Naturwissenschaftler eine Entwicklung gar nicht anders vorstellen konnten denn als allmähliche Vergrößerung oder Verkleinerung der Abmessungen der untersuchten Erscheinungen. . . .

Die deutsche idealistische Philosophie trat dieser kümmerlichen Vorstellung von der Entwicklung entschlossen entgegen. Hegel verlachte sie höhnisch und bewies unwiderlegbar, daß sowohl in der Natur als auch in der menschlichen Gesellschaft die Sprünge ein ebenso unumgängliches Moment der Entwicklung sind wie die allmählichen quantitativen Veränderungen. „Es hat sich aber gezeigt, daß die Veränderungen des Seins überhaupt nicht nur das Übergehen einer Größe in eine andere Größe, sondern Übergang vom Qualitativen in das Quantitative und umgekehrt sind, ein Anderswerden, das ein Abbrechen des Allmählichen und ein qualitativ Anderes gegen das vorhergehende Dasein ist. Das Wasser wird durch die Erkaltung nicht nach und nach hart. .,, sondern ist auf einmal hart; schon mit der ganzen Temperatur des Eispunktes, wenn es ruhig steht, kann es noch seine ganze Flüssigkeit haben, und eine geringe Erschütterung bringt es in den Zustand der Härte. . . Im Moralischen.. . findet derselbe Übergang des Quantitativen ins Qualitative statt —, und verschiedene Qualitäten erscheinen sich auf eine Verschiedenheit der Größe zu gründen. Es ist ein Mehr oder Weniger, wodurch das Maß des Leichtsinns überschritten wird, und etwas ganz anderes, Verbrechen, hervortritt, wodurch Recht in Unrecht, Tugend in Laster übergeht. — So erhalten auch Staaten durch ihren Größenunterschied, wenn das übrige als gleich angenommen wird, einen verschiedenen qualitativen Charakter. Gesetze und Verfassung werden zu etwas anderem, wenn der Umfang des Staates und die Anzahl der Bürger sich erweitert.". . .

Das bestätigt sich auch in der Chemie. Ozon hat andere Eigenschaften als gewöhnlicher Sauerstoff. Woher rührt dieser Unterschied? Das Ozonmolekül enthält eine andere Anzahl Atome als das Molekül des gewöhnlichen Sauerstoffs. Nehmen wir drei Kohlenwasserstoffverbindungen: CH4 (Sumpfgas (Methan)), C2Hg (Dimethyl (Äthan)) und CsHg (Methyläthyl (Propan)). Sie alle sind nach der Formel: n Kohlenstoffatome und 2« + 2 Wasserstoffatome aufgebaut. Wenn n = l ist, erhält man Methan; bei n = 2 erhält man Äthan; bei n = 3 entsteht Propan. Auf diese Art entstehen ganze Reihen, über deren Bedeutung jeder Chemiker erzählen kann, und alle diese Reihen bestätigen einstimmig den Satz der alten Dialektiker-Idealisten: Quantität geht in Qualität über.

Jetzt haben wir die wichtigsten Merkmale des dialektischen Denkens kennengelernt.

Quelle: G. W. Plechanow, Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung, Dietz Verlag, Berlin 1956, S. 84 - 90.

Fußnote: (1) (Das höchste Recht ist das höchste Unrecht.)
 

Editorische Anmerkungen

Marxistische Lehrbriefe, Serie E. Das moderne Weltbild, Nr. 8, Frankfurt a. M.  1968; Herausgeber: August-Bebel-Gesellschaft e. V.

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