Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe
 
 
von
Max Beer
02/07

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III. NATIONALE UND KETZERISCHSOZIALE KÄMPFE

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1. Einleitende Bemerkungen über die Hauptströmungen und führenden Männer.

Die Liquidation des Mittelalters in England, Böh- Auflösung men und Deutschland vollzog sich unter langwierigen  und heftigen Kämpfen auf religiösem, sozialem und politisch-nationalem Gebiete. Die religiösen Kämpfe hatten die Reformation zum Ergebnis; die sozialen äußerten sich in den Bauernkriegen; die nationalen richteten sich auf die Loslösung von der Universalkirche oder waren von nationalen Kriegen begleitet: England gegen Frankreich, Böhmen gegen Deutschland.

Die geistigen Führer dieser Bewegungen und Zusammenstöße waren: John Wycliffe (Wiclif, Wiclef) in England, Johann Hus (lies: Huß) in Böhmen, Martin Luther in Deutschland. Der eigentliche Gelehrte unter ihnen war Wycliffe; er stand noch der mittelalterlichen Gelehrsamkeit sehr nahe; er beherrschte ihren Apparat und ihren Inhalt: Scholastik und Theologie; er war auch der einzige Kommunist unter ihnen. Hus steht als entschlossener, zäher Charakter sehr hoch, intellektuell aber vollständig unter Wycliffeschem Einfluß; vom Kommunismus ist jedoch bei ihm wenig zu verspüren, dafür aber sehr viel vom national-tschechischen Kirchen- und Staatsreformer. Luther ist als elementare deutsche Kraft, als urwüchsiger nationaler Kämpfer und als ernster Charakter recht bemerkenswert; er ist geradezu typisch für den deutschen Nationalismus: furchtbarer sittlicher Ernst und unbändige Sinnlichkeit; stürmende, polternde Energie, gehemmt durch die Bremse des Konservatismus; tiefbohrende Gewissensprüfung und beschränkter Horizont; geistige Ohnmachtsanfälle und deshalb krampfhaftes Anklammern an irgendeine Autorität; vom sozialen Denken des Mittelalters ist bei ihm schon gar nichts zu verspüren.

Alle drei werden gegen ihren Willen mit den bäuerlichen und sozialen Kämpfen ihrer Zeit in Verbindung gebracht: Wycliffe mit dem englischen Bauernkrieg (1381) und dessen extrem-kommunistischem Führer John Ball, Hus mit den Hussitenkriegen (1419 bis 1436) und deren extremen Führer: dem Taboriten Andreas Prokop; Luther mit dem deutschen Bauernkrieg (1524—1525) und dessen kommunistischen Führer Thomas Münzer.

Die Ähnlichkeit dieser Bewegungen und das gleichzeitige Zusammentreffen religiöser, nationaler und sozialer Kämpfe und Kämpfer in den drei Ländern deuten doch ohne Zweifel auf eine Regelmäßigkeit des Geschichtsverlaufs hin. Zeitlich ging England in dieser Bewegung voraus: Wycliffe ist der eigentliche Pionier der neuen Zeit auf religiösem und nationalem Gebiete. An Heftigkeit der Kämpfe und an kommunistischer Konsequenz übertrafen Böhmen und Deutschland jedoch England. —

2. England: Wirtschaftliche und soziale Lage.

Die neuen sozialökonomischen Faktoren begannen sich in England um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts bemerkbar zu machen. Dutzende von städtischen Siedlungen waren bald wegen ihrer gewerblichen und kommerziellen Tätigkeit, wegen ihrer Gilden und Gerichtshöfe bekannt. Die Städte boten Märkte für Nahrungsmittel, Flandern mit seiner Tuchindustrie hielt starke Nachfrage nach englischer Wolle, ebenso gingen englische Kaufleute mehr und mehr dazu über, Tuchwebereien einzurichten. Die Wirkung dieser Ursachen auf die Struktur der Gesellschaft blieb nicht aus: in dem Maße, wie landwirtschaftliche Erzeugnisse im Werte stiegen, schritten die Gutsherren und Äbte zur Einschränkung der bäuerlichen Gemeinländereien, zäunten große Teile davon ein, d. h. machten sie zu ihrem Privateigentum. Die Dorfgenossenschaften verloren nach und nach ihre althergebrachte Stellung, und die dienstpflichtigen Bauern wurden zu Hörigen degradiert. Diese Beraubung der bäuerlichen Rechte ging vor sich zu einer Zeit, wo die wirtschaftliche Lage der Bauern im Aufstieg begriffen war, denn als Teilhaber der Dorfgemeinschaften konnten die Bauern das überflüssige Getreide und Gemüse an die Städter für Geld oder für gewerbliche Erzeugnisse austauschen und als Landarbeiter konnten sie auch höhere Geldlöhne erhalten. Dieser Gegensatz wurde um so schärfer, als der schwarze Tod oder die Pest, die 1349 ausbrach, einen großen Teil der Arbeiterbevölkerung hinwegraffte, so daß die Nachfrage nach Arbeitskräften lebhafter wurde. Um den Arbeitern eine wirtschaftliche Ausnutzung dieser Lage unmöglich zu machen, erließ die Regierung, das heißt das vom Adel beherrschte Parlament, ein Ausnahmegesetz im Jahre 1350 gegen die Arbeiterklasse (Statute of Labourers), das die Löhne auf das Niveau des Jahres 1348 zurückschraubte. Diese Angriffe auf die Dorfgemeinschaften und auf die Arbeiterlöhne erzeugten nach und nach große Unzufriedenheit bei der arbeitenden Bevölkerung, und eine Gärung trat ein, die bald einen revolutionären Charakter annahm, da die franziskanische Linke in Verbindung mit den Rednern der Lollharden, die teils als Weber und teils als verfolgte Ketzer aus Flandern nach England ausgewandert waren, sowie arme Theologen und ketzerische Priester für die Bauern eintraten und die alten urchristlich-patristisch-naturrechtlichen Lehren unter ihnen verbreiteten.

3. Revolutionäre Agitation.

Im vierzehnten Jahrhundert war die bäuerliche und im allgemeinen die arbeitende Bevölkerung Englands nicht ohne Lehrer, Redner und Agitatoren. Es war das Zeitalter der ersten Übersetzungen der Bibel ins Englische; Schriftsteller hörten auf, normannischfranzösisch oder lateinisch zu schreiben und verfaßten Bücher in der Volkssprache, weil offenbar eine Nachfrage nach englisch geschriebenen Büchern sich bemerkbar machte. Zwei der hervorragendsten Schriftsteller jener Zeit waren die Dichter Geoffrey Chaucer (geb. 1328, gest. 1400) und Wilhelm Langland, der im letzten Viertel des vierzehnten Jahrhunderts den „Piers Ploughman" (Peter der Bauersmann) verfaßte. Ersterer war vornehmlich Dichter der oberen Klassen, letzterer der selbständigen Bauern. Beide waren antikommunistisch, schrieben aber doch in der Volkssprache. Von den Reden und Schriften der ketzerisch-sozialen Agitatoren sind — mit Ausnahme der weiter unten besprochenen lateinischen Schriften Wycliffes — nur einige wenige Bruchstücke erhalten, die wir später wiedergeben werden. Der Mittelpunkt dieser Agitation war der Gelehrtensitz Oxford. Von hier aus verbreiteten arme Priester, ketzerische Theologen ihre Lehren nach den „offenen Feldern"(1) (G. A. Little, „Gray Friars of Oxford", S. 63—64; Thomas Wright, „Political Poems and Songs", I.Teil, Einleitung, S. LX). Die Grundgedanken der Agitationsreden waren ohne Zweifel der Sozialethik des Urchristentums und der Kirchenväter entnommen. Denn Langland klagt: „Sie predigen über Plato und beweisen es aus Seneca, daß alle Dinge unter dem Himmel gemeinschaftlich sein müssen" (Langland, „Piers Ploughman", Bd. XX, 273—276). Langland meint noch, wenn nach der Hei- i ligen Schrift alles gemeinschaftlich wäre, wie könnte ' Gott in seinen zehn Geboten das Stehlen verboten haben? Stehlen setze doch Privateigentum voraus. Also sei Privateigentum doch eine göttliche Einrichtung. Diese Polemik zeigt, wie lebhaft die kommunistische Agitation damals betrieben wurde. Das größte Ansehen und den größten Einfluß hatten jedoch die Schriften von John Wycliffe; sie wirkten weit über die Grenzen Englands hinaus.

4. John Wycliffe.

Unter den Männern, die geistig den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vorbereiteten, nimmt John Wycliffe (Wiclif, Wiclef, geb. 1320, gest. 1384) einen hervorragenden Platz ein. Religionsgeschichtlich war er der Pionier der Reformation und der mit ihr eng verknüpften Rechtfertigung des nationalen Königtums gegenüber der päpstlichen Universalherrschaft, wirtschaftlich stand Wycliffe jedoch noch im Mittelalter und verteidigte die Gemeinwirtschaft gegenüber der überhandnehmenden Privatwirtschaft. Er studierte in Oxford Theologie, eignete sich das ganze scholastische Wissen seiner Zeit an, wobei ihn Occams Schriften stark beeinflußten. Was Occam (siehe Teil II, Seite 182 ff.) auf europäischer Bühne leistete, das versuchte Wycliffe in den Jahren 1360 bis : 1380 für England zu leisten: England von der päpstlichen Oberherrschaft zu befreien, das englische Königtum zu rechtfertigen und die Gemeinwirtschaft zu schützen. Sein Problem war ein zwiefaches: erstens,

ein nationales, das heißt die Befreiung des englischen Staates von der päpstlichen Herrschaft und die nationale Zentralgewalt (Königtum und Parlament) souverän zu machen; zweitens, ein kommunistisches, das heißt die Dorfgemeinde gegenüber der Habsucht des Adels und der Kirche zu verteidigen. Sein Eintreten für die evangelische Armut (für die Besitzlosigkeit der Kirche) würde in der Praxis die Beschlagnahme der Kirchengüter durch die weltliche Macht (König, Adel, Städte) bedeuten und Wycliffe die dauernde Freundschaft dieser Mächte eingebracht haben, wenn er nicht gleichzeitig die Rechte der Bauerngemein-schaften und theoretisch den Kommunismus verteidigt hätte. Die Forderung, daß die Kirche besitzlos sein sollte, wurde von der weltlichen Macht tatsächlich nur in dem Sinne aufgefaßt, daß die Kirche auf ihre materiellen Güter zugunsten der Krone und der Gutsherren verzichten müßte. Deshalb waren auch die Reformatoren, die bei dieser Forderung stehenblieben und sich um den Kommunismus und die Bauernprogramme nicht kümmerten (wie Johann Hus) oder sie entschieden verwarfen (wie Luther), die Lieblinge des Adels. Anders Wycliffe. Anfangs fand er Gnade bei den hohen Herren; sobald diese aber merkten, wohin seine Lehren führten, fielen sie von ihm ab. Die kirchlich-reformerischen und die wirtschaftlich-reformerischen Aufgaben Wycliffes brachten ihn in einen Gegensatz zur Kirche und später auch zum Adel. Im Verlaufe seines Kampfes gegen die Kirche wurde Wycliffe zum Ketzer: er rüttelte an den Sakramenten und bestritt wichtige; kirchliche Grundlehren, wie Ohrenbeichte, Ablaß, Heiligenverehrung. Mehrere seiner Lehrsätze wurden denn auch von Papst Gregor XI. (1377) verdammt, ebenso von der Synode zu London (1382) für ketzerisch erklärt. Seine Verteidigung des Kommunismus erwies sich schließlich als rein theoretisch, und sein Eintreten für die Gemeinschaftsrechte der bäuerlichen Bevölkerung lief letzten Endes auf ein soziales Königtum hinaus. Nach dem Bauernkriege vom Jahre 1381 wurde Wycliffe sehr vorsichtig mit seinem Kommunismus. Seine Schüler, die Wycliffiten, griffen dann den Privatbesitz der Laien gar nicht an, sondern verlangten, daß Papst und Kirche auf allen irdischen Besitz verzichten und daß die Priester und Mönche sich ihren Lebensunterhalt durch Gemeinwirtschaft beschaffen sollten.

Wycliffe empfand große Schwierigkeiten bei der theoretischen Lösung seiner Aufgaben. Die mittelalterliche Theologie stand vielfach unter den Überlieferungen des Naturrechts und Gregors VII., nach welchen das Königtum seinen Ursprung in der Sünde habe. Die Kirchenlehrer des späten Mittelalters arbeiteten daran, Königtum und Staat von diesem Schmutzfleck zu befreien. Wir haben dies früher bei Thomas von Aquino (Teil II, Seite 223—225) gesehen, ebenso bei Marsilius von Padua und Occam (Teil II, Seite 167—168). Die Erklärung Aquinos ist konservativ; die Erklärungen Marsilius und Occams sind demokratisch. Nach Aquino ist der Staat dem s und haften Zustande des Menschen und der allgemeinen Entwicklung angepaßt. Nach Marsilius und Occam ist das Königtum nur legitim, wenn es mit Zustimmung des Volkes entstanden ist. Wycliffe konnte sich mit keiner dieser Theorien befreunden. Das Königtum roch ihm noch immer nach Sünde (Dominium civile sapit tarnen veniale peccatum), und es kann nur von diesem Schmutzfleck gereinigt werden, wenn es kommunistisch-reformerische Aufgaben sich stellt und die Bauerngemeinschaften gegen alle Angriffe schützt. Nur in Verbindung mit dem Kommunismus kann das Königtum naturrechtlich legitim werden. Wycliffe hielt den Kommunismus für die jugendfördernde und beste Grundlage der nationalen Macht, und er verteidigt Platos kommunistische Ideen gegenüber den Angriffen des Aristoteles. „Der Kommunismus", sagt er, „ist nicht gegen das Christentum. Die Apostel hielten alles gemeinschaftlich. Kommunismus ist ebenso der Sonderwirtschaft überlegen wie die allgemeinen Ideen (Universalien) den einzelnen Wahrheiten überlegen sind. Es ist wohl wahr, daß Aristoteles sich gegen Platos Lehren über die Gütergemeinschaft wendet, aber seine Einwendungen sind nur richtig, insofern sie gegen die Weibergemeinschaft erhoben wurden. Der Kommunismus schwächt nicht den Staat, sondern stärkt ihn, denn je mehr Bürger am Besitze interessiert sind, desto größer ist ihr Interesse an der Wohlfahrt des Gemeinwesens. Gemeinsame Interessen führen zur Einigkeit, und Einigkeit ist Macht" („De Civili Dominio", Band I, Kapitel 14, S. 100—101). Nur war Wycliffe der Meinung, daß der Kommunismus einzig und allein durch moralische Mittel, durch eine sittliche Erstarkung des Volkes zu erreichen sei und nicht durch Aufruhr und Gewalt. Wo Privatbesitz vorhanden sei, könne er nur durch die Tugend, durch den Zustand der Gnade gerechtfertigt werden. Wer im Zustand der Todsünde sich befinde, habe kein Recht auf Eigentum. Diese Lehre, die übrigens mit der des Augustinus übereinstimmt (siehe Teil II, Seite 139), ist viel revolutionärer, als man glauben möchte. Agitatorisch veranlagte Bauernführer konnten leicht hieraus schlußfolgern, daß die ungerechten, sündhaften Gutsherren und Äbte kein Recht auf ihren Besitz hätten und daß deshalb deren gewaltsame Enteignung eine tugendhafte Tat wäre. Dieser Auffassung war John Ball, der Prediger des englischen Bauernaufstandes.

5. John Ball.

Nach einer kaum begründeten Überlieferung war John Ball ein Schüler Wycliffes. Zeitgenossen bestätigen nur, daß Ball ein berühmter Prediger war, der jedoch „viel Unkraut mit seinem Weizen mischte". Das Thema seiner Reden bildeten Freiheit und Gleichheit, Demokratie und Kommunismus. Rückblickend auf die gesellschaftlichen Urzustände fragte er: Als Adam pflügte und Eva spann, Wo war wohl da der Edelmann?"

In Übereinstimmung mit den theologischen Lehren des Naturrechts predigte er über den Naturzustand. Anfangs waren die Menschen gleich geboren; das Herrschafts- und Dienstverhältnis sei durch die Unterdrückungssucht unwürdiger Menschen hervorgerufen, entgegen dem Willen Gottes. Jetzt sei die Zeit gekommen, das Sklavenjoch zu brechen; wenn die Volksmassen nur wirklich wollten, könnten sie sich jetzt befreien. Das Gesellschaftsleben gleiche einem Acker; der kluge Landmann jäte das Unkraut aus, befreie den Boden und die gute Saat von allen schädlichen Gewächsen: die Gutsherren, die Advokaten, die Richter seien das Unkraut, das das Gesellschaftsleben aussauge und deshalb beseitigt werden müßte. Erst dann würden die Landleute die Früchte ihrer Äcker genießen und des Lebens froh werden. Alle Menschen würden sodann adelig sein.

Der französische Chronist jener Zeit, Froissart, ein Höfling und Bauernfeind, der auch die Jacquerie beschrieb und verleumdete, überliefert eine Rede John Balls. Froissart hielt sich auch längere Zeit in England auf und beobachtete — von seinem Standpunkte aus — die englischen Verhältnisse. Er läßt John Ball predigen:

„Meine lieben Leute! Schlecht stehen die Dinge in England, und sie werden sich nie bessern, ehe nicht die Gütergemeinschaft herrscht, ehe es weder Hörige noch Herren gibt, ehe nicht alle gleich sind. Mit welchem Rechte haben sie, die sich Herren nennen, die Oberhand über uns ? Wie haben sie sich dies verdient? Warum halten sie uns in Knechtschaft? Wenn wir von demselben Vater und derselben Mutter, von Adam und Eva, abstammen, wie können sie behaupten oder beweisen, daß sie mehr Rechte haben als wir? Es sei denn vielleicht, daß wir arbeiten und produzieren, was sie verzehren? Sie sind gekleidet in Samt und in Purpur- und Pelzmänteln, während wir rauhes Leinen tragen. Sie haben Wein, Gewürze und gutes Brot, während wir Roggenbrot, Kleie, Stroh und Wasser erhalten. Sie bewohnen Paläste und Schlösser, während unser Teil nur Mühe und Plackerei ist und wir dem Regen und dem Winde preisgegeben sind. Und doch ist es unsere Arbeit, aus der sie die Mittel ziehen, ihren Prunk aufrechtzuerhalten. Sie halten uns für ihre Knechte und züchtigen uns, wenn wir ihren Befehlen nicht gehorchen." (Froissart, „Col-lection des Chroniques", Band VIII, Kapitel 106.)

Den nationalen Bedürfnissen der Zeit folgend, soll Ball auch die Abwesenheit einer starken Zentralgewalt beklagt haben, die willig und imstande wäre, sich der Bauern anzunehmen. Eduard III. war nach fünfzigjähriger Herrschaft im Jahre 1377 gestorben; sein Nachfolger war sein Enkel Richard II. (1377 bis 1399), der im Alter von nur elf Jahren den Thron bestieg. Ball meinte: „Wehe dem Lande, dessen König ein Kind ist", obwohl er sich doch hätte sagen müssen, daß es Eduard III. war, der das arbeiterfeindliche Statute of Labourers sanktioniert hatte.

Während Wycliffe sich von aller volkstümlichen Agitation fernhielt, stand Ball mitten im Volke, und da er als Geistlicher dem erzbischöflichen Gerichte unterworfen war, wurde er wegen seiner „Hetzreden" zu einigen Monaten Gefängnis verurteilt. Nach Frois-sart, der überhaupt die Lollharden für die geistigen Urheber der Bauernerhebung hielt, war auch Ball Lollharde.

6. Die englischen Bauernerhebungen.

Im Juni 1381 brach die erste Erhebung der Bauern aus. Man darf nicht annehmen, daß diese Erhebung der bäuerlichen Bevölkerung von rein kommunistischen Zielen geleitet gewesen sei. Sie verlangte nur Schutz für ihre Dorfgemeinschaft gegen Adelige und Äbte, im übrigen sollten die Bauern und Landarbeiter über ihre Arbeitskraft frei verfügen dürfen und weder durch königliche Ausnahmegesetze noch durch Hörigkeit gezwungen sein, den Gutsherren Dienste zu leisten.

Wie im flamischen und französischen Bauernkriege war ein großer Teil der ärmeren gewerblichen Schichten der Städte Südenglands in Sympathie mit der Bauernbewegung, während die Patrizier mit dem Adel hielten. Neben ihrem Haß gegen die Reichen wandten sich die Londoner Arbeiter und die weniger bemittelten Zunftgenossen gegen die fremden Kaufleute und Geldhändler (Lombarden), gegen die das heimische Kapital seit langem einen Konkurrenzkampf führte, sowie gegen die flämischen Weber in London, die in ihre Zünfte und Werkstätten keinen englischen Arbeiter aufnahmen. Andererseits aber finden wir in den Chroniken jener Zeit, daß sich auch flamische Weber auf Seite der Bauern an dem Aufstande beteiligten.

In der zweiten Juniwoche 1381 brach der Aufstand aus, und bald stand das ganze südöstliche England in einem Klassenkrieg, in welchem vorerst die arbeitende Klasse die Oberhand hatte. Der Kampf zeigte einen gewissen Grad von Organisation, denn fast gleichzeitig sammelten sich die Landleute in den nördlichen und südlichen Grafschaften von London um ihre Führer Wat Tyler, Jack Straw, John Ball, John Littlewood, Richard Wallingford und zogen gegen London. Unterwegs wurden die adeligen Schlösser und die Abteien geplündert, die Archive und Gerichtsakten verbrannt und die Bauernhaufen mit Proviant versehen. Aber die Organisation war keine einheitliche oder umfassende: die einzelnen Landesgebiete hatten ihre besonderen Führer; eine zentrale Leitung, ein Oberkommando fehlte. Ebenso war die Bewaffnung schlecht; vielleicht zehn vom Hundert waren mit Bogen und Pfeil oder mit alten Schwertern ausgerüstet. An zahlenmäßiger Stärke war der Aufstand jedoch imponierend. Und die ärmeren Schichten der Städte halfen mit. In London schlugen Lehrlinge den Meistern die Köpfe ab, die arbeitenden Massen plünderten die Häuser der Lombarden (Geldhändler) und hielten die Tore der Stadt besetzt, um sie den heranrückenden Bauern zu öffnen. Am 11. Juni erreichten die Aufständischen Blackheath (die dunkle Heide, London-Südost), wo John Ball predigte und die Massen auf die kommenden Dinge vorbereitete. Hier mußte ein Teil der Bauern entlassen werden, da es an Proviant fehlte. Am folgenden Tage betraten die Aufständischen das Weichbild Londons. Der junge König, seine Räte, manche Adelige und der Erzbischof flüchteten sich in den Tower (Stadtfestung), da sie militärisch noch nicht in der Lage waren, den Bauern entgegenzutreten. Die Aufständischen waren nunmehr die Herren der Stadt und nahmen Rache an ihren Bedrückern: dem Hofadel, den Ministern, Advokaten, Beamten und den Lombarden. Am Strand (heute: Westzentral) brachen ' sie in den Savoy-Palast des Herzogs von Lancaster ! ein (heute: Savoy-Hotel) und fanden dort eine Menge Gold- und Silbergeschirr und sonstige Kostbarkeiten. Die Chronisten jener Zeit stimmen in der Angabe überein, daß aller individuelle Raub mit dem Tode bestraft wurde. Als einer der Bauern bei einem Diebstahl erwischt worden war, wurde er sofort ins Feuer geworfen. „Wir sind die Verteidiger der Wahrheit und Gerechtigkeit", erklärten die Aufständischen, „aber keine Diebe und Räuber!" Hierauf zogen sie nach dem benachbarten Temple — einem Komplex von Gebäuden der Londoner Advokatengilde — und verbrannten die gerichtlichen Protokolle, Akten und Dokumente. Sodann statteten sie dem Palaste des Lord-Schatzmeisters (Finanzministers) in Clerkenwell (London-Ostzentral) einen Besuch ab und zerstörten es. Ebenso erging es den Häusern anderer Würdenträger, wobei mehrere Beamte getötet wurden. Am 14. Juni zogen die Bauern nach dem Tower und ließen dem König sagen, daß sie eine persönliche Zusammenkunft mit ihm verlangten, er solle sich zu diesem Zweck nach dem benachbarten Müe End (London-Ost) begeben. Der König folgte dem Rufe. Kaum hatten sich die Tore des Towers geöffnet, als die Bauern eindrangen, die königlichen Räte verprügelten, den Erzbischof Sudbury und den Lordschatzkanzler erschlugen.

Mit Zittern und Zagen erschien der junge König in Mile End. Aber nicht sämtliche Bauernführer waren bei der Unterredung anwesend, da, wie gesagt, eine einheitliche Leitung fehlte. Die Deputation trug dem König die Beschwerden des Volkes vor und verlangte Freiheit und Rechtsgleichheit für das Bauernvolk sowie Straflösigkeit für die im Aufstande begangenen Gesetzlosigkeiten. Der König im Einvernehmen mit seinen Ratgebern hielt es für das beste, sich der Übermacht zu fügen und in einer schriftlichen Urkunde die Forderungen der Deputation zu bewilligen, jedoch stellte er die Bedingung, daß der größte Teil der Bauern die Hauptstadt verlassen und zu ihren Landarbeiten: Heumachen und Ernten zurückkehren und nur einen bewaffneten Trupp zurücklassen sollte bis zur Ausfolgung der Freiheitsurkunde. Die Deputation gab sich zufrieden, und die Bauern, meistens aus dem nördlichen Gebiet Londons, in ihrem naiven Vertrauen auf die königliche Urkunde, kehrten der Hauptstadt den Rücken und zogen „siegreich" nach Hause. Die Urkunde hatte folgenden Wortlaut:

„Ich, Richard, von Gottes Gnaden König von England und Frankreich und Gebieter von Irland, entbiete allen ländlichen Vollzugsbeamten und treuen Untertanen, an die diese Urkunde gelangt, meinen Gruß und ordne hiermit an: Aus eigener gnädiger Gesinnung lassen wir alle unsere Untertanen und sonstige abhängige Personen frei. Wir erklären jeden einzelnen von ihnen für frei von aller hörigen Abhängigkeit, verzeihen ihnen alle Verbrechen, Verrätereien, Vergehen, Erpressungen, die sie begangen haben, sowie alle die Handlungen, die sie außerhalb des Gesetzes gestellt haben. Ihnen allen wie jedem einzelnen im besonderen versprechen wir unsern oberherrlichen Frieden."

Kaum war ein großer Teil der Bauern abgezogen, als die oberen Klassen wieder Mut bekamen und den Entschluß faßten, den Konflikt durch Waffengewalt zur Entscheidung zu bringen. Auch der junge König vergaß das Zittern und Zagen; seine Ratgeber instruierten ihn und bereiteten ihn auf die Rolle vor, die er bald — bei der versprochenen Ausfolgung der Urkunde an den kleinen Trupp bewaffneter Bauern — zu spielen hatte. Die letzte Szene wurde am 17. Juni 1381 in Smithfield Market (London-Mitte) aufgeführt. An der Spitze des BauernfähnleLns erschien Wat Tyler. Der König kam mit seinen Rittern und städtischen Patriziern. Der Bauernführer ritt sodann an den König heran und ersuchte ihn um die Ausfolgung der Freiheitsurkunde. Anstatt der Urkunde erhielt Wat Tyler einen Hieb von einem Ritter, der ihn aus dem Sattel warf. Sofort eilten die übrigen Reisigen herbei und töteten den am Boden liegenden Tyler. Die Bauern liefen ihrem Führer zu Hilfe, aber das abergläubische Vertrauen zum König war ihr Verderben. Richard sagte ihnen, er selber sei ihr Führer, und er bestätige feierlich die ihnen gewährten Freiheiten. Zufrieden mit dieser Zusage, gaben die Bauern den Kampf auf. Dann hatten die Herren freie Hand. Und sie schafften die Freiheiten der Bauern ab, verhafteten und verurteilten die Bauernführer zum Tode. Jack Straw, John Ball und die übrigen Führer endeten teils am Galgen, teils durch das Henkerschwert. Grausam war das Strafgericht über alle, die am Aufstande teilgenommen hatten. Die Herren waren die Richter. Und der König erklärte den Bauern: „Hörige wäret ihr und Hörige sollt ihr fernerhin bleiben, und zwar nicht so wie bisher, sondern in ungleich härterem Maße!"

Die Drohung des Königs und die Selbstsucht der Gutsherren fanden jedoch eine Schranke an den Bedürfnissen der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Zertrümmerung der Dorfgemeinschaften machte zwar weitere Fortschritte, aber die Hörigkeit wurde nach und nach abgeschafft, denn mit dem Wachsen der Städte und den Fortschritten von Handel und Gewerbe begann die Abwanderung der ländlichen Bevölkerung nach den Städten. Und wo auf dem Lande die Gutsherren besonders hart waren oder die Ausnahmegesetze gegen die arbeitende Bevölkerung stark empfunden wurden, brachen Aufstände aus, so in Kent (in dem Gebiete Südost-London) im Jahre 1450, als die Bauern unter Führung Jack Cades nach London zogen und mit den königlichen Ratgebern blutig abrechneten; dann in Cornwalis im Jahre 1500; schließlich in einem großen Teile Englands im Jahre 1549, aber all diese Erhebungen erreichten nicht mehr den Umfang und die Schärfe der Erhebung vom Jahre 1381.

7. William Shakespeare und der Kommunismus.

Der größte Dramatiker Englands und der Neuzeit, William Shakespeare (geb. 1564, gest. 1616), war antidemokratisch und antikommunistisch. Seine Schauspiele sind der Spiegel der geistigen Richtung der oberen Gesellschaftsschichten, für die er schrieb. Er stand in engster Verbindung mit dem Hofe der berüchtigten Königin Elisabeth und schrieb in deren Auftrag die „Lustigen Weiber von Windsor", eine derbe Komödie. Wie er dort dem versumpfenden Adel die häuslichen „Tugenden" des Bürgertums als Warnung entgegenhielt, so haben auch seine historischen Stücke durchaus die Tendenz, die Autorität des Königtums zu festigen. Das Bürgertum, überhaupt die nachdrängenden Klassen der Kleingewerbetreibenden und Bauern kommen im ganzen bei ihm nicht gut weg. In seinem Drama Heinrich VI. (zweiter Teil) hinterließ er uns die Ansichten der höheren Klassen über die Bauernaufstände. Das Drama ist für uns wichtig, da es Jack Cade, den Führer des Bauernaufstandes vom Jahre 1450, zum Kommunisten und Diktator stempelt. Daß es ihn satirisiert und lächerlich zu machen sucht, daß es dem Volke Unwissenheit, Wissensfeindschaft und Genußsucht nachsagt, versteht sich bei dem ganzen Charakter Shakespeares von selbst. Die arbeitende Bevölkerung hat seit Aristo-phanes (siehe Teil I, Seite 87—90) bis auf unsere Zeit wenige Dramatiker gefunden, die Sozialökonomie verstanden hätten. Bislang schrieben sie für Hofleute, Adelige und reiche Bourgeois. Auch ein Genie wie Shakespeare ist keine Ausnahme.

Wie wir wissen, folgte auf den kriegstüchtigen und auf See- und Handelsmacht gerichteten König Eduard III. sein Enkel Richard II., unter dessen Regierung der erste Bauernaufstand ausbrach; ihm folgten Heinrich IV. (1399—1413) aus dem Hause Lancaster, dann Heinrich V. (1413—1422), der die antifranzösische, maritime und handelsfördernde Politik Eduards III. erfolgreich betrieb, einen großen Sieg bei Azincourt (1415) über die Franzosen erfocht, die Normandie eroberte, was den Patriotismus und Nationalismus der Engländer wieder entflammte; schließlich Heinrich VI. (1422—1461), der den zweiten Bauernkrieg (1450) erlebte und die französischen Eroberungen verlor; das Ende seiner Regierungszeit war der Beginn des Krieges der Rosen (der Häuser Lancaster und York), der vom Jahre 1459—1485 dauerte, mit der Vernichtung des alten, feudalen, mittelalterlichen Adels endete und einen neuen, han-del- und gewerbetreibenden Adel an seine Stelle treten ließ.

Die Trilogie „König Heinrich der Sechste" schildert die Hauptbegebenheiten dieser Regierung; im zweiten Teile wird der zweite Bauernaufstand und der Beginn des Konflikts der Häuser Lancaster und York geschildert. Im Akt II, Szene 2 hören wir die Klagen des arbeitenden Volkes und dessen Hoffnungen auf Jack Cade. Die Rebellen Georg Bevis und John Bevis halten ein Zwiegespräch über den sich vorbereitenden Aufstand, und Georg sagt: „Hans Cade der Tuchmacher denkt das Gemeinwesen aufzustutzen und es zu wenden und ihm die Wolle von neuem zu krausen." Das heißt: die alte Gesellschaft zu stürzen und eine neue aufzubauen. Hierauf antwortet John: „Das tut not, denn das alte Gemeinwesen ist bis auf den Faden abgetragen. Es gab kein fröhliches England mehr, seit die Edelleute aufgekommen sind." Georg: „O, die elenden Zeiten! Tugend wird an Handwerksleuten nicht geachtet." Wir sehen dann die verschiedenen Berufe auftreten: die Gerber, Weber, Metzger, schließlich tritt Cade auf und entwickelt kurz sein Programm: „Das ganze Königreich sollen alle gemeinschaftlich haben." Shakespeare macht sich dann lustig über die materiellen Wünsche des Rebellen: billiges Brot, billiges Bier, freie Liebe usw. und läßt Cade ausrufen: „Und ihr, des Volkes Freunde, folgt mir nach! Es ist für die Freiheit, zeigt euch nun als Männer! Kein Lord, kein Edelmann soll übrigbleiben; schont nur, die in zerrissenen Schuhen gehen; denn das sind wackre Arbeitsleute, die, wenn sie dürften, alle zu uns überträten." Hierauf bemerkt einer seiner Genossen namens Märten: „Sie sind schon in Ordnung und marschieren auf uns zu." Cade: „Wir werden erst recht in Ordnung sein, wenn wir außer aller Ordnung sind." Märten rät dann, alle Gefängnisse aufzubrechen und die Gefangenen zu befreien. Unmittelbar vor dem Kampfe mit den Adeligen läßt Shakespeare den Rebellenführer Cade zum Diktator werden. Märten fordert Cade auf, die Diktatur zu übernehmen, worauf letzterer sagt: „Ich habe es bedacht, es soll so sein. Verbrennt alle Urkunden des Königreiches; mein Mund soll das Parlament von England sein. Und hinfüro soll alles in Gemeinschaft sein" (Akt IV, Szene 7). Der zweite Bauernaufstand wurde niedergeschlagen und Jack Cade auf der Flucht erstochen. Beigetragen zur Niederlage hat abermals das kindische Vertrauen der Bauern zum König, vielleicht auch das nationale Gefühl — wenigstens läßt Shakespeare den Lord Clifford auftreten, der zu den Bauern spricht und sie — an ihr nationales Gefühl appellierend — von Cade abwendig macht. Lord Clifford sagt ihnen:

„Ist Cade denn der Sohn Heinrichs des Fünften,
Daß ihr so ausruft, ihr wollt mit ihm gehn?
Führt er euch wohl in Frankreichs Herz, und macht
Den Kleinsten von euch zum Graf oder Herzog?...
Welch eine Schmach, wenn während ihr zankt,
Die feigen Franzosen, die ihr jüngst besiegt,
Die See durchkreuzen und besiegen euch?...
Eh' laßt zehntausend niedre Cades verderben,
Als ihr euch beugt vor eines Franzosen Gnade.
Nach Frankreich! Nach Frankreich!
Bringt Verlornes ein!"

Nationalismus und Kriegsruhm als Mittel gegen die Revolution! Und mit Schmerz klagt Cade, wie „der Name Heinrichs des Fünften die Bauern zu hunderterlei Unheil fortreißt und sie bewegt, mich in der Not zu verlassen" (Akt IV, Szene 9).

So rangen schon zu Anfang der neuen Zeit Kommunismus und Revolution, nationales Gefühl und Kriegsruhm miteinander. Und Shakespeare, der nationale Patriot, macht noch in seiner letzten Dichtung, dem Zauber-Lustspiel „Sturm", den Versuch, den Zukunftsstaat zu satirisieren. Seine Satire besteht jedoch nur darin, daß er Kommunismus mit Schlaraf-fentum verwechselt. Man meint, einen modernen So-zialistentöter zu hören. Dem „ehrlichen, alten Rat des Königs von Neapel", dem Staatsmann Gonzalo, legt Shakespeare folgende gutmütige Satire auf den Zukunftsstaat in den Mund: „Mein Gemeinwesen soll das Gegenteil (der gegenwärtigen Ordnung) sein. Ich würde keine Art von Handel erlauben, keinen Namen eines Amts (d. h. keinen Titel); Gelehrtheit soll man nicht kennen; Reichtum, Dienst, Armut gab's nicht; von Vertrag und Erbschaft, Einzäunung, Landmark, Feld- und Weinbau nichts; auch kein Gebrauch von Korn, Wein, Öl, Metall; kein Handwerk, alle Männer müßig, und die Weiber auch; doch völlig rein und schuldlos. Gemeinsam allen sollte die Natur Frucht bringen ohne Müh' und Schweiß. Verrat, Betrug, Schwert, Speer, Geschütz, Notwendigkeit der Waffen gab's bei mir nicht..." (Akt II, Szene i). Die Herren, denen Gonzalo seinen Schlaraffenstaat schildert, würzen die Unterhaltung mit zotenhaften Bemerkungen. Im ganzen aber zeigt auch Shakespeares „Sturm", daß der Kommunismus die Gemüter beschäftigte. Thomas Morus: „Utopia" (1516) fand englische, deutsche und französische Übersetzer und war durch keine Satire aus der Welt zu schaffen. Hierüber jedoch in einem anderen Kapitel. Inzwischen setzen wir unsere Geschichte der sozialen, ketzerischen und nationalen Konflikte fort.

8. Böhmen: Politische und soziale Entwicklung.

Böhmen, das geographisch wie eine slawische Faust gegen die Rippen des germanischen Reichskörpers sich ballt, mußte schon frühzeitig die Aufmerksamkeit der deutschen Stämme und ihrer Fürsten auf sich lenken. Aber ebenso mußten die böhmischen Fürsten, sobald ihr Land aus der ursprünglichen wirtschaftlichen Passivität geweckt war, mit den ihnen kulturell überlegenen Deutschen in Beziehungen treten. Bei den unsicheren Verhältnissen, die in Mittel- und Osteuropa in den Jahrhunderten nach der Völkerwanderung herrschten, sowie durch das Bestreben der Franken, der Karolinger und der Sachsen, ihre Grenzen nach dem Osten hin zu sichern, kam es zwischen den böhmischen Fürsten und den deutschen Kaisern zu blutigen Zusammenstößen, die in Böhmen viel Mißtrauen gegen die Deutschen hinterließen. Die wirtschaftlichen und geographischen Verhältnisse erwiesen sich jedoch stärker als das Mißtrauen: böhmische Fürsten schlössen sich im Jahre 895 dem deutschen Reichsverbande an und beriefen nach und nach deutsche Handwerker, Gewerbetreibende und Kaufleute ins Land, um die städtische Kultur zu heben. Einen wirtschaftlichen Aufschwung nahm Böhmen mit der Erschließung der reichen Silbergruben von Kuttenberg im zweiten Viertel des dreizehnten Jahrhunderts, die durch deutsches bergmännisches Schaffen dem aus dem Hause der Przemysliden stammenden böhmischen König Ottokar II. (1257—1278) die Mittel lieferten, ein großböhmisches Reich zu gründen, das neben Böhmen und Mähren noch Österreich, Steiermark, Kärnten und Krain umfaßte. Er geriet in einen Konflikt mit Kaiser Rudolf von Habsburg, der in der Schlacht auf dem Marchfelde (bei Wien) im Jahre 1276 zuungunsten Böhmens entschieden wurde. Ottokar II. fiel in der Schlacht. Auf Grund eines Vergleichs behielt dann König Wenzel (Nachfolger und Sohn Ottokars) Böhmen und Mähren, während die Söhne Rudolfs Österreich, Steiermark, Krain als Lehen erhielten und die habsburgische Hausmacht begründeten. Nach dem Erlöschen der Przemysliden wurde Böhmen vom Jahre 1310—1437 von den Grafen aus dem Hause Luxemburg regiert. Unter ihnen war König Karl I. (1346—1378) der bedeutendste; er wurde auch zum deutschen Kaiser gegen Ludwig den Bayern gewählt und führte als solcher den Namen Karl IV. Er war einer der gebildetsten Fürsten; er studierte auf den Universitäten in Paris und Bologna, sprach und schrieb tschechisch, deutsch, lateinisch, französisch und italienisch. 1348 gründete er die Prager Universität — die erste in Deutschland. Große Gelehrte wurden zu ihren Professoren; aus allen Gegenden strömten Studenten herbei, und bald zählten sie nach Tausenden. Sie wurde ebenso berühmt wie die Universitäten von Oxford, Paris und Bologna. Gute Regierung, Reichtum, Bildung, gewerblicher Fleiß und Handel machten Böhmen in der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts zu einem der blühendsten Königreiche Europas. Die Rückwirkung auf den gesellschaftlichen Bau, auf die Lage und das Denken der verschiedenen Stände konnte nicht lange ausbleiben. Mit der Blüte der Städte und dem Ansammeln von Kaufleuten, Gewerbetreibenden, Beamten, Bauarbeitern, Tuchmachern usw. in ihrem Gebiete stieg der Wert der landwirtschaftlichen Erzeugnisse; die Bauern mit größerem Landbesitz kamen zu Wohlstand, kauften sich von den Frondiensten frei; viele Landarbeiter wanderten nach den Städten ab; die Hörigkeit lockerte sich; Schaden davon hatte nur der kleine Adel, der nunmehr gezwungen war, seine Bauern entweder stärker auszubeuten oder höhere Löhne zu zahlen, und keine dieser Möglichkeiten war leicht, während die Ausgaben überall stiegen. Dem kleinen Adel war nur durch Zuteilung größerer Landgüter zu helfen. Er wurde deshalb landhungrig und schlug sich auf die Seite der Reformatoren, die der Kirche den weltlichen Besitz (die großen Latifundien) streitig machten. Überall, wo der Versuch gemacht wurde, die Bauern in harter Leibeigenschaft zu halten und die Landarbeiter schärfer auszubeuten, zeigten sich Unzufriedenheit und Unrast. Sowohl die Lage des kleinen Adels wie der dem Drucke unterworfenen ärmeren Landbevölkerung förderte die Ketzerei. Seit dem dreizehnten Jahrhundert war die Ketzerei — meistens waldensische — in Böhmen und Schlesien verbreitet, und sie richtete sich gegen die Mißwirtschaft der Klöster und Kirchen. Die Forderung, daß die Nachfolger Christi in evangelischer Armut leben sollten, das heißt, daß die Güter der Klöster und Kirchen zugunsten des Adels beschlagnahmt werden sollten, war nicht mehr zum Stillschweigen zu bringen (Palacky, Über die Beziehungen der Waldenser zu den ehemaligen Sekten in Böhmen. Prag 1869).

Wie in allen Ländern der neueren Zeit, entstand auch in Böhmen das nationale Gefühl mit dem Aufstieg der bürgerlichen Wirtschaft. Und wo noch gleichzeitig ein Gegensatz zu einem anderen Volke oder Lande vorhanden war, da sog es Kraft aus diesem Gegensatze. In Böhmen wuchs es rasch, da zum nationalen auch der wirtschaftliche Gegensatz hinzukam. Das deutsche Element herrschte in den Silberbergwerken und in den Städten vor, und es kam zu Reichtum und Ansehen; es war auch die Stütze der römischen Kirche gegen das Ketzertum; in der Prager Universität waren die Stimmen der deutschen Professoren und Studenten ausschlaggebend; Prag hatte ein reiches deutsches Patriziat. Das nationaltschechische Gefühl fand also Nahrung genug, um sich zu entfalten und sich gegen die Deutschen zu richten. Es wurde zum Leitmotiv der tschechischen Geschichte.

So entstand im vierzehnten Jahrhundert in Böhmen eine nationale, soziale und religiöse Gärung, die früher oder später zur fürchterlichen Explosion kommen mußte, wenn nicht inzwischen staatsmännische Weisheit ihr durch Konzessionen und Kompromisse entgegenkam. Und diese waren damals weder von den Deutschen noch vom Papste oder vom Adel zu erwarten.

9. Johann Hus und seine Vorläufer.

Die Anzeichen der sich vorbereitenden Explosion waren schon während der Regierungszeit Karls IV. deutlich bemerkbar. Strenggläubige Priester wie Konrad von Waldhausen (gest. 1369), Militsch von Krem-sier und Matthias von Janow griffen den Klerus und die Bettelorden an. Und seit 1380 wagten sich böhmische Theologen an solche heikle Fragen heran, wie Heiligenanbetung, Wert der Reliquien und Jesusbilder. Der bedeutendste unter diesen Männern war Militsch von Kremsier, Privatsekretär Karls IV., Ar-chidiakonus, Nutznießer mehrerer reicher Pfründen. Er legte 1362 freiwillig seine Ämter nieder, um als Volksprediger wirken zu können. Er verurteilte Handel, Kapital und kirchliches Eigentum. Priester sollten in apostolischer Armut leben oder nur so viel gemeinsames Eigentum besitzen, um von Gemeinwirtschaft leben zu können. Es ist wahrscheinlich, daß er die Schriften Joachims von Floris kannte und von ihnen beeinflußt wurde. Nicht minder kühn, wenn auch nicht so sozialkritisch, war Matthias von Janow, der Beichtvater Karls IV., der das Papsttum des Verrats an seinem hohen Amte anklagt, wenn es kerne Kirchenreform durchführte. Alle diese Männer drückten die Stimmungen ihrer Zeit aus und waren die Vorläufer und geistigen Bahnbrecher des Johann Hus, der die kirchenreformerischen und nationalen Bestrebungen der Tschechen in sich am kräftigsten vereinigte und mit Hilfe der Wycliffeschen Schriften den Kampf für sie aufnahm.

Der geistige Verkehr zwischen Böhmen und England war im letzten Viertel des vierzehnten Jahrhunderts recht lebhaft. König Richard II., der Enkel Eduards III., heiratete eine Tochter Karls IV., dessen ältester Sohn Wenzel ihm auf den böhmischen Thron (1378—1409) folgte (Wenzel war auch deutscher Kaiser, wurde aber 1400 abgesetzt). Richard II., unter dessen Regierung Wycliffe wirkte und der erste Bauernaufstand ausbrach, war also der Schwager Wenzels. Hieronymus von Prag, der viel reiste und überall studierte, besuchte auch Oxford und brachte die Wycliffeschen Schriften nach seiner Heimat mit, wo sie die theoretische Grundlage für die kirchenreformerischen und nationalen Bestrebungen bildeten und auf der Prager Universität viel gelesen und diskutiert wurden. Die ersten Jahre des Bekanntwerdens der Wycliffeschen Lehren in Prag bildeten den Beginn der Laufbahn von Hus. Dieser wurde um das Jahr 1369 zu Husinez von armen Eltern geboren; es gelang ihm aber doch, eine gelehrte Erziehung zu erhalten, die Prager Universität zu besuchen und in den Jahren 1390—1396 die Universitätsgrade bis zum Magister zu durchlaufen. Zwei Jahre später las er dort über Theologie, 1400 wurde er zum Priester ordiniert, 1401 war er Dekan der philosophischen Fakultät, 1402 Rektor, im selben Jahre wurde er zum Prediger der Bethlehemskapelle ernannt, wo er sich durch leidenschaftliche Beredsamkeit auszeichnete. Ein Jahr später begann er seine Laufbahn als Agitator für Kirchenreform: in einer Versammlung der Geistlichen geißelte er ihre Verweltlichung und ihren schändlichen Lebenswandel. Unter dem Einflüsse der Wycliffeschen Lehren trat Hus für die evangelische Armut der Kirche ein, für allgemeine Gleichheit in religiösen Dingen: die Scheidung in Laien und Geistlichkeit zu beseitigen und die Christen nur auf Grund ihrer sittlichen Eigenschaften zu würdigen. Ebenso war er gegen Ablaß und Heiligenanbetung. 1407 weckte sein evangelischer Eifer den Unwillen vieler Geistlicher, die ihn beim Erzbischof anklagten, ketzerische Lehren verbreitet zu haben. Dann hatte Hus die deutschen Theologen und Philosophen an der Prager Universität zu Gegnern. Die Gegnerschaft hatte teils scholastische, teils religiöse und nationale Differenzen zur Ursache. Hus, der sich theoretisch auf Wycliffe stützte, war „Realist"; die Deutschen vertraten den Nominalismus; die Deutschen verdammten 1408 die Hauptlehren Wycliffes. Hus setzte dann bei König Wenzel durch, daß der numerische Einfluß der Deutschen an der Universität stark beschnitten wurde, worauf die deutschen Professoren und Studenten Prag verließen und die Leipziger Universität gründeten. All diese Vorgänge brachten Hus die Verehrung und die Liebe der Tschechen ein; sie erblickten in ihm das geistige Oberhaupt der Nation. Es hat hier keinen Zweck, die religiösen Streitigkeiten auseinanderzusetzen, in die Hus verwickelt wurde. Für uns ist Hus' Stellung zum Kommunismus wichtiger. Er dürfte auch hierin seinem englischen Meister gefolgt haben, aber öffentlich ist Hus nicht für allgemeine kommunistische Lehren eingetreten. Seine Tätigkeit für Kirchenreform und für nationale Geltung der Tschechen nahm seine Energie völlig in Anspruch. Sein Schicksal ist bekannt. 1413 wurde er von Papst Johann XXIII. in Acht und Bann getan; Ende 1413 reiste er nach Konstanz, um auf dem dort versammelten Konzil seine Verteidigung zu führen; am 6. Juli 1415 erlitt er dort als hartnäckiger Ketzer den Flammentod. Ungefähr ein Jahr später wurde auch Hieronymus von Prag als Anhänger Wycliffes und Hus' verbrannt. Ganz Böhmen, mit Ausnahme der Deutschen — einschließlich der deutschen Bergleute und sonstigen Arbeiter — sowie einer geringen Anzahl von tschechischen Magnaten, betrachtete Hus und Hieronymus als nationale Märtyrer, stellte sich auf ihre Seite und nahm Partei gegen das Konzil und Papsttum, deren Erlasse und Bullen mit Hohn zurückgewiesen wurden.

10. Die Hussitenkriege.

Die Funken, die 1415 und 1416 von den Scheiterhaufen in Konstanz aufsprühten, entzündeten die Hussitenkriege, die vom Jahre 1419—1436 dauerten und durch nationale wie religiöse und Sozialrevolutionäre Leidenschaften genährt wurden. Die tschechische Nation, obwohl einig gegen Konstanz und Rom und alle äußeren Angriffe, war doch sozialökonomisch in Klassen gespalten und konnte deshalb zu keiner inneren Einigkeit über Maß und Ziel der Reformen gelangen. Es wurde nach und nach klar, daß es zahlreiche Volkselemente gab, denen die Kirchenreform nicht genügte, sondern auf eine soziale Umwälzung abzielten. Der Adel und die Bürger begnügten sich mit der Forderung auf Beschlagnahme der Kirchengüter und der Einteilung des Abendmahls unter beiderlei Gestalten (sub utraque specie): Wein (Kelch) und Brot, um hierdurch die christliche Gleichheit zwischen Klerus und Laien zu versinnbildlichen. Die Forderung nach dem Kelch (calix) war gewissermaßen die Parole der demokratischen Gleichheit, der Ruf zur Rückkehr zur Einfachheit, wie sie in den christlichen Urgemeinden geherrscht hatte. Die Anhänger dieser Richtung nannten sich Utraquisten oder Calixtiner und wünschten nur, die beschlagnahmten Kirchengüter in Ruhe zu genießen und den Klerus nicht hochmütig werden zu lassen. Sie bildeten die gemäßigte (adelig-bürgerliche) Richtung, denn an der sozialen Ordnung sollte nicht weiter gerüttelt werden. Ihnen gegenüber standen die ärmeren Volksschichten: die Kiembauern und Landarbeiter, die tschechischen Handwerker und Arbeiter, verarmte Adelige und ähnliche Elemente, die eine vollständige Durchführung der Wycliffeschen Lehren, also auch der sozialen Reformen, verlangten. Diese Richtung war die radikale, und ihre Anhänger nannten sich Taboriten, da sie ihr Hauptquartier in einem Städtchen auf einem Hügel (südwestlich von Prag) errichteten, dem sie den biblischen Namen Tabor gaben. Im Gegensatze zur gemäßigten Richtung war die radikale Richtung nicht einheitlich: alle ihre Anhänger verlangten zwar eine gründliche kirchliche Reform im Sinne des Urchristentums, aber sozialökonomisch gingen sie auseinander, manche waren gemäßigte Sozialreformer, andere konsequente Kommunisten. Beide Richtungen verteidigten mit tschechischer Zähigkeit und Folgerichtigkeit ihre Ansichten, befehdeten einander, hielten aber immer zusammen, sobald es galt, dem gemeinsamen Feind Schach zu bieten. Einen starken Zulauf hatten die Taboriten, die in ihrem Hauptquartier den Massen das Abendmahl in beiderlei Gestalt erteilten. Tabor wurde an Festtagen zum Wallfahrtsorte von vielen lausenden Tschechen; auch Begharden, Walden-ser, Pazifisten und anderen kommunistischen Sektierer, die in den verschiedenen Ländern verfolgt wurden, suchten Zuflucht in Tabor und verbreiteten dort ihre Lehren; Tabor wurde für einige Zeit der Mittelpunkt der ketzerisch-sozialen Bewegung Europas.

Mit dem Wachsen des hussitischen Anhangs stieg ihre Kühnheit, und die Taboriten berieten über die Absetzung des Königs Wenzel, aber der einflußreiche Priester Koranda riet davon ab, indem er meinte, sie würden durch einen Thronwechsel kaum gewinnen, da König Wenzel dem Tranke ergeben sei, und man mit ihm machen könnte, was man wollte. Der König war jedoch des öfteren unter dem Einfluß des hohen Adels und der Geistlichkeit, die ihn ver-anlaßten, der Reformbewegung entgegenzutreten und öffentliche Prozessionen, die das Abendmahl trugen, zu verbieten. Dieses Verbot war der Beginn der Hussitenkriege. Am 30. Juli 1419 widersetzten sich die Massen in der Neustadt Prag dem Prozessionsverbote und fanden in dem gemäßigten Taboriten Johann Ziska einen entschlossenen Führer. Unter seiner Leitung stürmten die Volksmassen das Rathaus, warfen die dort versammelten Ratsherren zum Fenster hinaus, die auf der Straße von der Menge erschlagen wurden. Als der „gute" und träge König Wenzel die Nachricht von diesem Vorgang vernommen hatte, geriet er in solche Aufregung, daß er einen Schlaganfall erlitt und zwei Wochen später starb. Ihm folgte auf dem böhmischen Thron sein Bruder Sigismund, der seit 1410 deutscher Kaiser war und beim Prozesse gegen Hus in Konstanz eine schlechte Rolle gespielt hatte und schon deshalb den Hussiten nicht genehm sein konnte, außerdem war er als deutscher Kaiser selbstredend den Tschechen verdächtig. Nichtsdestoweniger blieb Böhmen ruhig, als Sigismund hinkam, um seine Erbschaft anzutreten. Die Magnaten und die Patrizier huldigten ihm, die Massen aber nahmen eine abwartende Haltung an, befestigten jedoch Tabor und verwandelten es in ein uneinnehmbares Lager. Als dann die katholische Partei die Verfolgung der Hussiten aufnahm, zu Gewaltmaßregeln griff und der päpstliche Legat im März 1420 den Kreuzzug gegen die böhmischen Ketzer predigte, brach der Sturm los. Am 3. April 1420 einigten sich die Calixtiner mit den Taboriten, gemeinsam den Kampf zu führen. Und die Einigkeit war höchst nötig, denn Kreuzfahrer aus allen Gegenden Europas folgten dem päpstlichen Rufe gegen die Hussiten. An die 150000 Ritter, Söldner, Abenteurer und fromme Katholiken, von Ablässen gelockt, strömten 1421 gegen Böhmen zusammen, um der hussitischen Ketzerei ein blutiges Ende zu bereiten. Fünfmal griff das Kreuzheer an, fünfmal wurde es verlustreich zurückgeschlagen. Grausam wütete der Kampf von beiden Seiten. 1424 starb Ziska, an seine Stelle traten die mehr links gerichteten Taboriten Prokop der Große und Prokop der Kleine, die 1427 von der Verteidigung zum Angriff übergingen und verheerende Züge nach den umliegenden deutschen Landen unternahmen: nach Bayern, Österreich, Franken, Sachsen, der Lausitz, Schlesien, Brandenburg, wo sie die ihnen entgegentretenden Reichsheere jedesmal schlugen. Wie zwei Jahrhunderte später die Schweden, so waren damals die Hussiten der Schrecken der deutschen Länder. Ein Volkslied aus jenen Zeiten gibt Kunde hiervon: „Meißen und Sachsen verderbt, Schlesien und Lausitz zerscherbt; Bayern ausgenehrt, Österreich verheert; Mähren verzehrt, Böheimb umgekehrt." Nachdem nun der Kreuzzug im Jahre 1431 in der Schlacht bei Taus ein unrühmliches Ende gefunden hatte, begann Papst und Kaiser an Versöhnung durch Kompromisse zu denken. Nach langen Unterhandlungen auf dem Konzil zu Basel kam 1433 ein Friede zustande, der den Hussiten den Kelch beim Abendmahl, die tschechische Landessprache in der Predigt gewährte und das geraubte Kirchengut dem Adel ließ. Dieser Friede ist unter dem Namen „Prager Compactate" bekannt.

Die in den Prager Compactaten gewährten Zugeständnisse waren wohl geeignet, die Calixtiner und die gemäßigten Taboriten zu befriedigen, keineswegs aber die entschiedenen Reformer und Kommunisten, also jene taboritischen Elemente, die bislang die Stahlspitze des hussitischen Speers bildeten und ungeheuere Blutopfer in Abwehr und Angriff brachten. Die Compactate von 1433 spalteten und zersplitterten das Hussitentum und ließen die äußerste Linke geschwächt und isoliert, deren Schicksal sich nunmehr entscheiden sollte.

11. Tabors Kommunismus und Ende.

In den Jahren 1418—1421 und aufwärts, also genau 500 Jahre vor der russischen und deutschen Revolution, war Tabor, wie jetzt Moskau, der Mittelpunkt aller ketzerisch-sozialen und kommunistischen Bestrebungen Europas. In der anfänglichen urchristlichen Begeisterung lebte Tabor wie die jerusalemische Urgemeinde. Der Geist der Brüderlichkeit umfing alle, die reinen Herzens hinkamen. Alle Standes- und Besitzunterschiede verschwanden; das Mein und Dein, aus dem alle Übel entsprangen, kannte man dort nicht. Tiefe Frömmigkeit und Freude, Arbeit für die Gemeinschaft, Volksversammlungen und Volksfeste unter freiem Himmel zeichneten das Leben der Taboriten aus. Dann trat der Ernst der Zeit an sie heran: Kampf und Krieg gegen ihre Verfolger und Bedrücker. Die Taboriten teilten ihre Bevölkerung in Haus- und Feldgemeinden; diese zogen in den Krieg, jene sorgten für Lebensmittel — eine Teilung der Pflichten, wie wir sie oben bei den Sueven und im allgemeinen bei den Germanen sahen.

Der österreichische Dichter Alfred Meißner (1822—1885) besang in seiner episch-lyrischen Dichtung „Ziska" diese Kämpfe und Hoffnungen Tabors (12. Auflage, S. 93):

„In gleichen Häusern wohnen alle,
Dem ändern nah und hilfsbereit,
Vereinigt stehn sie eine Halle
Am selben Tisch, im gleichen Kleid.
Es gibt kein Mein und gibt kein Dein,
Die Habe aller ist gemein... Verbrüderung´! Ein Teil bestellt
Die Friedensarbeit auf dem Feld;
Der andere Teil mit Roß und Wagen
Zieht froh hinaus, die Schlacht zu schlagen
Und träumt Eroberung der Welt!"

In dieser mit urchristlichen Erlösungsideen und apokalyptischen Spannungen erfüllten Atmosphäre brach zu Ende 1419 eine chiliastische Begeisterung aus, die die Massen mitriß und sie in einen Zustand bewundernswerter Aufopferungsfähigkeit und Hoffnungsfreudigkeit versetzte, aber auch der Aufnahmefähigkeit für alle extrem-kommunistischen Ideen, wie sie im Laufe des Mittelalters seit Joachim von Floris und Amalrich von Bena und den Katharern entstanden sind (siehe Teil II). Die Begharden (Picarden), die, wie wir wissen, in jener Zeit alle ketzerisch-sozialen Ideen in sich aufgenommen hatten, verkündeten zu Ende 1419 in Tabor die bevorstehende Wiederkunft Jesu, der das tausendjährige Reich, den kommunistischen Zukunftsstaat, aufrichten würde. All die Märtyrer, die für die urchristlich-kommunistische Wahrheit und Gerechtigkeit gestorben seien, würden auferstehen, darunter auch Hus und Hieronymus. Die Segnungen und Freuden, Wissen und Erkenntnis, Unschuld und Vollkommenheit, wie sie Adam vor dem Sündenfall ausgezeichnet hatten, würden den Genossen des Zukunftsstaates zuteil werden. Es würde ein Zeitalter der Gleichheit und Freiheit sein, das weder Könige noch Menschengesetze kennen würde. Staat, Kirche, Theologie und die ganze scholastische Gelehrsamkeit würden verschwinden. Unter den böhmischen Extremen war es der Priester Martinek Huska, genannt Loquis (der Beredte), der zum Wortführer dieser Gedanken wurde.

Die starke antinomistische Strömung unter den Extremen führte bei einer Gruppe zur Vielweiberei. Diese Gruppe wurde unter dem alten gnostischen Sektennamen Adamiten bekannt, da ihre Mitglieder, die Gebräuche der Zivilisation verachtend, sich ihrer Nacktheit nicht schämten.

Die gemäßigten Taboriten, die von der gleichen Verfolgungssucht gegen die extremen Kommunisten erfüllt waren, wie die Calixtiner gegen den Kommunismus im allgemeinen, unternahmen gegen Ende 1421 einen Vernichtungszug gegen die Adamiten und rotteten sie mit Feuer und Schwert aus.

Faßt man die Vorgänge der Hussitengeschichte seit 1418 zusammen, so lassen sich in ihr folgende Richtungen unterscheiden: Calixtiner, gemäßigte Sozialreformer, Kommunisten und extreme Kommunisten. Es dürfte leichter sein, diese Richtungen und ihre Bedeutung zu würdigen, wenn man sie mit den Richtungen in der deutschen Revolution 1918 bis 1921 vergleicht. Die Calixtiner waren die heutigen bürgerlichen Demokraten; die Taboriten umschlossen vorerst alle Elemente, die links von den Calixtinern standen, also nach heutigen Begriffen: die Sozialdemokraten und die Kommunisten.

Die Prager Compactate (der Friede von 1433), die die wirtschaftlichen und die sehr mäßigen geistigen Interessen der Calixtiner und Rechtstaboriten befriedigten, schufen eine sehr gefährliche Lage für die Linkstaboriten. Unterwerfung hieße Verrat an ihrer Vergangenheit, Opposition bedeutete Krieg gegen ihre früheren Bundesgenossen, die an zahlenmäßiger und wirtschaftlicher Stärke den Linkstaboriten überlegen waren, um so mehr, als auch die katholischen und kaiserlichen Richtungen sich gegen die Linkstaboriten wandten. Die Prager Compactate schufen tatsächlich eine adelig-bürgerlich-sozialreformerische Koalition gegen die kommunistische Linke. Nichtsdestoweniger blieb sie in schärfster Opposition und mußte früher oder später an die Waffen appellieren. Nach der ganzen Lage der Dinge blieb nur eine kriegerische Entscheidung übrig, obwohl der Ausgang gar nicht zweifelhaft sein konnte. Kaum sechs Monate nach dem Abschluß der Prager Compactate erfolgte der Zusammenstoß. Einem Koalitionsheer von 25000 Mann boten 18000 Kommunisten Trotz. Die Entscheidungsschlacht fand Sonntag, 30. Mai 1434 bei Lipar (unweit Böhmisch-Brod) statt. Die Schlacht tobte den ganzen Tag und die Nacht hindurch bis Montag 3 Uhr morgens, und sie fiel zuungunsten der Kommunisten aus; etwa 13000 Leichen der tapfersten Taboriten, darunter des Oberbefehlshabers Prokop, bedeckten das Schlachtfeld. Trotzdem griffen die Überlebenden schon im Dezember desselben Jahres wieder zu den Waffen, aber sie bildeten keine ernste Macht mehr.

Aus den Überresten der Taboriten entstand 1457 die Sekte der böhmischen und mährischen Brüder, die mit der der Quäker viel Ähnlichkeit hat. Auch sie ist grundsätzlich pazifistisch, sozialreformerisch, betriebsam und wohltätig.

Das einzige geistige Ergebnis der Hussitenkriege war die Verpflanzung der Lehren von Wycliffe und Hus nach Deutschland. Sie machten sich sowohl im deutschen Bauernkriege wie in der Reformation bemerkbar(2).

Anmerkungen

1) „Offene Felder" nannte man die Bauerngemeinschaften; „eingezäunte Ländereien" waren Privateigentum der Gutsherren. Das Umgeben von Grund und Boden mit einem Zaun bedeutete damals soviel wie Gemeineigentum in Privateigentum verwandeln.

2) Loserth, Hus und Wiclif, Prag 1884; Palacky, Geschichte von Böhmen, Band III, 1—3; IV, 1—2; V, 1—2, Prag 1845—67; Wadstein, Eschatologische Ideengruppe, Leipzig 1896.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 249

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html