Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Kampf der französischen Wohnungslosen: Hintergründe und (erste) Ergebnis
Französische Politiker, Wahlkämpfer und Rechtsextreme gegenüber dem „einklagbaren Recht auf eine Wohnung“

02/07

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Geschätzte 100.000 Obdachlose gibt es in Frankreich. Offiziell wurden bei der Volkszählung (von 2001) rund 86.000 gezählt, hinzu kommen dürfte eine gewisse Dunkelziffer. Aber insgesamt verzeichnet das Land drei Millionen „schlecht Behauste“ oder mal logés. Das sind Menschen, die in Wohnwagen und auf Campingplätzen leben (141.000), in möblierten Hotels – meist speziell für Immigranten – in überteuerten Zimmern ohne Konfort auf Dauer wohnen (583.000), bei Familienmitglieder oder Bekannten untergebracht sind (150.000) oder aber in hoffnungslos überbelegten oder keinen modernen Hygiene- und Sicherheitsstandards gehorchenden Wohnungen hausen. Letztere machen, mit über 68 Prozent, den gröbten Anteil an den <mal logés> aus.

Rund 300 von ihnen campierten, und campieren zum Teil immer noch, seit dem 16. Dezember 2006 in Paris entlang des Canal de Saint-Martin, der Wasserstrabe, die den Nordosten der Hauptstadt durchzieht. Im Vorwahlkampf um die französische Präsidentschaft haben sie damit erhebliche Aufmerksamkeit erregt, zwischen Weihnachten und Neujahr sowie in den ersten Januartagen sorgten sie für „das“ Medienthema Nummer Eins in Frankreich.

Einleitung 

Die französische Gesellschaft hat, im Zuge der jüngsten Auseinandersetzung, ihren Blick auf das Obdachlosenproblem verändert. In der Vergangenheit galt diese Problematik noch als Thema für politische Demagogie (im Sinne eines Eintretens für humanitäre Mildtätigkeit), die für die Mehrheit der Gesellschaft insofern folgenlose bleibe, als diese nicht direkt tangiert schien. Im Februar 2002 hatte Frankreichs damaliger Premierminister und Präsidentschaftskandidat Lionel Jospin (Sozialdemokrat) noch den Slogan „Keinen Obdachlosen mehr bis 2007“ als wichtigstes Wahlkampfversprechen in sein Programm aufnehmen wollen. (Vgl. dazu im Labournet von damals: http://www.labournet.de/internationales/fr/wahlwirren.html) Der Empfang für dieses Versprechen fiel ausgesprochen kühl aus. Einerseits erschien Jospins Ankündigung als demagogisch, da er nicht näher auswies, mit welchen Mitteln und aufgrund welcher Mabnahmen er dieses Ziel zu erreichen oder ihm näher zu kommen gedenke. Zum Anderen aber fiel auch aus anderen Gründen die Reaktion eher negativ aus: Eine vermeintlich nur „humanitäre“ Ankündigung für die völlig aus dem sozialen Leben „Ausgeschlossenen“ – das brachte eher die im Arbeitsleben Stehenden, die sich zunehmend selbst unter Druck geraten fühlten (verstärkte Arbeitsintensivität, Flexibilisierungsdruck und Hetze, Angst vor dem Morgen im Rahmen von „atypischen“ Beschäftigungsverhältnissen) gegen Jospin auf. Denn einmal mehr schien die „soziale Frage“ nur als eine Frage der ‚exclusion’ (Ausschluss), also der völlig aus dem sozialen Gefüge Herausgefallenen, aufgeworfen und durchbuchstabiert zu werden. Die Ausbeutung und die sich radikalisierende Ungleichheit innerhalb dieses sozialen Gefüges schienen dabei umso mehr ausgeblendet und an den Rand gedrängt zu werden. Deshalb auch wählten, unter anderem vor diesem Hintergrund, so manche abhängig Beschäftigten am Schluss Jean-Marie Le Pen statt Lionel Jospin (verknüpft mit der Beschwerde „Wir zahlen nur, und zählen nichts, als ob wir reich und nicht selbst arm wären“). 

  Heute läuft die Diskussion völlig anders. Dies hängt wohl damit zusammen, dass (u.a. aufgrund der „Working Poor“-Diskussion) auch die im Arbeitsleben und im Ausbeutungsprozess Stehenden selbst sioch von der Wohnungslosen- und Obdachlosen-Problematik angesprochen fühlen. Die rapide ansteigenden Mietkosten und Ansprüche der Eigentümer (Bürgschaften etc. piepapo) haben den Druck auf die so genannten „einfachen“ Haushalte so spürbar erhöht, dass man sich auch dort nun plötzlich vorstellen kann, dass man selbst eines Tages die eigene Wohnung verlieren könnte. Es genügt schlieblich, einen kleinen „Unfall“ im Leben zu haben (plötzliche Arbeitsunfähigkeit, Trennung und Auflösung einer Beziehung), um fast von einem Tag auf der anderen sein teures Dach über dem Kopf sich nicht mehr leisten zu können. Am 07. Dezember 2006 erschien eine Umfrage, derzufolge 48 Prozent der Französinnen und Franzosen sich (zumindest) „vorstellen können, selbst obdachlos zu werden“. (!) Das ist der Stoff, aus dem der Erfolg des Themas erwuchs. Die politische Klasse ist aufgrund des gewaltigen Medienechos, das die Pariser Zeltstadt erzielt hat, in Hektik verfallen. Immerhin scheint dies zu ersten positiven Mabnahmen zu führen. 

Eine kleine Reportage 

Paris, an einem Abend Anfang Januar 2007. Ein wenig beibender Rauch steigt aus einer kleinen Tonne auf, drum herum stehen drei oder vier Zelte, hinter einer Brücke sind weitere zu erahnen. Am Ufer des Kanals, der quer durch den Pariser Osten führt, sind einige Kleidungsstücke zum Trocken aufgehängt. Unter seinem Zeltdach ist ein Mann dabei, sich eine Konservendose aufzuwärmen. „Hallo“, frage ich, „bin ich hier richtig bei den Leuten, wo man freiwillig eine Nacht in einem Obdachlosenzelt schlafen kann, wegen der Solidarität?“ Nein, bin ich nicht: „Ah, sie meinen die Initiative der Kinder von Don Quichotte? Die waren am Anfang tatsächlich hier, sind aber jetzt mit ihren Zelten einen halben Kilometer weiter stadteinwärts gezogen, weil wir zuerst an diesem Ort waren. Ich, ich bin nicht für die Medienpropaganda hier. Ich lebe wirklich hier.“ Und was denkt er über die Initiative? „Ich denke nichts. Weder gut noch schlecht.“ Dennoch bleibt der vielleicht Vierzigjährige freundlich und respektvoll, gibt mir aber zu verstehen, dass ich in dem Zelt in seine Privatsphäre eingedrungen bin.  

Seiner Beschreibung folgend, versuche ich es zwei Brücken weiter an einem anderen Zelt. „Halts Maul!“ erhalte ich zur Antwort. Im hinteren Teil des Zelts scheint ein Mann zu liegen. Ein paar Meter weiter sitzt eine Frau auf einer Matratze. „Noch weiter stadteinwärts“, meint sie. Die Initiative findet sie nicht gut: „Die bekommen doch bestimmt einen Haufen Geld für ihre Aktion! Und wir, die Obdachlosen, wir kriegen von dem ganzen Geld nichts ab! Also, was soll das bringen…“ Aus dem benachbarten Zelt tönt es nun wiederholt, laut und nicht gut aufgelegt klingend: „Halts Maul! Halts Maul! Halts Maul!“ Also ziehe ich es vor, noch ein Stück weiter anzufragen. Dieses Mal bin ich richtig. Eine kleine Zeltstadt aus mindestens 200 rosa-schwarzen Sportzelten ist dem Canal Saint-Martin entlang aufgebaut, unweit der Stelle, wo der innerstädtische Kanal unter dem Boden versinkt und unterirdisch bis zur Seine weitergeführt wird. Inmitten eines Strabenzugs mit angesagten Kneipen und Bürohäusern, in einem innerstädtischen Viertel.  

Ich frage nach einer Zeltunterkunft, um mich für eine Nacht einzuquartieren. Ganz im Sinne der Aufforderung, die die „Initiative der Kinder des Don Quichotte“ acht Tage vor Weihnachten öffentlich an die „Leute mit einem Dach über dem Kopf“ (bien logés, wörtlich: „gut behausten“) lanciert hatte: Kommt her und seht selbst, wie es sich als Obdachloser – auf Zeit – lebt! Tatsächlich haben einige, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie der Schauspieler Jean Rochefort ebenso wie Privatleute, dem Aufruf bereits Folge geleistet. In den abendlichen Fernsehnachrichten war sogar eine 70jährige Dame zu sehen, die freiwillig eine Nacht im Zelt verbrachte. (Was gar nicht so leicht ist: Der Autoverkehr bis spät in die Nacht hinein, die Schritte der Passanten ab dem frühen Morgen...) 

Man verweist mich an einige Verantwortliche. Barthez ist gerade dabei, vor dem Anbruch der Nacht aus einem groben Topf Suppe auszuschenken. Ja klar, ein Zelt müsse noch zu haben sein. Unterdessen nutze ich die Gelegenheit, um mit einigen der Bewohner der Zeltstadt ins Gespräch zu kommen. Weshalb sind sie wohnungslos, warum haben sie sich hier einquartiert? Hakim und Rachid (die Vornamen wurden abgeändert) sitzen in einer Kneipe, die seit einigen Tagen zum „Hauptquartier“ der Initiative geworden ist, und bestellen sich gerade ein Bierchen. Die beiden dürften irgendwo zwischen 40 und 50 Jahre alt sein. Der eine stammt aus Tunesien, der andere aus Marokko. Beide sind seit über 17 Jahren in Frankreich, wo ältere Geschwister oder Verwandte in früheren Jahrzehnten als Arbeitskräfte für die Industrie rekrutiert worden waren. Die beiden Jüngeren kam nach, aber damals gab es schon keine Arbeit mehr. Ihnen wurde auch keine „legale“ Einwanderung angeboten. Aber mangels Perspektiven im Herkunftsland blieben sie dennoch. Seit 17 Jahren ohne Aufenthaltstitel. Warum das, frage ich? Bis im vorigen Jahr bot das Gesetz doch die Möglichkeit, bei nachgewiesenem – auch „illegalem“ zehnjährigem Aufenthalt seinen Status zu legalisieren. Innenminister Nicolas Sarkozy hat dieses Recht allerdings im vorigen Sommer wieder abgeschafft. „Na ja“, meint Hakim, „versucht haben wir es ja. Aber bei den Behörden oder vor Gericht musst Du beweisen, dass Du wirklich seit zehn Jahren ununterbrochen da bist. Und wenn man illegal lebt, hat man nicht unbedingt die Dokumente, die den Nachweis dafür erbringen. Unsere jedenfalls haben sie nicht gewertet.“ Also leben beide von Erntearbeiten – wie im letzten Herbst bei der Weinernte in Burgund – und Gelegenheitsverdiensten. Eine Wohnung können sie damit nicht bekommen. „Vorher lebten wir in einem Wohnwagen in der Pariser Vorstadt Bobigny, auch an einem Kanal“, erzählt Rachid, „auch im harten Winter 1998. Damals sind 140 Obdachlose erfroren.“ Wo sie später hingehen werden, wissen sie noch nicht. Rachid schwört auf den Koran, „weil der Glaube der einzige Trost ist“, dann bestellt er noch ein Bier. 

Rafaël bringt mich zum Verantwortlichen für die Zelte. Er ist ein junger Mann, Anfang 20, und kommt eigentlich aus La Rochelle in Westfrankreich. Wie er hierher kam? „Seit 14 Tagen bin ich auf der Strabe. Vorher wohnte ich bei meiner Freundin. Ich selbst lebe von Zeitarbeit, da brauchst Du mit Deinen Lohnzetteln gar nicht erst eine Wohnung zu suchen. Dann hat die Freundin mich vor die Tür geschmissen. Aber da war ich auf der Strabe.“ Nachdem er in den Medien von der Aktion in Paris gehört hatte, wollte er mitmachen. Die Zukunft? Eine neue Freundin suchen, um sich bei ihr einzuquartieren. Rafael hat da eine heibe Spur, der er demnächst nach Marseille folgen wird. Auch viele ältere Obdachlose in der Zeltstadt sind, ähnlich wie er, nach einer Trennung oder Ehescheidung auf der Strabe gelandet: Entweder konnten sie nach danach allein ihre Miete (oder ihren Kredit, zum Abzahlen des Wohnungskaufs) nicht mehr aufbringen und wurden aus ihrer Wohnung gekündigt, oder sie fielen in eine vorübergehende Depression und verloren Job und Absicherung. Nicht alle klingen so optimistisch für die nähere Zukunft wie Rafaël. Neben diesem Publikum, das die grobe Mehrheit unter den Anwesenden ausmachen dürfte, gibt es noch ein paar junge Punker mit Hunden. 

Die Zeltstadt ist gut organisiert. Es gibt einen selbstorganisierten Sicherheitsdienst, der Tag und Nacht Wache schiebt – damit es nicht zu Überfällen oder Diebstählen kommt. Augustin Legrand, einer der Initiatoren der Aktion, dessen Gesicht inzwischen halb Frankreich aus den Medien kennt, erzählt, wie er seit Oktober selbst das Leben aus der Strabe ausprobierte, als Erfahrung. Er erzählt von Fubtritten von Passanten und der Angst, irgendwann nachts im Schlaf angegriffen zu werden, nicht mehr aufzuwachen. Der Ordnerdienst, der mit Funkgeräten ausgestattet ist, greift aber auch ein, um einzelne Obdachlose vom Platz zu weisen, die betrunken sind oder unter Drogeneinfluss stehen und dabei aggressiv wurden. Zwei mal bekomme ich solche Szenen mit. Aufgrund eines solchen Konflikts musste die Zeltstadt auch von ihrem ursprünglichen Platz, wo sie acht Tage vor Weihnachten zuerst aufgestellt worden war, einen halben Kilometer weiter am Kanal entlang wandern.  

Die Initiatoren der Aktion, die Brüder Legrand (Augustin und Jean-Baptiste), leben nicht aus materieller Not in einem Zelt. sind selbst ursprünglich keine Obdachlosen. Augustin, 31 Jahre und zwei Meter grob - der als Erster die Ideen zu der öffentlichen Übernachtungsaktion mitten in Paris hatte -, hat als Schauspieler in einigen Kinofilmen mitgewirkt und Dokumentarfilme gedreht. So wurde er auf die Lage der SDF (Sans domicile fixe, „ohne festen Wohnsitz“) aufmerksam, wie man die modernen Obdachlosen nennt – in Abgrenzung zu den historischen „Clochards“ früherer Epochen. Letztere hatten ich zum Teil selbst zu einem Leben unter den Brücken und für einen gewissen Daseinsstil entschieden, um den Zwängen einer bürgerlichen Existenz zu entfliehen. Ihre Situation wurde oft romantisiert. Die der SDF, die Frankreich seit 30 Jahren kennt, wird dagegen weder von ihnen selbst noch von Aubenstehenden auch nur eine Minute als rosig empfunden. Es ist „la galère“, wie man im Französischen mit einem treffenden Sprachbild eine soziale Zwangslage benennt.  

Arbeiten... und trotzdem obdachlos sein (oder: Das Problem der ‚Working Poor’ und des Wohnungsmarkts) 

Die Mehrheit unter ihnen würde sicherlich gern ein anderes Leben führen. Circa 25 Prozent der heutigen Obdachlosen arbeiten regelmäbig, allerdings mehrheitlich in sog. atypischen Beschäftigungsverhältnissen wie in befristeten Verträgen oder Zeitarbeit. Aber 7 bis 8 Prozent haben sogar unbefristete Arbeitsverhältnisse. Doch sie können die immer härter werdenden Auflagen der Hauseigentümer und Maklerfirmen nicht erfüllen, die immer weitergehende Garantien fordern. Vom Gesetz her sollte ein Mieter nach Möglichkeit das Dreifache seiner Monatsmiete verdienen, in der Praxis wird oft mindest das Vierfache verlangt. Oder aber die Person muss einen Bürgen mitbringen, der seinerseits mit seinem Einkommen oder Besitz garantiert, dass die Miete nicht unbezahlt bleibt. Der Bürge muss dann aber seine gesamten Lebensverhältnisse penibel offenlegen, da Makler und Hauseigentümer sicher sein wollen, dass er nicht irgendwo anders Unterhaltspflichten für Partner oder Kinder hat, so dass sein Einkommen nicht pfändbar wäre. Das mögen natürlich viele Leute nicht gern, weshalb sie sich mit Bürgschaften für Freunde und Bekannte zurückhalten. Wer keine wohlhabenden Eltern und/oder einen festen und unbefristeten Arbeitsvertrag hat, dessen Chancen sind auf dem Wohnungsmarkt äuberst dürftig.  

Das bedeutet im gesamten Pariser Stadtgebiet, dass eine Person allein ein Einkommen oberhalb von 2.000 Euro haben müsste – denn unterhalb von 500 bis 550 Euro ist auch keine Einzimmerwohnung zu finden. (Ausnahmen sind allein die so genannten „chambres de bonne“, also ehemalige Dienstmädchenzimmer von 6 oder 8 Quadratmetern Gröbe. Diese sind auch billiger zu haben, wenn man drankommt -- aber ermöglichen kein autonomes Wohnen. Denn darin gibt es natürlich keine Küche, und oft nicht einmal ein eigenes Badezimmer. Manche Studierende lassen sich auf diese Weise bei älteren Leuten unterbringen, bei Bekannten der Familie oder im Austausch gegen einfache Pflege- oder Einkaufs-Dienstleistungen. Eine Lösung für die allgemeine Wohnungsnot ist das natürlich nicht.) Und selbst in der „nahen Banlieue“, also dort in den Trabantenstädten, wo man noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln hinkommt, haben sich die Preise annähernd an Pariser Niveau angenähert und sind heute allenfalls 40 bis 50 Euro günstiger – sofern überhaupt. - Studierende und Arbeitslose erhalten Wohngeld, wobei die Bedingungen dabei für StudentInnen und WG-Bewohner/innen im Jahr 2005 verschärft worden sind, so dass unter dem Strich erheblich weniger dabei ‚rumspringt. Wer vorher durchschnittlich rund 150 Euro im Monat erhielt, kann jetzt nur noch circa 100 Euro bekommen. Und wehe, wenn das Studium dann mal fertig ist...  

  Vor circa zwei Jahren stellte sich übrigens bei einer Erhebung der Stadt Paris heraus, dass 40 ihrer eigenen städtischen Angestellten und Beamten selbst obdachlos waren – sie konnten die drakonischen Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt nicht erfüllen, und waren mal hier und mal dort bei Bekannten untergebracht und zwischendurch auf der Strabe. Diesem Phänomen versuchte die Stadt in der Folgezeit durch bevorzugte Zuteilung einiger ihrer Sozialwohnungen Herr zu werden. Aber das senkt die Wohnungsnot in Paris ansonsten natürlich überhaupt nicht. Erst weit auberhalb der Hauptstadt, in der „groben Banlieue“, beginnen die Preise zu sinken – selbst in den Trabantenstädten sind dort, wo die öffentlichen Verkehrsmittel noch hinkommen, inzwischen die Preise annähernd auf Pariser Niveau geklettert. Die Immobilienpreise in Frankreich, beim Kauf, haben sich seit 1997 verdoppelt. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung kostet ungefähr so viel wie in vielen Regionen Deutschlands ein Hauskauf, Kaufpreise  5.000 Euro pro Quadratmeter auch in schlecht situierten Gebäuden und randständigen Lagen in Paris (Stadtgebiet) sind eher die Regel. (Der Autor spricht aus eigener Erfahrung, da ihm jüngst seine kleine Wohnung zwangsweise zu diesem Preis angeboten wurde – mit der Alternative: Kaufen oder Rausfliegen. Es kam Zweiteres dabei heraus...)  

 Bei den Mieten versuchen die Eigentümer, diese Preisentwicklung nachzuvollziehen und sich gleichzeitig zunehmend von Mietern zu trennen, da Verkaufen mittlerweile als noch lukrativer gilt. Gesetzlich ist es den Vermietern im Prinzip erlaubt, die Miete bis zu 10 Prozent im Jahr zu erhöhen, sofern sie unter dem Marktwert lieg - und auch ansonsten jährlich die durchschnittliche Erhöhung der Baukosten auf die Mietpreise draufzuschlagen. Und solange eher Luxuswohnungen errichtet werden, senkt das die Baupreise nicht gerade ab... 

Ursachen für die horrenden Preise 

Verantwortlich für die Preisexplosion sind vor allem drei Faktoren. Erstens wurden zahlreiche Gelder von Franzosen, die wohlhabend sind oder aber durch Wertspekulationen ihre private Alterabsicherung aufbauen wollen, nachdem sie bis zu Anfang dieses Jahrzehnts an der Börse angelegt waren, seit dem Platzen der New Ecomony-Blase in den Jahren 2000/01 von dort zurückgezogen. Aus Angst vor Kursverlust und damit dem eigenen finanziellen Absturz werden diese Gelder stattdessen zunehmend in Immobilien investiert, da diese Anlage als sicher gilt. Der stetige Finanzzufluss hat aber die Preise in die Höhe getrieben. Zum Zweiten hat sich der Immobilienmarkt in den letzten Jahren zunehmend internationalisiert, was ihn zusätzlich unter Preisdruck setzt. Vor allem die US-amerikanischen Pensionsfonds, die - sich von der Existenzangst jener Rentner, deren Versorgung von ihnen abhängt, nährend – ein extrem aggressives Investionsverhalten an den Tag legen, sind im französischen Immobiliengeschäft eingestiegen. Zu Hause in den USA versuchen inzwischen viele Grobstädte, ihrem sozial verheerenden Treiben wesentlich engere Grenzen zu setzen, deshalb exportieren diese Fonds oft ihre Spekulationsgeschäfte. Seit einem Jahrzehnt möchte auch die französische Rechte im eigenen Land die Gründung solcher privater Rentenfonds durchsetzen, konnte sich aber bislang aufgrund massiver sozialer Widerstände noch nicht mit diesem Vorhaben durchsetzen. 

Zum Dritten gibt es schlicht und einfach zu wenig bezahlbaren Wohnraum. Nicht, dass nicht mehr gebaut würde, im Jahr 2005 war sogar ein gewisser Bauboom zu verzeichnen: 410.000 neue Wohneinheiten. Aber 85 Prozent der neu errichteten Wohnungen und Häuser können sich Angehörige des obersten Viertels der Einkommenspyramide leisten, deren untere drei Viertel weitgehend leer ausgehen. Seit dem Regierungsantritt der UMP im Jahr 2002 wurde der soziale Wohnungsbau erheblich zurückgefahren. Stattdessen erhalten private Baufirmen staatliche Zuschüsse dafür, dass sie neuen Wohnraum errichten – aber ohne jegliche soziale Auflage, also ohne darauf zu achten, für wen die neu errichteten Bauten erschwinglich sind. Bevorzugt werden deshalb Erst- und Zweitwohungen für Reiche drauben im Grünen. Die Landschaft wird dabei zersiedelt, ohne dass der realen Wohnungsnot die geringste Abhilfe geschaffen würde. (Die Monatszeitschrift ‚Alternatives Economiques’ analysiert in ihrem Heft für Februar 2007 im Titelthema treffend: „Die Wohnungsbaupolitik favorisiert ein Angebot, das für die Mehrheit der Haushalte zu teuer ist.“) 

  Innerhalb der Ballungsgebiete beruft sich die Regierung zudem immer öfter auf die notwendige „soziale Durchmischung“, um den weiteren Zuzug von armen oder gering verdienenden Familien in Gebiete mit hohem Anteil an Sozialwohnungen zu beschränken – ansonsten drohe man „Ghettobildung“ zu fördern. Daher versucht man zunehmend auch Mittelschichten, die vor dem enormen Preisdruck in den Innenstädten fliehen, in den Vorstädten anzusiedeln und deren Image dadurch aufzubessen. Unter dem Strich findet also ein Abdrängen der unteren sozialen Klassen in immer weiter auben an den Rändern der Ballungsräume liegende, suburbane Zonen ab. Was die Konservativen nunmehr für Geringverdienende im Angebot führen, ist der Zugang zu Eigentumswohnungen – das Privateigentum an Wohnraum soll gegenüber sozialem Wohnungsbau und Mieterwesen begünstigt werden – für je 100.000 Euro in noch zu gründenden „neuen Städten“. Im Raum Paris werden diese über 30 Kilometer auberhalb des Zentrums liegen, wo die Nachteile der Grobstadt -- Flächenfrab und Verschmutzung –- wunderbar mit den Ödnissen des Landlebens kombiniert sein werden. 

Ergebnisse der Proteste 

Was hat nun die Aktion der Zeltenden in Paris, die in den letzten Wochen zum innenpolitischen Medienthema Nummer Eins avanciert ist, gebracht? Immerhin dies: Alle gröberen Kandidaten zur Präsidentschaftswahl (vom 22. April und 06. Mai) prügeln sich fast darum, Vorschläge zu machen und die „Charta vom Canal Saint-Martin“ genannte Erklärung der Zeltenden zu unterstützen. Präsident Jacques Chirac in seiner Neujahrsansprache und sein Premierminister Dominique de Villepin haben die wichtigste Forderung aus der Erklärung verbal aufgegriffen: Das „Recht auf eine Wohnung“, das seit der Verfassung der Vierten Republik von 1946 – damals regierte eine antifaschistische Koalition unter Einschluss der Kommunisten – in Frankreich Verfassungsrang hat, soll endlich zum „einklagbaren Recht“ werden. Das bedeutet, dass das Recht auf Wohnraum nicht mehr nur einen hehren Programmsatz bilden wird - sondern dass eine Person, die unter vernünftigen Bedingungen keine Wohnung finden kann, tatsächlich den Staat wegen mangelnder Vorsorge oder Wohnungsbaupolitik anklagen und zu Schadensersatz verurteilen lassen kann. Diese Forderung, die von sozialen Initiativen seit langen Jahren aufgestellt wird, findet nun plötzlich in breiten Kreisen Rückhalt.  

Allein die beiden Rechtsaubenpolitiker Jean-Marie Le Pen und Philippe de Villiers haben sich davon klar distanziert. Ihnen zufolge bildet ein solches einklagbares Recht „eine klare Verletzung des Privateigentums“ (Le Pen). Die Ursache für die Wohnungsnot, so ergänzte Philippe de Villiers, sei „in der Masseneinwanderung“ zu suchen. Das rechte Wochenmagazin ‚Valeurs actuelles‘ stieb in dasselbe Horn. 

Das Kabinett von Dominique de Villepin hat am 17. Januar 2007 bereits einen Gesetzentwurf zum Thema vorgelegt, der am Donnerstag Abend (01. Februar) auch im Senat, dem „Oberhaus“ des Parlaments, verabschiedet werden konnte. Noch vor dem Schluss der laufenden Legislaturperiode der Nationalversammlung, die Ende Februar endet, soll der Entwurf in beiden Kammern des französischen Parlaments verabschiedet werden.  

Dieser Text sieht vor, das mit juristischen Konsequenzen ausgestattete „Recht auf Wohnraum“ bis im Jahr 2012 einzuführen. Also bis zum Ende der kommenden Legislaturperiode: Das nächste französische Staatsoberhaupt wird am 22. April und 06. Mai dieses Jahres gewählt, die nächste Nationalversammlung im Juni 07. Sowohl Chirac als auch de Villepin werden danach keinerlei politische Rolle mehr spielen, können also dann in Ruhe zugucken, wie ihre Nachfolger das soziale Versprechen mit den Imperativen bürgerlicher Politik vereinigen werden... Für fünf „besonders prioritäre“ Bevölkerungsgruppen (darunter Personen mit Kleinkindern oder solche, denen ab jetzt eine zwangsweise Räumung aus ihrer Wohnung  ohne Alternativangebot droht) soll zudem ein einklagbares Recht auf eine Notunterkunft bis Ende 2008 eingeführt sein. 

Allerdings hat sich die momentane Regierung in ihrer Gesetzesinitiative bereits darauf festgelegt, dass das Recht auf Wohnraum nicht an einem bestimmten Wohnort, sondern nur auf den Ballungsraum bezogen gelten gemacht werden könne –- und, so fügte Regierungschef de Villepin im Hinblick auf die Hauptstadt explizit hinzu, in Paris nur für die Grobregion Ile-de-France. Dies schlösse eine Unterbringung in neu errichteten Fertighäusern am äubersten Rand des Ballungsraums (30 bis 40 Kilometer vom Pariser Zentrum entfernt), wie Sozial- und Wohnungsbauminister Jean-Louis Borloo sie im Frühsommer 2006 indirekt angeregt hat, mit ein.  Von der Beschlagnahmung leerstehenden Wohnraums oder Bürofläche möchten die Regierenden nichts hören, obwohl Jacques Chirac dies in seinem auf sozialer Demagogie aufbauenden Präsidentschaftswahlkampf 1994/95 damals auch explizit angesprochen hatte. 

Die Gegner eines, endlich fundierten, „Rechts auf Wohnraum“ 

1) Rechtsauben... 

Dem Chef des Front National, Jean-Marie Le Pen, fiel zum Thema „einklagbares Recht“ auf Wohnraum zuerst dieses ein: Es handele sich um „eine sehr direkte Verletzung des Rechts auf Eigentum“ (zitiert nach der Gratistageszeitung ‚Métro’ vom 04. Januar 07). Sein Konkurrent um die rechtsextreme Wählerschaft, der Rechtskatholik Philippe de Villiers, tönte seinerseits in einem Kommuniqué vom 02. Januar, es handele sich bei diesem Recht um „eine Idee, die typischerweise zum antiquiertesten Sozialismus gehört“. Die Wohnungsnot, so Philppe de Villiers, rühre „unter anderem von einer unkontrollierten Einwanderungspolitik“ her. (Vgl. http://www.pourlafrance.fr/communiques.php) Als Abhilfe propagierte de Villiers „eine Umorientierung sozialer Hilfen zugunsten bedürftiger Franzosen (statt Einwanderer)“ und eine Politik des erleichterten Zugangs zu Eigentumswohnungen – Privateigentum soll bei ihm den Stützpfeiler des sozialen Wohnungswesens bilden. 

Am 05. Januar 07 erklärte Marine Le Pen, Tochter von..., im Radiosender ‚France Inter’, die Überlegungen im Regierungslager zu einem einklagbaren Recht auf Wohnraum seien „eine Anpassung (der Konservativen) an kollektivistische Positionen“. Dies belege, „dass Chirac ein Mann der Linken“ sei, wie man schon immer gewusst und gesagt habe. Als Lösungsansatz müsse der Zugang zum sozialen Wohnungsbau „für französische Staatsbürger reserviert werden“, d.h. Immigranten müssen aus ihm ausgeschlossen werden. (Zur Zeit leben in Frankreich vier Millionen Menschen im sozialen Wohnungsbau, HLM.) Schuld an der Wohnungsnot seien ihr zufolge „die Mieterschutzgesetze“. Denn „diese Gesetzgebung weist so viele Zwänge für die Eigentümer auf, dass sie ihre Wohnungen nicht mehr vermieten“. Es ist ja bekannt, dass – jedenfalls aus der Sichtweise von Manchen – die Arbeitslosigkeit auch daraus resultiert, dass die Lohnabhängigen zu viel Kündigungsschutz haben... 

Das rechte Monatsmagazin ‚Valeurs actuelles’, dessen Leserschaft zu 66 Prozent konservativ und zu 25 Prozent konservativ wählt (Erhebung von 2004), seinerseits möchte zwar nicht grundsätzlich die Wohnungsnot in Abrede stellen und bringt die „christliche Nächstenliebe“ in Anschlag. Aber es wirft die aus seiner Sicht entscheidende Frage auf, ob ein einklagbares Recht auf Wohnraum ggf. nur für Inhaber eines französischen Ausweises gelten würde – oder auch für Immigranten: „Wird dieses Recht, das vor den Gerichten eingeklagt werden kann, allein für Franzosen reserviert bleiben - oder wird es in den Gemeinden von allen Personen, die sich legal oder illegal auf dem Staatsgebiet aufhalten, geltend gemacht werden können?“ Aufgrund europäischer und internationaler Abkommen zum Schutz gegen Diskriminierungen, so suggeriert das Blatt, sei Letzteres zu befürchten. Dies aber sei brandgefährlich, und in diesem Falle sei von der Einführung eines solchen Rechts abzuraten: „Grenzenlose Einwanderung und nicht abzuerkennendes Recht auf Wohnraum werden schnell zu einer unauflöslichen Gleichung werden.“ (VA vom 05. Januar 2007) In ihrer darauffolgende Ausgabe stöbt dieselbe Zeitschrift nochmals in dasselbe Horn, und verkündet schon in ihrer Überschrift: „Obschlose: Sie kommen aus Russland, aus China und sogar aus der Mongolei. IMMER MEHR AUSLÄNDISCHE WOHNUNGSLOSE.“ Zum Inhalt muss man da wohl nicht mehr allzu viel sagen. (Vgl. VA vom 12. Januar 2007, S. 28 bis 30) 

   2) ...und von wirtschaftsliberaler Seite 

Aber auch im wirtschaftsliberalen Lager gibt es natürlich Opponenten gegen einen solchen „sozialistischen“ (grusel schauder) Rechtsanspruch. Unter den Berufspolitikern macht freilich im Moment kaum einer in dieser Richtung offen den Mund auf. Explizit dagegen wettert hingegen der neoliberale Flügelmann in der Redaktion der Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’, der Kommentator Eric Le Boucher.  

In der Ausgabe vom 07./08. Januar schreibt der wirtschaftsliberale Brechstangen-Agitator unter der Überschrift „Das einklagbare Recht auf Ernsthaftigkeit“: „Bis zuletzt hat Jacques Chirac die ‚Rechte auf’ vervielfacht. Der Präsident der Hilfen, der Subventionen, der Kredite, der Vermeidung von Restrisiken, der Garantien, der Versicherungen und jetzt auch der ‚einklagbaren Rechte’ hinterlässt die Spur eines gigantischen Geldschein-Verteilers. Und auch (die Spur) desjenigen, der die Staatsverschuldung von 58 Prozent des Bruttoindlandsprodukts im Jahr 2002 auf 66,6 % am Ende seiner Amtszeit hat anwachsen lassen. (...) In seiner Neujahrsansprache beschrieb der Präsident eine Welt in ‚beträchtlicher Veränderung’: die Globalisierung, die Konkurrenz durch China und Indien, die Internet-Revolution, das Klima, den Terrorismus. (...) Bravo! Und dann, am nächsten Tag, eine völlig neue Priorität: Man muss alles stehen und liegen lassen, und den Obdachlosen eine Wohnung verschaffen. Warum? Man weib es nicht. (Sic!!) Ist es wegen des Drucks der Initiativen, die Unterstützung durch die Abendnachrichten erfahren? (.....) Die ‚Ernsthaftigkeit’ bestünde darin, endlich den Mut zu haben zu erklären, dass Frankreich nicht mehr die Mittel hat und dass, sowieso, die Subventionswut in den letzten 20 Jahren nichts gelöst hat und dass es an der Zeit ist, die Probleme anders anzupacken. (.....) Die Worte müssen andere werden: Frankreich verliert/verzettelt sich darin, ‚Rechte auf...’, ‚Vorteile’ und ‚Hilfen’ verteilen zu wollen. Es muss sich die Worte ‚Innovation’, ‚Veränderung’, ‚Öffnung’ zu eigen machen. Kurz, das Land endlich in die schnelle Bewegung der Globalisierung einbringen/versetzen.“  

Hugh: Häuptling Arschloch hat gesprochen! Du-nix-Recht-auf-Tipi, weil nur wer im Schweibe der Globalisierung hart arbeitet, der soll auch wohnen dürfen. Dieser Neoliberale war stolz, drum setzte es was mit dem Holz...  

Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy : « Recht auf Wohnraum » ja. Aber nicht für die (Mehrzahl der) Immigranten! 

Der zur Zeit formalrechtlich zweit- oder drittmächtigste Mann im Staate, der sich mit viel Getöse anschickt, zum mächtigsten aufzurücken, will ebenfalls bis 2012 das „einklagbare Recht auf Wohnraum“ einführen. Aber mit einer äuberst wichtigen Einschränkung: Für die meisten in Frankreich lebenden Einwanderer soll es nicht gelten.   

Nicolas Sarkozy ist ein Mann, der es seit Jahren eilig hat auf dem Weg „ganz nach oben“. Am Sonntag, den 14. Januar 2007 hat ihn die konservative Einheitspartei UMP, mit 98,1 Prozent der abgegebenen Stimmen (das entspricht rund 69 Prozent ihrer formlalen Mitgliedschaft), zum Präsidentschaftskandidaten des Bürgerblocks gekürt. Nicolas Sarkozy war der einzige Kandidat. Kritische Beobachter verglichen die Showveranstaltung, zu der 70.000 UMP-Mitglieder herangekarrt worden waren, abwechselnd mit einer „amerikanischen“ Politishow im Stile der „Konvents“ jenseits des Atlantik – und mit der Krönungszermonie Napoléon des I. Nicolas Sarkozy bleibt zugleich als Innenminister im Amt.  

Anlässlich einer Pressekonferenz am 11. Januar nahm Nicolas Sarkozy nun auch zu „dem“ Thema der vergangenen 14 Tage in der französischen Innenpolitik Stellung: der Frage nach Einführung eines „einklagbaren Rechts auf Wohnraum“. Damit hat Sarkozy sich nun also in die laufende Debatte eingeschaltet, noch bevor sein Erzrivale Dominique de Villepin den zuvor angekündigten Gesetzentwurf zum Thema im Kabinett vorlegen konnte. 

Sarkozy schlug im Laufe seiner Pressekonferenz vor, das „einklagbare Recht auf Wohnraum“ wie geplant bis 2012 (dem Ende der Legislaturperiode) einzuführen –- will aber den Kreis der Anspruchsberechtigten ganz offiziell einschränken. „Es versteht sich von selbst, dass die Sans papiers (Anm.: ‚illegal’ in Frankreich sich aufhaltende Einwanderer) keinen Zugang (zu dieser gerichtlich einklagbaren Rechtsposition) haben sollen“, tönte Sarkozy. Diese Position lässt sich zwar politisch verurteilen bzw. in sozialen Kämpfen ‚auflockern’, steht aber zugleich (leider) vollkommen mit dem bürgerlichen Recht im Einklang und ist insofern keine Überraschung. Doch Nicolas Sarkozy geht noch erheblich weiter. Originalton: „Ich wünsche auch nicht, dass alle legal in Frankreich lebenden Ausländer ein Anrecht darauf haben sollen.“ 

Konkret schlug Nicolas Sarkozy vor, nur solchen Einwanderern in Frankreich eine Rechtsposition im Sinne des „einklagbaren Rechts auf eine Wohnung“ zuzugestehen, die über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Gestalt der so genannten „Zehn-Jahres-Karte“ verfügen. Die „Zehn-Jahres-Karte“ („carte de dix ans“, auch „carte de résident“ genannt) ist im Jahr 1984 eingeführt worden. Hat der Immigrant oder die Immigrantin einmal die „Zehn-Jahres-Karte“, so hat er nach ihrem Ablauf ein Recht auf die Erneuerung diese Aufenthaltstitels, sofern keine gesetzlichen Verwirkungsgründe ausdrücklick dagegen stehen. 

Auf diese „Zehn-Jahres-Karte“ hatte bislang (d.h. vor dem Amtsantritt Sarkozys) ein Recht, wer mindestens drei Jahre lang legal, d.h. jeweils mit einjährigen Aufenthaltstiteln („carte de séjour d’un an“) ausgestattet, auf französischem Boden gewohnt hatte und die rechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllte. Zu den rechtlichen Grundbedingungen gehörte bis dahin, dass der oder die Betreffende über ein eigenes Einkommen verfügt. Aber, und jetzt kommt das dicke Aber: Seit der vorletzten Novellierung der Ausländergesetzgebung unter Innenminister Sarkozy, das im November 2003 vom französischen Parlament angenommen wurde (gefolgt von einer erneuten „Reform“ im Juni 2006), wird die „Zehn-Jahres-Karte“ für die nähere Zukunft weitgehend abgeschafft.   

Ein vom Minister selbst geschaffener Engpass 

Seit der Sarkozy’schen Neufassung der Ausländergesetze von Ende 2003 wurde die Mindest-Aufenthaltsdauer, die für den Erhalt der „Zehn-Jahres-Karte“ erforderlich ist, von drei auf fünf Jahre legalen Aufenthalts verlängert. Vor allem aber gibt es künftig keinerlei automatischen Rechtsanspruch mehr darauf. Nach Ablauf dieser fünf Jahre muss der oder die Betreffende individuell belegen, dass er oder sie den Kriterien der „republikanischen Integration“ in die französische Staats- und Gesellschaftsordnung genügt. (Vgl. http://www.labournet.de/internationales/fr/alg03.html) Und in vielen Fällen wird, anhand dieser individuellen Überprüfung, eine erneute einjährige Aufenthaltserlaubnis statt der bisher üblichen „Zehn-Jahres-Karte“ verliehen werden. Ein dagegen stehendes Recht auf einen unbefristeten Aufenthaltstitel gibt es nun nicht mehr. Und selbst für nach Frankreich nachgeholte Familienmitglieder von seit längerem „legal“ im Lande lebenden Migranten gilt nunmehr diese eiserne Regel: Fünf Jahre legalen Aufenthalts plus individuelle „Integrationsprüfung“. Darunter gibt es keinerlei Aussicht auf einen unbefristeten Aufenthaltstitel.  

Weiteres Öl ins Feuer 

Eine Stunde nach der Pressekonferenz Nicolas Sarkozys meldete sich der (im wahrsten Sinne des Wortes) „rechte Arm“ des Ministers zu Wort. Der südfranzösische Abgeordnete Thierry Mariani, der Nicolas Sarkozy nahe steht, führte in einer Erklärung zum Thema aus: „Das (was Nicolas Sarkozy vorschlug) ist eine Mabnahme im Sinne des gesunden Menschenverstands. Wenn man keine Aufenthaltserlaubnis hat, oder wenn man nur einen einjährigen vorübergehenden Aufenthaltstitel hat, dann hat man nicht eine Sozialwohnung auf Kosten des Steuerzahlers zu genieben.“ (Zitiert nach ‚Le Monde’ vom 13. Januar) 

Juristisch dürfte es allerdings schwierig für den Minister und (möglichen) künftigen Präsidenten werden, eine solche Unterscheidung auch innerhalb der Gruppe der „legal“ in Frankreich wohnenden Immigranten rechtlich zu verankern. Der Conseil d’Etat (oberste Gerichtshof in Verwaltungsrechtsstreitigkeiten) akzeptiert bislang nur eine Unterscheidung zwischen „legal“ und „illegal“ in Frankreich lebenden Einwanderern, was den Zugang zu sozialen Rechtspositionen betrifft.

Editorische Anmerkung

Wir erhielten den Text am 3.2.2007 vom Autor.