Abbildtheorie (auch: Widerspiegelungstheorie)
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1. allgemein: Lehre, daß die Erkenntnis eine Abbildung
oder Widerspiegelung der objektiven Realität im menschlichen
Bewußtsein ist. In ihrer dialektisch-materialistischen
Ausprägung ist die Abbildtheorie das Kernstück der
marxistisch-leninistischen
Erkenntnistheorie. Sie geht davon aus, daß der Gegenstand
der Erkenntnis, die objektive Realität, unabhängig und
außerhalb vom erkennenden Subjekt, dem gesellschaftlichen
Menschen, existiert und von diesem in einem komplizierten
Erkenntnisprozeß auf der Grundlage der Praxis
bewußtseinsmäßig erfaßt und in ideellen Abbildern, wie
Empfindungen, Wahrnehmungen, Begriffen, Aussagen, Theorien
usw., widergespiegelt wird, d. h., das Materielle wird im
Menschenkopf in Ideelles umgesetzt und übersetzt (marx). |
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Die materialistische Beantwortung der Grundfrage der
Philosophie impliziert in erkenntnistheoretischer Hinsicht
in dieser oder jener Form eine Abbildtheorie. In der
Geschichte der Philosophie ist von verschiedenen Philosophen
ein Beitrag zu einer wissenschaftlich begründeten dialektischen
Abbildtheorie geleistet worden, der ein Schritt auf dem Weg zum
dialektischen und historischen Materialismus war. In einer noch
naiven Form wurde die Abbildtheorie bereits von
demokrit
begründet. Nach seiner Auffassung werden alle Dinge durch
Vereinigung von Atomen gebildet, die sich voneinander durch
Gestalt, Ordnung, Lage, Größe und Gewicht unterscheiden. Alle
Gegenstände senden fortwährend Atomgruppen (Eidola) aus, welche
feine, unsichtbare Abbilder der Gegenstände sind und durch
Berührung mit den menschlichen Sinnesorganen die
Sinneserkenntnis ermöglichen. Eine Neubegründung und
Weiterentwicklung erfuhr die Abbildtheorie durch den
englischen materialistischen Sensualismus und durch den an
ihn anknüpfenden französischen Materialismus des 18.
Jahrhunderts.
Bei hobbes und
locke ist die
Abbildtheorie der Erkenntnis eng mit ihrer Auffassung von den
sog. primären und sekundären Qualitäten verbunden, woraus sich
verschiedene Inkonsequenzen ihrer im ganzen materialistischen
Erkenntnistheorie herleiten.
hobbes sieht in
den Wahrnehmungen ((ideas)
Abbilder der materiellen Körper im Bewußtsein, die Empfindungen
des Lichts, der Farbe, der Wärme, des Tons aber sind ihm nur
Phantasmen, die aus der Einwirkung der Objekte auf die
Sinnesorgane entstehen (Lehre vom Körper 4, 25). Ähnlich
betrachtet locke die Wahrnehmungen (ideas) der primären
Qualitäten der Körper, wozu er Größe, Gestalt, Zahl, Lage und
Bewegung rechnet, als Abbilder der objektiven Realität, während
er die sekundären Qualitäten, wie Farbe, Ton, Geruch, Geschmack
usw., als Wirkungen der primären Qualitäten auf die Sinnesorgane
erklärt (Über den menschlichen Verstand 2, 8).
Die französischen materialistischen Philosophen des 18.
Jahrhunderts, insbesondere
holbach und
diderot, führten
die Abbildtheorie konsequenter durch. Sie machten keinen
prinzipiellen Unterschied zwischen primären und sekundären
Qualitäten und sahen in den Empfindungen, Wahrnehmungen und
Ideen Abbilder der Gegenstände mit ihren Eigenschaften. Die
materiellen Gegenstände existieren außerhalb des menschlichen
Bewußtseins, sie wirken durch ihre Eindrücke auf die Sinne,
wodurch Empfindungen entstehen, die als Wahrnehmungen im
menschlichen Gehirn bewußt werden und als Ideen auf die
Gegenstände bezogen werden, welche sie hervorrufen. Jede Idee
ist das Abbild des Gegenstandes, von dem die Empfindung und die
Wahrnehmung ausgehen (holbach,
System der Natur I, 8). Es besteht ein organischer Zusammenhang
zwischen Empfindung, Wahrnehmung und Denken; alle sind sie
Funktionen des menschlichen Gehirns und werden hervorgerufen
durch die Einwirkung äußerer Gegenstände (diderot,
Elemente der Physiologie XVII,XXIX,XXXIII).
Die Abbildtheorie der englischen und französischen Materialisten
war infolge des wesentlich empiristischen
Charakters ihrer Erkenntnistheorien vornehmlich auf die
Sinneserkenntnis beschränkt. Soweit die rationale Erkenntnis
einbezogen wurde - worum sich insbesondere
diderot stark
bemühte -, gelang es noch nicht, ihre spezifische Qualität
gegenüber der Sinneserkenntnis herauszuheben. Die französischen
Materialisten verarbeiteten die damaligen
naturwissenschaftlichen Kenntnisse, vor allem aus dem Bereich
der Physiologie, um ihre erkenntnistheoretischen Auffassungen zu
begründen. Obwohl sich bei ihnen eine Reihe wertvoller Gedanken
über den dialektischen Charakter der Erkenntnis finden, blieb
ihre Abbildtheorie insgesamt doch wesentlich undialektisch
befangen. Weitere Elemente der materialistischen Abbildtheorie
entwickelte spinoza.
Erkennen bedeutete für ihn ein Abbilden der Dinge und ihrer
Ordnung in den Ideen und ihrer Ordnung (Ethik II, Lehrsatz 7).
Die Ordnung der Ideen, der Zusammenhang der Gedanken im
Bewußtsein muß den objektiven Zusammenhang der Dinge
widerspiegeln, zwischen ihnen muß Übereinstimmung bestehen. Wenn
die Ideen mit den Dingen übereinstimmen, sind sie wahr (Ethik I,
Grundsatz 6). Das Erkennen muß ein getreues Bild der Natur
geben. Die Anwendung der Abbildtheorie auf die rationale
Erkenntnis durch spinoza
bedeutete einen Fortschritt gegenüber dem einseitigen Empirismus
und bildet zusammen mit den Auffassungen der englischen und
französischen Materialisten eine wichtige theoretische Quelle
der dialektisch-materialistischen Abbildtheorie. Der Gedanke der
Abbildtheorie ist von Vertretern des Idealismus in ihrem Kampf
gegen die materialistische Erkenntnistheorie in
subjektividealistischer Weise verfälscht worden.
berkeley und
hume schufen die
immanente Abbildtheorie, die bis in die neuere bürgerliche
Philosophie hinein nachwirkt.
berkeley
betrachtet die den Sinnen eingeprägten Ideen, also die
Empfindungen, als die wirklichen Dinge, die Ideen im engeren
Sinne, also die Gedanken, als die Abbilder der Dinge, so daß die
Gedanken die Empfindungen abbilden (Über die Prinzipien der
menschlichen Erkenntnis XXXIII). Ähnlich sieht
hume in den
Vorstellungen oder Gedanken (ideas) Abbilder der Eindrücke oder
Wahrnehmungen (impressions), so daß der ganze Abbildungsprozeß
in allen seinen Gliedern dem Bewußtsein immanent ist (Eine
Untersuchung über den menschlichen Verstand II). Durch
berkeley und
hume wurde das
materialistische Wesen der Abbildtheorie subjektiv-idealistisch
umgefälscht.
Die Abbildtheorie des dialektischen und historischen
Materialismus, die von
marx und engels
geschaffen und von lenin
weiterentwickelt wurde, bedeutet eine qualitativ neue Stufe in
der Entwicklung der materialistischen Erkenntnistheorie. Sie
führt die richtigen Grundgedanken der Abbildtheorie der früheren
Materialisten fort, überwindet ihre Mängel und verarbeitet
zugleich kritisch die Resultate und richtigen Problemstellungen,
welche die idealistische Erkenntnistheorie hervorgebracht hat.
Die neue Qualität der dialektisch-materialistischen
Abbildtheorie zeigt sich vor allem in folgenden Gesichtspunkten:
sie erfaßt im Unterschied zu aller anderen Erkenntnistheorie den
sozialen Charakter und die soziale Determiniertheit des
Abbildungsprozesses. Die gesellschaftliche Praxis in ihren
vielfältigen Formen ist die Grundlage, auf welcher der
Abbildungsprozeß im menschlichen Bewußtsein erfolgt. Die Praxis
ist auch das letzte und entscheidende Kriterium, das es
gestattet zu prüfen, inwieweit die Abbilder mit dem Abgebildeten
übereinstimmen, um sie fortlaufend zu korrigieren und zu
präzisieren. Das menschliche Erkenntnisvermögen, der Apparat,
mit dessen Hilfe die Abbildung der objektiven Realität erfolgt,
ist nicht nur ein Ergebnis der biologischen Evolution und
Anpassung, sondern vor allem der gesellschaftlichen Entwicklung.
«Die Bildung der fünf Sinne ist "eine Arbeit der ganzen
bisherigen Weltgeschichte» (marx).
Ebenso erhält auch der Gegenstand der Erkenntnis infolge der
Veränderung der Natur durch die Gesellschaft in wachsendem Maße
sozialen Charakter. Da die dialektisch-materialistische
Abbildtheorie auch den historischen Materialismus zu ihrer
philosophischen Grundlage hat, kann sie den Abbildungsprozeß in
seiner gesellschaftlichen Bedingtheit richtig erfassen, während
die frühere Abbildtheorie ihn schon von ihren philosophischen
Grundlagen her nur in seiner individuellen, vereinzelten und
darum abstrakten Gestalt nehmen konnte.
Die marxistisch-leninistische Abbildtheorie hat im
Unterschied zu der ihrem Wesen nach undialektischen Auffassung
der früheren Materialisten den dialektischen Charakter des
Abbildungsprozesses klar herausgearbeitet. Das Erkennen ist kein
mechanischer Vorgang, sondern ein komplizierter Prozeß, der
voller dialektischer Widersprüche ist. Er umschließt die
widersprüchliche Einheit von Objektivem und Subjektivem, von
Unmittelbarkeit und Vermittlung, von Sinnlichem und Rationalem,
von Allgemeinem und Einzelnem, von Abstraktem und Konkretem, von
Empirischem und Theoretischem. Dementsprechend sind auch die im
Erkenntnisprozeß entstehenden Abbilder der objektiven Realität
keine mechanischen Kopien, sondern komplizierte Übersetzungen
gemäß den spezifischen Gesetzen der menschlichen
Erkenntnistätigkeit. Aber es besteht eine eindeutige Beziehung
zwischen den Abbildern und dem Abgebildeten, eine Isomorphie,
die in den verschiedenen Abbildformen
unterschiedliche Gestalt annimmt. Die Abbilder in der rationalen
Erkenntnis sind in unterschiedlichem Maße mit konventionellen
Elementen, insbesondere mit Zeichen und Zeichensystemen
verbunden. Diese sind zum Aufbau theoretischer Systeme und zu
deren Formalisierung unerläßlich (-> Semiotik). Die
Verabsolutierung dieser konventionellen Elemente und ihre
idealistische Interpretation durch den Neopositivismus
hat zur Entstehung der Zeichentheorie der Erkenntnis geführt,
wonach Erkennen darin bestehe, irgendwelchen Tatbeständen
Zeichen eindeutig zuzuordnen (schlick,
Allgemeine Erkenntnislehre I). Die dialektisch-materialistische
Abbildtheorie gründet sich fest auf die Resultate der modernen
Naturwissenschaft. Sie rindet ihre naturwissenschaftliche
Grundlage vor allem in der Neurophysiologie und der Physiologie
der höheren Nerventätigkeit sowie der Neurokybernetik (->
Reflex-> Signalsystem). [1]
Gegen die vulgärsoziologische Vereinfachung der Abbildtheorie
im Sinne einer mechanischen Reflextheorie, durch die der
ideengeschichtliche Prozeß der Aneignung der objektiven Realität
und seine relative Eigenständigkeit negiert wird, hat
engels noch 1890
in seinem Brief an Conrad
schmidt Stellung genommen (37, 493): «Aber als bestimmtes
Gebiet der Arbeitsteilung hat die Philosophie jeder Epoche ein
bestimmtes Gedankenmaterial zur Voraussetzung, das ihr von ihren
Vorgängern überliefert worden und wovon sie ausgeht. Und daher
kommt es, daß ökonomisch zurückgebliebene Länder in der
Philosophie doch die erste Violine spielen können: Frankreich im
18. Jh. gegenüber England, auf dessen Philosophie die Franzosen
fußten, später Deutschland gegenüber beiden. Aber auch in
Frankreich wie in Deutschland war die Philosophie, wie die
allgemeine Literaturblüte jener Zeit, auch Resultat eines
ökonomischen Aufschwungs ... Die Ökonomie schafft hier nichts a
novo, sie bestimmt aber die Art der
Abändrung und Fortbildung des vorgefundnen Gedankenstoffs, und
auch das meist indirekt, indem es die politischen, juristischen,
moralischen Reflexe sind, die die größte direkte Wirkung auf die
Philosophie üben» (marx/engels
37, 493). [2]
Die marxistische Abbildtheorie integriert vor allem die
Erkenntnisse der Mathematik, der Kybernetik, der
Informationstheorie und der Neurokybernetik usw. Damit ist es
möglich, den Prozeß der Abbildung tiefer und genauer zu
verstehen, das Wesen der Abbilder besser zu begreifen und vor
allem zu erklären, weshalb diese Abbilder keine statischen,
unveränderlichen Gebilde sind, sondern wie und weshalb sie sich
ständig wandeln und die Abbildung der objektiven Realität im
Prozeß ihrer Wandlung immer besser und genauer leisten können.
In dieser Sicht erscheint die Abbildung der objektiven Realität
als Rückkopplungsprozeß (->
Rückkopplung), in dessen Verlauf die Gesamtheit der Bilder der
einzelnen Teile, Seiten, Aspekte der objektiven Realität, d.h.
das innere Modell der Umwelt, durch ständige Konfrontation mit
der Wirklichkeit, die in der gesellschaftlichen Praxis
vorgenommen wird, sich ständig vervollkommnet. Der
Erkenntnisapparat des einzelnen Menschen erscheint in dieser
Sicht als Teilsystem des Gesamterkenntnisapparates der
Gesellschaft, und beide haben den Charakter selbstoptimierender
kybernetischer Systeme. Die marxistische Abbildtheorie
unterscheidet sich von den vormarxistischen materialistischen
Abbildtheorien nicht nur durch die Betonung des Prozeßcharakters
der Abbildung (im Gegensatz zur rein statischen Konfrontation
von Abbild und Urbild), durch eine wesentlich tiefere Einsicht
in die Natur der Bilder (die Abbilder haben semantischen, nicht
etwa im Sinne demokrits
ikonischen Charakter), sondern auch durch eine neue
Auffassung über den Charakter der Abstraktion. Die marxistische
Abbildtheorie ist, als philosophische Lehre, zwar keine
Einzelwissenschaft, sie stützt sich aber auf neue Einsichten der
Einzelwissenschaften bzw. auf neu entstandene Disziplinen
derselben. Informationspsychologie, Neurokybernetik usw. geben
Hinweise, wie Experimente im Bereich der philosophischen
Abbildtheorie durchgeführt .werden können. Die Kybernetik hat
technische Systeme ausgearbeitet, die den Charakter von
technischen Modellen des Vorgangs der Abbildung besitzen.
Schließlich schenkt die marxistische Abbildtheorie den Mitteln,
mit deren Hilfe die Abbilder konstruiert werden, erhöhte
Aufmerksamkeit, d.h. der natürlichen Sprache, der Fach-
und Kunstsprache.
Abbildung ist im Sinne der Informationstheorie eine
Codierung der Signale der Umwelt. Die marxistische Abbildtheorie
berücksichtigt die Gesetzmäßigkeiten dieser neuen
Wissenschaftsdisziplin und beschäftigt sich u. a. auch mit den
verschiedenen Codes, die im Prozeß der Abbildung vom Erkennenden
benützt werden. 2. allgemeine Lehre von der Abbildung von Mengen
W auf bzw. in Mengen W bzw. aus Mengen W.
in oder auf Mengen W. Die abstrakte Abbildtheorie
beachtet weder die Art und Natur der Elemente der abgebildeten
Mengen noch die der abbildenden Mengen. Sie untersucht vielmehr
nur die mathematischen bzw. logischen Relationen zwischen
Abbildern und Urbildern. Der philosophisch interessante
Spezialfall einer Abbildung ist die Klasse derjenigen
Erkenntnistheorien, die davon ausgehen, daß die menschlichen
Erkenntnisse letztlich nichts anderes sind als Abbilder (bzw.
Widerspiegelungen) der objektiven Realität. Nicht jede Form der
Erkenntnistheorie ist eine Abbildtheorie. Dort, wo Erkennen ein
sich Bewußtwerden bzw. Erinnern von Ideen ist (platon)
oder Erkenntniselemente voraussetzt, die vor jeder Erfahrung
gegeben sind (kant), liegt ein völlig anderer Typ von
Erkenntnistheorie vor. Andererseits ist nicht jede Abbildtheorie
eine materialistische oder gar dialektisch-materialistische
Abbildtheorie.
[3] -> Abbild -> Abbildung ->
Erkenntnis -> Erkenntnistheorie.
Editorische
Anmerkungen
Der Text wurde entnommen
aus:
Buhr, Manfred,
Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 1, Berlin 1970, S.32ff
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