Zanon, Nokia und die Perspektiven

Von Robert Schlosser

 

02/08

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Der Film über das Treiben der Leute bei Zanon in Argentinien, den ich gerade gesehen habe, hat mich tief beeindruckt! Das Betrifft sowohl ihre „Arbeiterkontrolle ohne Patron“ als auch – und dies vor allem – die ins Auge gefasste Perspektive. Das Zanon-Kollektiv verlangt nämlich Verstaatlichung der Firma und weigert sich zu alternativen Kollektivbesitzern zu werden! Das unterscheidet Zanon von vielen anderen Betrieben, die von den Belegschaften im Verlauf der großen Krise in Argentinien besetzt und in Selbstverwaltung weiter geführt wurden. Und offensichtlich besteht gerade in dieser Perspektive der Konflikt mit der Regierung, die aus Zanon gern einen „Alternativbetrieb“ machen würde. 

Wie weit von solchen Formen der Praxis und solchen Zielen entfernt ist die Belegschaft bei Nokia in Bochum! Die Differenz in Praxis und Zielen ist ähnlich groß, wie die Differenz zwischen den Ausgangslagen für die Kämpfe. Der Anlass für die Betriebsbesetzungen und Selbstverwaltungsversuche in Argentinien war ein regelrechter Zusammenbruch der Ökonomie des Landes. Wo Kapitalisten ihren Geldbesitz schnappen und fluchtartig das Land verlassen erübrigen sich Verhandlungen über Rücknahme einer Stilllegungsplanung oder die Suche nach einem anderen „Patron“ (Investor). Nokia ist moderner, kapitalistischer Alltag! Argentinien war und Zanon ist Ausnahmezustand!

Bei Nokia kämpfen Lohnabhängige verzweifelt um den Erhalt ihrer beschissenen, fremdbestimmten Arbeitsplätze (z.B. Fließbandarbeit, Nacht- und Schichtarbeit, Überstunden, Wochenendarbeit). Sie wollen, dass alles bleibt, wie es ist. Auf Veränderung drängt das Kapital. Bei Zanon sind die Menschen in Gemeinschaft zu Subjekten geworden, die bereits verändert haben und weiter verändern wollen. Der Unterschied könnte nicht größer sein!

Kann, soll man als Kommunist für die „Nokianer“ Verständnis haben, für dieses Ringen um den Erhalt von Zuständen, die es abzuschaffen gilt? Ja, man kann, auch wenn es mir schwer fällt.

Die Suche nach den Schuldigen, Verantwortlichen für das beschränkte Niveau der Formen wie der Ziele des Kampfes ist jedoch müßig. Auf Gewerkschaft und Betriebsrat sollte jedenfalls nur der zeigen, der auch bereit ist, auf die Lohnabhängigen selbst zu zeigen. Auch die Lohnabhängigen bei Nokia sind mit einem Gehirn ausgestattet, mit dem man sich seine Gedanken machen kann. Niemand wird gezwungen täglich Bildzeitung zu lesen und sich abends den größten Schwachsinn am Fernseher rein zu pfeifen. Es ist heute auch für Lohnabhängige möglich, Bedürfnisse nach anderen Dingen zu entwickeln. Lebewesen, die mit einem Gehirn ausgestattet sind, sind lernfähig! Zu manchem Lernen ist jedoch Wille die Voraussetzung. Den muss man schon aufbringen, aus welchem Motiv auch immer. Solange aus der Belegschaft keine spürbare Kritik an politischen Parteien und Gewerkschaft ertönt, ist jedenfalls eine Kritik „im Namen der Belegschaft“ an den politischen Aktivitäten ziemlich müßig. 

Seit Jahren rollt eine Welle von Pleiten, Betriebsverlagerung und „Restrukturierungsmaßnahmen“ nicht nur über Deutschland. Streichung von Lohnarbeitsplätzen hier, Streichung von Lohnarbeitsplätzen da, das kann man fast täglich in den Nachrichten hören und in Zeitungen lesen. Es trägt systematische Züge. Die Züge der Freiheit des Kapitals (bürgerliche Freiheit heißt vor allem: freier Verkehr von Kapital und Waren), um deren Ausdehnung die Politik so bemüht ist, um nachher heuchlerisch deren Folgen zu bejammern, wie auch die Züge der Grenzen fortschreitender Kapitalverwertung. Weil es System hat, müsste auch systematischer Widerstand im Sinne eines Flächenbrandes her und die ökonomische Vernunft durchbrechen!

Während die „Nokianer“ in aller Munde sind und die Öffentlichkeit sich für sie interessiert, interessiert sich gerade mal wieder keine Sau – auch nicht die Leute bei Nokia -  für das Schicksal der Beschäftigen von Dassow (Europas größtem Hersteller von CDs und DVDs!) in Mecklenburg-Vorpommern. Die suchen wegen Insolvenz gerade einen neuen Investor, aber kein Schwein interessiert sich für sie, was beklagt wird. 'Ach, hätten wir nur die Öffentlichkeit von Nokia!' 

Klassenbewusstsein? Was ist das denn? Solange sich die Lohnabhängigen nicht als Klasse verstehen, sondern als „Nokianer“, „Opelaner“ und weiß der Kuckuck nicht was, gibt es keine Perspektive, die aus existenzieller Unsicherheit und beschissenen Arbeitsbedingungen herausführt. Als „Nokianer“ gibt es keinen Ausweg aus der Misere! Als „Nokianer“ wollen die Lohnabhängigen die Konflikte mit der Konzernleitung lösen, die auch „Nokianer“ ist. „Nokianer“ sind kaum ohne „Patron“ vorstellbar. Sie gehören zusammen, bis dass der „Patron“ sie scheidet und des Verhältnis beendet! Alle Belegschaften sterben auf diese Weise für sich allein! Die ebenso beschränkte, wie gefeierte Solidarität ist nur Begleitmusik und tut den Herrschenden nicht wirklich weh. Sie schwimmen sogar kräftig mit! Die Allgemeinheit der Misere wird standhaft ignoriert. Man könnte ja gezwungen sein umzudenken, zu lernen! Selbstverständlich ist es das Geschäft von Medien, politischen Parteien und teils auch von Gewerkschaftsfunktionären, dafür zu sorgen, das jede Pleite, jede Betriebsverlagerung, jede Streichung von Lohnarbeitsplätzen als Einzelfall betrachtet („Missmanagement“, etc.) und behandelt wird. Sie tun beständig so, als könne es für jeden einzelnen Fall im Kapitalismus eine „sozial verträgliche“ Lösung geben. Sie verbreiten unausgesetzt Märchen, die beständig durch die Wirklichkeit Lügen gestraft werden. Für sie gibt es keine Alternative zum Kapitalismus, darum müssen sie ihn auch da verklären, wo er offensichtlich versagt und seine Versprechungen nicht halten kann, ob aus Gründen der unverzichtbaren Freiheit des Einzelkapitals seinen maximalen Profit zu erzielen, oder aus Gründen des Versagens der Kapitalverwertung! Ich betone „offensichtlich“. Weil das nämlich so offensichtlich ist, habe ich nur schwer Verständnis für Leute, die all ihre Hoffnung eben auf politische Parteien und Verantwortliche in den Gewerkschaften (Sozialreformer aller Art) setzen.

Aber schließlich können all diese Märchenonkel aus Politik und Gewerkschaften immer wieder selbstzufrieden in ihre Sessel zurücksinken, wenn sie erfolgreich dazu beigetragen haben, dass keine größere soziale Bewegung mit bleibenden Schäden für das System entsteht. 

Zanon ist sicher kein Modell, dass die Lohnabhängigen bei Nokia einfach nach machen könnten. Es gibt sicherlich viele konkrete Gründe, warum das nicht ohne weiteres machbar ist. (Eine Ziegelfabrik ist zum Beispiel weit weniger abhängig von international arbeitsteiliger Zulieferung, als ein High-Tech-Unternehmen wie Nokia in Bochum, usw.)

Zanon gibt aber eine Richtung vor, über die diskutiert werden müsste, weil sie eine Perspektive bietet, die über den Erhalt der Lohnarbeitsplätze in Bochum weit hinausgeht. Der Erhalt dieser Arbeitsplätze in Bochum ist nämlich so oder so keine Perspektive zu einer gesicherten Existenz! Die Perspektive einer solche Existenzsicherheit lässt sich nur erschließen durch die ganze Klasse der Lohnabhängigen und mit anderen Zielen. Es gibt jedenfalls überhaupt keine guten Gründe, Zanon nicht zu diskutieren, weil es konkret nichts brächte. Die soziale Partnerschaft ist lange am Ende (Hartz IV grüßt schnell!) und es gilt neue Wege sozialer Bewegung zu eröffnen. 

II.

Und wie ist es um diejenigen bestellt, die den Kapitalismus überwinden wollen, von sozialer Emanzipation träumen? 

Es klafft ebenfalls eine riesige Lücke zwischen den Widerstandsaktionen von Lohnabhängigen, ihren Zielen und dem, was die schwachen antikapitalistischen Kräfte in diesem Land sich so alles wünschen. Der Fall Nokia macht das erneut deutlich. Während die einen auf eine Lösung ihrer sozialen Probleme  im Kapitalismus hoffen, verfolgen die anderen mehr oder weniger diffuse sozialistische/kommunistische Ziele, sehnen sich entweder nach einer Verbindung mit den sozialen Kämpfen von Lohnabhängigen oder Verharren in bloßer Kritik des Denkens und der Praxis der Lohnabhängigen.

Sozialistische/kommunistische Zielvorstellungen bleiben solange diffus, solange sie keine konkrete, vorstellbare Perspektive der Vergesellschaftung der Produktionsmittel entwickeln und überzeugend darlegen können. (Menschen  versuchen nur das Neue zu realisieren, von dem sie eine Vorstellung entwickelt haben!) Heute sind diese Zielvorstellungen meist in einem schlechten Sinne utopisch, bleiben meist abstrakt („anders leben und arbeiten“, etc.) und geben oft keine oder falsche (praktikable) Schritte auf dem Weg zum Ziel an. Das, was ist, und das, was sein soll steht unvermittelt neben einander. 

Die undifferenzierte Abwendung vom „Traditionsmarxismus“, von ganz bestimmten theoretischen Positionen, treibt die üppigsten Blüten hervor. Dabei hat sich die radikale Linke in ihrer Verarbeitung des Realsozialismus selbst Denkverbote auferlegt, die jede vorstellbare Perspektive ausschließen.

Das Problem des Realsozialismus bestand nicht in dem öffentlichen, staatlichen Eigentum an Produktionsmitteln, nicht in der Planung, sondern darin, dass eine Partei sich anmaßte, den Staat, wie die ihm gehörenden Betriebe, diktatorisch zu beherrschen und zu verwalten, den Menschen einen Plan auf zu herrschen. Die öffentliche Gewalt verlor nicht ihren politischen Charakter (Marx) und daher konnte das „öffentliche Eigentum“ auch nicht wirklich gesellschaftliches Eigentum werden. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel bleibt meiner Meinung nach  jedoch ein notwendiges, unverzichtbares Mittel auf dem Wege zur realen Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Greift man diesen Gedanken auf, dann hört die Vergesellschaftung auf, eine abstrakte, unvorstellbare Geschichte zu sein. Verstaatlichung bleibt nur dann ohne sozialemanzipatorische Perspektive, wenn sie nicht einhergeht mit der Entwicklung von Selbstverwaltung. Aber ohne Verstaatlichung bleibt auch die Selbstverwaltung perspektivlos und macht die genossenschaftlich organisierte Produktion zu einer bloßen Variante der „Privatproduktion“, der „Marktwirtschaft“. Verstaatlichung mit sozialemanzipatorischer Perspektive bedeutet öffentliches, gesellschaftliches Eigentum, dessen Nutzung frei assoziierten Kollektiven übertragen wird. Verstaatlichung heißt perspektivisch auch, dass sich die Genossenschaften vernetzen, um die gesellschaftliche Produktion zu planen, den Markt zurück zu drängen und zu überwinden. (Überwindung der Warenproduktion) 

Heute beherrscht der Neoliberlismus das Feld. Danach gilt jede staatliche Einrichtung perse als fragwürdig (ähnlich wie beim Anarchismus) und möglichst alle gesellschaftliche Aktivitäten sollen privatisiert werden. Das Loblied auf das Private ist zugleich die Kritik an jeder gesellschaftlichen Einrichtung. (Thatcher: Es gibt keine Gesellschaft, nur die Individuen und ihre Familien).

Manche sich radikal gebärdenden antikapitalistischen Kräfte haben gerade deshalb dem nichts entgegen zu setzen, weil auch bei ihnen jede Staatlichkeit in Frage gestellt ist und ihre Nutzung zur Entwicklung wirklicher Vergesellschaftung ausgeschlossen wird. Wer aber heute Abschaffung des Privateigentums durch Vergesellschaftung auch nur in Ansätzen konkret und vorstellbar denken will, der kann dies nur in staatlichen Formen! Andere als staatliche Formen großräumiger Vergesellschaftung existieren defacto nicht und können nur in der gesellschaftlichen Praxis von Aneignung und Veränderung gefunden werden. Hierbei handelt es sich um einen langwierigen Prozess, der nicht ohne Fehlversuche abgehen kann.(Der bürgerliche Staat ist zwar seinem Wesen nach „ideeller Gesamtkapitalist“, er besteht aber nicht nur aus Militär, Polizei und Gefängnissen, worauf ihn manch Neoliberale all zu gerne reduzieren würden. Noch sind auch Schulen, Kliniken etc. staatliche Einrichtungen, die in ihrer konkreten Ausgestaltung soziale Kompromisse zwischen Lohnarbeit und Kapital verkörpern. Diese Einrichtungen befriedigen Bedürfnisse,  die letztlich nur in der Form eben solcher gesellschaftlichen Einrichtungen in angemessener Weise für die Allgemeinheit befriedigt werden können. Das Kapital strebt dahin, die Befriedigung jedes Bedürfnisses zur Privatsache zu erklären, was für die Masse der Lohnabhängigen nichts anderes bedeutet als Verzicht bis hin zu sozialem Elend. 

Aktuell kann man nur in der konkreten Auseinandersetzung mit dem Neoliberlismus praktikable sozialistische und kommunistische Zielvorstellungen, als Vergesellschaftungsvorstellungen  entwickeln. Das beginnt mit dem Kampf gegen den Privatisierungswahn bestehender staatlicher, gesellschaftlicher Versorgungseinrichtungen und muss enden bei der Forderung nach Verstaatlichung der Produktionsmittel bei selbstverwalteter Nutzung. Wer nicht gewillt ist, die bestehenden staatlichen Einrichtungen als gesellschaftliche Einrichtungen zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse zu verteidigen, der wird auch keine darüber hinausgehende Vergesellschaftungsperspektive entwickeln können. Man kann diese Einrichtungen nur verteidigen, indem man zugleich für ihre Umwandlung im Sinne der Selbstverwaltung eintritt. 

Wirkliche Vergesellschaftung entsteht nicht neben Kapital und Staat, sondern durch Enteignung und Aneignung! Aneignung der Produktions- und Reproduktionsmittel (Fabriken, Schulen, Krankenhäuser etc.) verlangt politische Macht. Solange die Masse der Lohnabhängigen sich nicht für ihre soziale Emanzipation organisiert hat, kann sie die politische Macht nicht erobern, um auf gesellschaftlicher Stufenleiter den Ent- und Aneignungprozess durchzusetzen. Und solange das so ist, müssen die kämpfenden Lohnabhängigen Forderungen an den bürgerlichen Staat stellen, damit elementaren Interessen wenigstens partiell Rechnung getragen wird. Sie kommen gar nicht darum herum, diese Forderungen an den Staat zu stellen, wenn sie denn für bestimmte Interessen kämpfen. Wenn sie nämlich kämpfen, verletzen sie auf die eine oder andere Weise die bestehende Rechtsordnung und ihr Kampf wird durch Repression bedroht. Sie sind gezwungen, wenigstens die Anerkennung und Legitimierung ihres Kampfes durch den Staat zu verlangen (etwa eines „wilden“ Streiks, einer Betriebsbesetzung, der Blockade einer Autobahn oder was auch immer)!

Jede Forderung an den bestehenden bürgerlichen Staat abzulehnen, das halte ich für eine wirklichkeitsfremde Position, die nur solange durchgehalten werden kann, wie eben kaum oder gar nicht gekämpft wird.

Forderungen an den bürgerlichen Staat müssen aber nicht nur gestellt werden, um den faktischen Rechtsbruch von kämpfenden Lohnabhängigen gesellschaftlich zu legitimieren, Repression abzuwenden, sie müssen auch gestellt werden, wenn man bereits auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft für Ziele kämpfen will, die mit dem Bewegungsgesetz der Verwertung von Wert grundsätzlich nicht kompatibel sind und als gesicherter Bestand sozialen Lebens nur jenseits kapitalistischer Produktionsverhältnisse zu realisieren sind. Dazu gehört etwa die materielle Grundsicherung aller Menschen (mit bedingungslosem Grundeinkommen hat das nichts zu tun!). Für eine Änderung der Produktionsverhältnisse werden Menschen nur in dem Maße kämpfen, wie die bestehende Ordnung bestimmten Grundbedürfnissen nicht gerecht wird und werden kann. 

Anders, als es in manch linksradikaler Publikation erscheint, ist die Veränderung der Produktionsverhältnisse nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Sie dient einzig dazu menschliche Bedürfnisse (teils elementare Grundbedürnisse, teils durch die gesellschaftliche Entwicklung geschaffene Bedürfnisse) besser befriedigen zu können, etwa dem Bedürfnis nach existenzieller Sicherheit, dem Bedürfnis nach vielseitigem Genuss, dem Bedürfnis nach Muße etc. Wo diese Bedürfnisse nicht oder nur sehr eingeschränkt befriedigt werden, entsteht das Verlangen nach Änderung, was zu der Erkenntnis führen kann, dass die bestehenden Produktionsverhältnisse die entscheidende Schranke für die Befriedigung dieser Bedürfnisse sind und daher verändert werden müssen. Das Verlangen nach Befriedigung dieser Bedürfnisse entsteht aber auf dem Boden der bestehenden Gesellschaft, unabhängig davon, ob jemand die Produktionsverhältnisse als Barriere erkennt oder nicht.  

III.

Das Bedürfnis nach existenzieller Sicherheit war und ist beispielsweise bei den Beschäftigten von Nokia vorhanden. Sie begehren auf und verlangen den Erhalt ihrer sehr bescheidenen – um nicht zu sagen beschissenen - Existenz, weil der Konzern ihnen aus ökonomischem Interesse (Profit) diese Existenz nehmen will. Von einer Infragestellung kapitalistischer Produktionsverhältnisse ist bei ihnen (noch?) nichts zu spüren. Sie haben ihr Berufsleben lang erfahren, dass das ökonomische Interesse ihnen die Befriedigung ihrer eingeschränkten Bedürfnisse auf eingeschränkte Weise erlaubt. Jetzt stellt das ökonomische Interesse des Kapitals diese bescheidene Existenz in Frage. Was sie tun, ist nahe liegend und ergibt sich sowohl aus der Beschränktheit ihrer Bedürfnisse, ihrer Erfahrung, wie dem Zustand überwiegend erfolgreicher Kapitalverwertung in Deutschland. Sie verlangen den Erhalt des Status quo, indem sie auf die ökonomische Effizienz ihrer bisherigen Arbeit, wie ihres ganzen Verhaltens pochen. (Das wird Nokia wenig interessieren, hat man sich doch errechnet, dass anderen Orts ökonomisch effizienter produziert werden kann!) Dass die Ökonomie bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegt, dass das Streben nach Maximalprofit nur durch Klassenkampf unter ganz bestimmten Bedingungen überhaupt in Schranken gehalten werden kann, davon wissen sie nichts. Zumindest hat es sie nicht weiter interessiert, solange sie von ihrer beschissenen Lohnarbeit einigermaßen Leben, d.h. ihre beschränkten Bedürfnisse befriedigen konnten.

Das grundlegende Verlangen nach existenzieller Sicherheit ist ebenso berechtigt, wie unterstützenswert. Es findet aber seinen Ausdruck in konkreten Forderungen, die eben die Beschränktheit der Bedürfnisse ausdrücken und die Selbstverständlichkeit der Existenz des Kapitalverhältnisses. Die Menschen werden so oder so erleben, dass beides zusammen nicht zu haben ist, existenzielle Sicherheit und kapitalistische Produktionsverhältnisse. 

Der Kampf um den Erhalt jedes Lohnarbeitsplatzes ist eine Farce und bietet keinerlei Perspektive, um das Grundbedürfnis nach existenzieller Sicherheit befriedigen zu können. Wer immer ihn propagiert und organisiert, verarscht die Lohnabhängigen. Hätte er Aussicht auf Erfolg, dann würde das bedeuten, dass das Kapital nicht gesetzmäßig Lohnarbeitslosigkeit produziert, man sich schon im Kapitalismus über die Gesetzmäßigkeiten der Verwertung von Wert hinwegsetzen könnte. Selbst Bismarck war klüger, und gestand der sozialistischen Arbeiterbewegung die Arbeitslosenversicherung zu. Die Arbeitslosenversicherung wurde durch den „ideellen Gesamtkapitalisten“ zugestanden, ist also eine durch den bürgerlichen Staat geschaffene Einrichtung. Sie beruht auf der durch sozialistische Bedrohung erzeugten staatlichen Anerkennung, dass Lohnarbeitslosigkeit keine „Privatsache“ ist, sondern gesellschaftlich erzeugt wird.

Die Arbeitslosenversicherung im Kapitalismus kann nur die gröbste Not lindern. Sie bietet ein gewisses Maß an Schutz vor rascher und rigoroser Verelendung, kommt also dem Bedürfnis nach existenzieller Sicherheit der Lohnabhängigen entgegen. Sie ist kein Produkt ökonomischer Notwendigkeit, sondern des Klassenkampfes! Sie wurde zugestanden, um dem in der Arbeiterbewegung erstarkenden Sozialismus das Wasser abzugraben. Die ökonomische Notwendigkeit des Kapitals stellt Einrichtungen wie die bestehende Arbeitslosenversicherung viel mehr tendenziell in Frage, nämlich in dem Maße, wie die Kapitalverwertung sich krisenhaft entwickelt. In dem Maße, in dem das geschieht, werden die Leistungen der Arbeitslosenversicherung zusammengestrichen, wo nicht erneuter Klassenkampf und Bedrohung durch sozialistische/kommunistische Kräfte das verhindert. 

Arbeitslosenversicherung, gesetzliche Unfallversicherung, Krankenversicherung und Rentenversicherung sind Leistungen des ideellen Gesamtkapitalisten (bestritten teils aus Beiträgen des Kapitals allein, teils aus Beiträgen von Kapitalisten und LohnarbeiterInnen), die die für Lohnabhängige bedrohlichen Folgen der kapitalistischen Privatproduktion in Grenzen halten. Sie abzulehnen oder auch nur preiszugeben, etwa weil sie tatsächlich erfolgreich dazu beitrugen dem Sozialismus/Kommunismus unter den Lohnabhängig das Wasser abzugraben, das wäre nicht nur töricht, sondern käme einem Verzicht gleich, sich auf den Weg zur sozialen Emanzipation zu machen. Alle diese Einrichtungen weisen darauf hin, das die sozialen Probleme der Lohnabhängigkeit nur durch gesellschaftliche Maßnahmen zu lösen sind, jenseits der Privatproduktion, jenseits des durch Angebot und Nachfrage bewegten Warentausches. Sie lehren durch Erfahrung, dass die kapitalistische Privatproduktion nicht soziales Elend abschafft sondern produziert und dass dieses Elend nur durch gesellschaftliche Maßnahmen und Organisation gelindert und letztlich abgeschafft werden kann und muss.

Manchem jetzt noch bei Nokia beschäftigtem droht jetzt Hartz IV, also der Absturz, ja Ausschluss aus der bürgerlichen Gesellschaft! Wenn daraus gelernt würde, dass mensch zukünftig nicht widerstandlos zuschaut, wenn die neoliberalen Schmutzfinken sich an der Arbeitslosenversicherung zu schaffen machen, dann wäre schon viel gewonnen!  

IV.

Was hier über die Linderung der Probleme gesagt ist, nämlich, dass dem systematischen sozialen „Versagen“ des Kapitals nur mit bewussten gesellschaftlichen Maßnahmen jenseits der Privatproduktion zu begegnen ist, das gilt auch und mehr noch für deren Lösung. Die Lösung kann nur in der Überwindung kapitalistischer Privatproduktion liegen, durch gesellschaftliche Maßnahmen und Einrichtungen.

Herr Rüttgers und andere Politiker haben – wie üblich - versprochen, dass sie alles tun werden, was in ihrer Macht liegt, um  die Lohnarbeitslosigkeit der „Nokianer“ zur verhindern. Das werden sie – wie üblich – nicht tun. Ihr Wollen wird sie davon abhalten! Sie werden nämlich nichts tun, was die kapitalistischen Produktionsverhältnisse in Frage stellen könnte. Sie werden sogar alles aktiv verhindern wollen, was über die Privatproduktion hinausginge! 

Was läge z. B.  in ihrer Macht, um das Problem „Nokia“ zu lösen? Dazu folgendes Szanario in Anlehnung an Zanon: 

Nokia will den Laden im Juni dicht machen. Gut so! In Absprache mit der Belegschaft entwickelt die Landesregierung folgenden Plan:

  1. Nach Rückzug von Nokia wird die Firma mit allem Inventar Eigentum des Landes NRW. Entschädigungslos!
  2. In der Zeit bis dahin erhält die Belegschaft die Möglichkeit eine Selbstverwaltung zu entwickeln und zu erproben. (Erfahrungsaustausch mit Zanon) Das Geld dafür stellt Nokia bereit. (Förderung durch Fort- und Weiterbildung nennt man sowas.)
  3. In der Zeit bis dahin erhält die Belegschaft mit Unterstützung durch Land und andere Einrichtungen die Möglichkeit eine alternative Produktion zu entwickeln. Weg von den Handys, falls eine solche Produktion nicht weiter geführt werden kann.
  4. Nach dem Rückzug von Nokia bleibt das Unternehmen zwar Landeseigentum, aber die Produktion wird in Selbstverwaltung der Belegschaft organisiert.
  5. Das Land übernimmt eine Bestandsgarantie für die nächsten Jahre, auch bei roten Zahlen! Zu diesem Zweck wird ein „Solidaritätsbeitrag-Aufbau West“ von allen privaten Unternehmen im Lande NRW erhoben!
  6. Die Landesregierung erklärt, dass sie künftig mit allen Unternehmen so verfahren wird, die „ihren sozialen Verpflichtungen nicht nachkommen“. Sie erklärt ferner das künftig Schluss ist mit allen Privatisierungsmaßnamen, und dass die bereits vollzogenen rückgängig gemacht werden.

Ich denke dies alles läge in der Macht von Politik und Gewerkschaften. Man müsste das alles nur wollen und als erstrebenswert ansehen. Das gilt natürlich vor allem für die Belegschaft. 

Das wären die Umrisse einer konkreten Utopie zur Lösung des konkreten Problems „Nokia“ mit weitreichender gesellschaftlicher Bedeutung. Wer sich allerdings vor vornherein sträubt – und hier meine ich zunächst einmal nur die Belegschaft – sich auf das Wagnis eines solchen Abenteuers ein zulassen, die damit verbundene Unsicherheit scheut, lieber auf die „Sicherheit“ von Lohnarbeit hofft und darauf pocht, dem ist schlicht gesagt nicht zu helfen. 

Selbstverständlich ist das mit Herrn Rüttgers und KollegInnen nicht ernst gemeint. Es geht in der Tat nur darum, ob die Belegschaft sich für eine solche Vorstellung erwärmen könnte, ob sie bereit und Willens ist, sich auf ein Wagnis einzulassen, dass den Weg zu sozialer Emanzipation eröffnet, oder ob sie sich weiter auf Gedeih und Verderb der Lohnarbeit ausliefern will. Die existenzielle Verunsicherung durch das Kapital birgt wie jede Krise eben auch die Chance der Veränderung in sich! Existenzielle Sicherheit können sich die Lohnabhängigen nur selbst erkämpfen und schaffen. In der Agenda des Kapitals ist sie nicht vorgesehen!

Editorische Anmerkungen

Der Autor verfasste den Artikel am 8.2.08 und stellte ihn uns dann zur Verfügung.