Geschichte der Armenbekämpfung
telegraph Sonderheft 116-117:
"Aktion Arbeitsscheu"

von Peter Nowak

02/09

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In zwei Verhaftungswellen wurden im April und Juni 1938 über zehntausend Menschen vom NS-Regime in Konzentrationslager deportiert, die als so genannte Arbeitsscheue und Asoziale stigmatisiert worden waren. Das diese Verfolgungsaktion, die von den NS-Dienststellen unter den bürokratischen Titel „Arbeitscheu Reich“  durchgeführt worden war,  zum 70ten Jubiläum nicht ganz dem Vergessen anheim fiel, ist das Verdient des Arbeitskreises  "Marginalisierte - gestern und heute!“. Die Aktivisten verschiedener sozialer Bewegungen  haben im letzten Jahr mit einer Reihe von Veranstaltungen und Kundgebungen an die bisher weitgehend vergessene Opfergruppe des NS-Regimes  erinnern.

In einem Sonderheft der  „ostdeutschen Zeitschrift telegraph“ hat der Arbeitskreis jetzt eine Reihe von Texten zur Verfolgung und Kriminalisierung der Armen zusammengefasst. Die setzte schon mit dem Frühkapitalismus an und endete nicht 1945. Auch von den Organisationen der NS-Verfolgten wurden die als   Asozial stigmatisierten in der Regel gemieden. „Heute erinnert die VVN-BdA an Menschen, die vom Naziregime verfolgt wurden und dessen Überlebende vor sechzig Jahren von der   größten Organisation der Verfolgten kaum Solidarität erfuhren“,  schreibt der Landesvorsitzende der Berliner VVN-Bund der Antifaschisten Hans Coppi.  Eine solche Selbstkritik steht von den verantwortlichen Behörden noch aus, die den so genannten Asozialen die Entschädigung verweigerten. Auf eine kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten der Linken Ulla Jelpke gab die Bundesregierung bekannt, dass von den weit über zehntausend Menschen dieser Opfergruppe gerade einmal 205 Personen eine Entschädigung bekommen haben, die exakt 2554,46 Euro betragen hat. Auf Jelpkes Frage, ob die Bundesregierung nicht wenigstens ein symbolisches Gedenken für diese Opfergruppe plant, kam die unmissverständliche Antwort, dass dazu kein Bedarf bestehe.  Solange eine größere Lobby fehlt, die die Forderung nach Entschädigung öffentlich artikuliert, wird sich an dieser Haltung wenig ändern.  

"Juden und Sozialdemokraten wird nichts bewilligt"


In dem Heft werden neben diesen wenig bekannten Fakten auch die Stätten benannt, die in Berlin für Armutshilfe und -verfolgung standen. Für Erstere steht der wenig bekannte Berliner Asylverein, der 1868 in der Weddinger Wiesenstrasse 55-59 eröffnet worden war. 1907 wurde er um ein Asyl für Frauen erweitert. Oberstes Ziel war der Schutz der Asylbedürftigen auch vor der Staatsgewalt. Darum konnten sie auch anonym bleiben. Aber es klingt einem nicht unbekannt, wenn der Journalist Klaus Trappmann in seiner Geschichte dieses Vereins berichtet, wie sich schon bald die wohlhabenden Nachbarn gegen den Asylverein wehrten und dabei von rechten Kreisen unterstützt wurden. "Juden und Sozialdemokraten wird nichts bewilligt", lautete eine Reaktion auf den Spendenaufruf des Asylvereins, in dessen Vorstand auch SPD-Politiker wie Paul Singer mitarbeiteten.

Für die Armutsverfolgung in Berlin stand das Arbeitshaus an der Rummelsburg, das im vorigen Jahr durch die Aktivitäten des "Arbeitskreis Marginalisierte" breiter bekannt gemacht wurde. Die 1877 eröffnete Einrichtung war das größte Arbeitshaus in Deutschland, wie der Politologe Thomas Irmer in seinem Beitrag betont. Er setzt sich gemeinsam mit den AktivistInnen des Arbeitskreises dafür ein, dass es als Gedenkort für die Verfolgung der Armen und der als asozial Stigmatisierten erhalten bleibt. Doch mittlerweile ist die Gegend an der Rummelsburg zum begehrten Objekt für komfortables Wohnen am Wasser geworden. Droht hiermit abermals die Entsorgung eines Erinnerungsortes, wie Lothar Eberhardt in seinem Beitrag befürchtet? 

Mit dem Aufruf zur Schaffung eines europäischen Ortes zum Erinnern und Nachdenken  unter dem Motto „Kein Mensch ist asozial“,  der in dem Band abgedruckt ist, hat der Arbeitskreis Marginalisierte gestern und heute!“  den  Anstoß für einen anderen Umgang mit dem Ort gegeben.

Das Gebäude wurde auch in der frühen DDR noch als Arbeitshaus benutzt und   „asoziales Verhalten“ galt noch 1968    im Strafgesetzbuch verankert, wie der Rechtsanwalt    Sven Korzillus in seinem kenntnisreichen    Artikel darlegt, wo  er nicht   in die Falle der Totalitarismustheorie a la Hubertus  Knabe tappt. Er bezeichnet diese DDR-Politik als „Variante einer säkularen, durch die protestantische Arbeitsethik getragene repressive Sozialstaatlichkeit“, die mit der heutigen Gesellschaft verglichen werden kann. Den unterschiedlichen Aspekten des aktuellen repressiven Sozialstaatsabbau widmen sich die Autoren Harald Rein, Volker Eick und Anne Allex in ihren Beiträgen. Diesem Heft ist in einer Zeit, wo Politiker Erwerbslosen empfehlen Ratten zu jagen und selbst in den Kirchen Sitzplätze nur noch für Steuerzahler in die Debatte geworfen werden, große Verbreitung zu wünschen. Denn  auch ohne Arbeitshaus ist es noch immer politische Praxis nicht  die Armut sondern die Armen zu bekämpfen.

telegraph Sonderheft 116-117: "Aktion Arbeitsscheu".

Das Heft kostet 6 Euro zzgl. Versand und ist zu erwerben beim Arbeitskreis "Marginalisierte - gestern und heute", c/o A. Allex, Tel: 030-24 72 71 28,
oder über: http://www.ostblog.de