Immer wieder taucht die Frage auf,
was denn damit gemeint sei, wenn von Krise die Rede ist. Was
genau gerät da eigentlich in die Krise? Und welchen Charakter
hat diese Krise? Wie verhält sie sich zu Branchenkrisen und
konjunkturellen Krisen? Lässt sie sich mit der Theorie der
Langen Wellen von Kondratjew erklären oder als Krise der
Hegemonie herrschender Akteure, also der Vorherrschaft bislang
dominanter Institutionen, deuten? Sollten wir es gar mit einer
System- oder darüber hinaus mit einer Menschheitskrise zu tun
haben?
Im Unterschied zum Platzen der New
Economy – Blase ist auffällig, dass dieser Kriseneinbruch nicht
nur eine Branche, sondern nahezu alle Branchen erfasst. Dass die
Krise zunächst als Immobilien- und Spekulationskrise aufgetreten
ist, sollte nicht dazu verleiten, in den Finanzmarktoperationen
die wahren Ursachen der Krise zu sehen. Denn wo und wie eine
Krise erscheint, muss nicht zwangsläufig darauf hindeuten, wo
sie entstanden ist und welchen Charakter sie hat. Bereits 1857
bemerkte Marx solche Kurzschlüsse in der zeitgenössischen
Debatte und formulierte dazu in einem Leitartikel im New York
Daily Tribune derart treffend, dass es als Kommentar zur
aktuellen Diskussion gelesen werden könnte:
„Wenn Spekulation gegen Ende einer
bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des
Zusammenbruchs (crash) auftritt, sollte man nicht vergessen,
daß die Spekulation selbst in den vorausgehenden Phasen der
Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und
eine Erscheinung (accident) und nicht den letzten Grund und
das Wesen (the final cause and the substance) darstellt. Die
politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen
(spasms) von Industrie und Handel durch Spekulation zu
erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von
Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller
Krankheiten ansehen.”
Der jetzige Kriseneinbruch setzt
sich in seinem Umfang von dem, was wir aus den letzten
Jahrezehnten gewohnt sind, deutlich ab. Nicht nur, weil alle
Branchen betroffen sind, sondern auch darin, dass im Unterschied
zur Asien-, Mexiko- oder Argentinienkrise sich die Krise nicht
nur auf einen Staat oder eine Weltregion beschränkt. Selbst die
BRIC-Staaten, lange Zeit als zukünftiger Wachstumsmotor der
Weltwirtschaft gehandelt, sind vom Konjunktureinbruch betroffen.
Auch China, das in den letzten Jahren mit zweistelligen
Wachstumsraten aufwarten konnte, hat diesen Glanz mittlerweile
weitestgehend verloren.
Es handelt sich also um einen
weltweiten Krisenprozess und es liegt die Frage nahe, ob es sich
hier vielleicht um das Ende einer sogenannten „Langen Welle“
handeln könnte. Gemäß der Theorie der Langen Wellen wird die
kapitalistische Wirtschaft etwa alle 50 Jahre von stetig
wiederkehrenden großkonjunkturellen Zyklen erfasst. Es könnte
hier argumentiert werden, dass auf den letzten Zyklus nach dem
Kriseneinbruch ein weiterer folgen würde.
Auf den ersten Blick entbehrt diese
ـberlegung durchaus nicht
einer gewissen Plausibilität. Wenn es der Kapitalismus bislang
immer wieder geschafft hat, hinter jeden großen Krisenprozess
einen Neustart zu setzen – warum sollte es dieses Mal nicht
funktionieren? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass es
so einfach nicht ist. Zunächst deshalb, weil diesem Gedanken
eine falsche Geschichtsphilosophie zugrunde liegt. Nur, weil
sich die Kapitalverwertung bislang nach jeder Krise erholen
konnte, heißt das nicht automatisch, das ihm das auch in diesem
Fall gelingen wird.
Damit der Kapitalismus ordentlich
vor sich hin prosperieren kann, müssen eine Reihe von
Voraussetzungen erfüllt sein. So geht es bei der
Kapitalverwertung nicht einfach nur darum, nützliche
Gebrauchsgegenstände herzustellen, um das Leben der Menschen
angenehmer zu gestalten. Es geht vielmehr um die Akkumulation
von Kapital - und Kapital ist nichts weiter als eine Anhäufung
verausgabter Arbeitskraft. Nun ist der Kapitalismus bereits seit
Mitte der 70er Jahre mit der Situation konfrontiert ist, dass
der ihm eigentümliche Rationalisierungswetbewerb technische und
organisatorische Veränderungen im Produktionsprozess
hervorgebracht hat, die in einem so hohen Maße Arbeitskraft
durch Maschinerie ersetzen konnten, dass immer mehr Arbeit
überflüssig wurde.
Seitdem warten nun die ExpertInnen
gespannt darauf, welche Technologie wohl den nächsten
prosperierenden Zyklus, die nächste Welle kapitalistischer
Akkumulation einleiten und tragen könnte. Die New Economy war
lange Zeit ein heißer Tipp, doch seit die 2000/2001 eingebrochen
ist, ist das keine ernsthaft diskutierte Alternative mehr. Und
dass das „finanzmarktgetriebene Akkumlationsregime“ auf Sand
gebaut war, haben spätestens die Ereignisse seit dem Spätsommer
2008 gezeigt. Die Vermehrung von Finanztiteln an den
Finanzmärkten ist nun mal keine Kapitalverwertung. Diese setzt
nämlich immer die Verausgabung von Arbeit voraus, um Wert und
Mehrwert zu produzieren. Nachdem die Finanzblase geplatzt ist,
stellt sich also nach wie vor die alte Frage: wo soll er
herkommen, der neue Aufschwung? Seit dreißig Jahren schon wird
das Wirtschaftswachstum mittlerweile simuliert: durch staatliche
Verschuldung, ungedeckte Geldschöpfung und Finanzmarktblasen.
Und es sieht nicht so aus, als würde sich etwas daran ändern.
Ganz im Gegenteil: an den Finanzmärkten kriselt es unentwegt und
darüberhinaus hat die Krise längst die Realwirtschaft erreicht.
Auch staatliche Konjunktur- und Rettungsprogramme werden hier
keine dauerhafte Lösung sein können.
Wenn wir es also mit mehr zu tun
haben als mit einem vorübergehenden Kriseneinbruch – lässt sich
das Geschehen dann als Hegemonieverschiebung sinnvoll
beschreiben? Oft zu lesen ist etwa von einer relativen Abnahme
der Macht der USA, in deren Folge aus dem klassischen
Imperialismus ein Empire geworden sei. So richtig diese
Beobachtung sein mag, so oberflächlich bleibt sie auch. Denn es
ist ja keineswegs ausgemacht, das dieser relative
Hegemonieverlust die Ursache der zu beobachtenden Prozesse ist –
und nicht vielleicht ihre Folge. Das wird deutlicher, wenn wir
uns vor Augen führen, das auch in anderen gesellschaftlichen
Bereichen Veränderungen ausgemacht werden. Jede Form
gesellschaftlicher Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit scheint
verloren gegangen zu sein, selbst Unternehmen könnten nicht mehr
langfristig planen und sind von stetig undurchschaubarer
werdenden Marktlagen abhängig und die herrschenden Institutionen
verlieren mehr und mehr die Fähigkeit zur Integration. Doch auch
diese Feststellung bleibt auf einer sehr oberflächlichen Ebene.
Denn woher rühren nun diese allumfassenden
Desintegrationstendenzen? Am Ende gar aus einer Systemkrise?
Tatsächlich sieht es sehr danach
aus. Wenn es stimmt was Karl Marx sagte und „die Warenform des
Arbeitsprodukts oder die Wertform der Ware die ökonomische
Zellenform“ der kapitalistischen Gesellschaft darstellt – müsste
dann nicht ihre Krise auch weite Teile der kapitalistischen
Institutionen, Lebenspraxen und Ideologien umfassen? Sollte es
dem Kapitalismus tatsächlich seit dem Ende des Fordismus nicht
mehr gelingen, im ausreichenden Maße Arbeit einzusaugen, dann
hätte dies eine Krise der Wertvergesellschaftung zur Folge. Die
gesellschaftliche Synthesis über Arbeit, Wert und Kapital würde
sich als immer weniger in der Lage erweisen, einen kohärenten
sozialen Gesamtzusammenhang herzustellen. Nun ist aber die
Gesellschaft, in der „das Verhältnis der Menschen zueinander als
Warenbesitzer das herrschende gesellschaftliche Verhältnis ist“,
die Voraussetzung menschlicher Vorstellungen von Gleichheit und
Freiheit, die Basis der abstrakten Vergesellschaftung über Recht
und Staat und überhaupt die Grundlage für gesellschaftliche
Vorstellungen und Ideologien.
Eine Systemkrise in diesem Sinn
ließe sich daher durchaus als „fundamentale Krise“ beschreiben:
nicht nur im Bereich der Ökonomie, sondern weit darüber hinaus
wären gesellschaftliche Institutionen und Vorstellungen von ihr
betroffen. Den Ausweg aus dieser Krise würde dann auch nicht
eine sorgfältig geplante Form von Politik darstellen, mit der
sich das Ganze dann ein wenig effizienter und ein wenig sozialer
organisieren ließe. Stattdessen steht die Menschheit vor der
Wahl zwischen Emanzipation und Barbarei.
In diesem Sinne birgt die
Systemkrise auch durchaus die Gefahr, zu
einer noch tief greifenderen
Menschheitskrise zu mutieren. Denn nicht nur, dass der
Kapitalismus die natürlichen Lebensgrundlagen zu unterhöhlen
droht und aufgrund des ihm innewohnenden Wachstumszwangs davon
auch nicht ablassen können wird; die immer durchgeknalltere
Formen annehmende ideologische Krisenverarbeitung hält noch
weitere Spannungspotentiale bereit, bei denen sich mit gutem
Grund fragen lässt, wie die Menschheit da wieder rauskommen
will.
Aber malen wir das Szenario nicht in
zu düsteren Farben. Denn der aktuelle Krisenprozess ist
gewissermaßen hausgemacht. Er ist weder vom Himmel gefallen noch
von unbesiegbaren Naturkräften ausgegangen. Er hat seine Ursache
vielmehr in der simplen Tatsache, wie Menschen ihr Leben und
damit ihre Produktion organisieren – und was das mit ihnen
macht. Das bedeutet aber auch, dass es es die Möglichkeit zur
Veränderung gibt. Die jedoch kann nur darin bestehen, neue
Formen sozialen Miteinanders zu finden, die nicht auf der Logik
von Ware, Geld und Staat beruhen.
Editorische Anmerkungen
Den Text erhielten wir vom Autor
zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.
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