Fundamentaler Krisenprozess
 
von Julian Bierwirth

02/09

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Immer wieder taucht die Frage auf, was denn damit gemeint sei, wenn von Krise die Rede ist. Was genau gerät da eigentlich in die Krise? Und welchen Charakter hat diese Krise? Wie verhält sie sich zu Branchenkrisen und konjunkturellen Krisen? Lässt sie sich mit der Theorie der Langen Wellen von Kondratjew erklären oder als Krise der Hegemonie herrschender Akteure, also der Vorherrschaft bislang dominanter Institutionen, deuten? Sollten wir es gar mit einer System- oder darüber hinaus mit einer Menschheitskrise zu tun haben? 

Im Unterschied zum Platzen der New Economy – Blase ist auffällig, dass dieser Kriseneinbruch nicht nur eine Branche, sondern nahezu alle Branchen erfasst. Dass die Krise zunächst als Immobilien- und Spekulationskrise aufgetreten ist, sollte nicht dazu verleiten, in den Finanzmarktoperationen die wahren Ursachen der Krise zu sehen. Denn wo und wie eine Krise erscheint, muss nicht zwangsläufig darauf hindeuten, wo sie entstanden ist und welchen Charakter sie hat. Bereits 1857 bemerkte Marx solche Kurzschlüsse in der zeitgenössischen Debatte und formulierte dazu in einem Leitartikel im New York Daily Tribune derart treffend, dass es als Kommentar zur aktuellen Diskussion gelesen werden könnte:

„Wenn Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs (crash) auftritt, sollte man nicht vergessen, daß die Spekulation selbst in den vorausgehenden Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und eine Erscheinung (accident) und nicht den letzten Grund und das Wesen (the final cause and the substance) darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen (spasms) von Industrie und Handel durch Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansehen.” 

Der jetzige Kriseneinbruch setzt sich in seinem Umfang von dem, was wir aus den letzten Jahrezehnten gewohnt sind, deutlich ab. Nicht nur, weil alle Branchen betroffen sind, sondern auch darin, dass im Unterschied zur Asien-, Mexiko- oder Argentinienkrise sich die Krise nicht nur auf einen Staat oder eine Weltregion beschränkt. Selbst die BRIC-Staaten, lange Zeit als zukünftiger Wachstumsmotor der Weltwirtschaft gehandelt, sind vom Konjunktureinbruch betroffen. Auch China, das in den letzten Jahren mit zweistelligen Wachstumsraten aufwarten konnte, hat diesen Glanz mittlerweile weitestgehend verloren. 

Es handelt sich also um einen weltweiten Krisenprozess und es liegt die Frage nahe, ob es sich hier vielleicht um das Ende einer sogenannten „Langen Welle“ handeln könnte. Gemäß der Theorie der Langen Wellen wird die kapitalistische Wirtschaft etwa alle 50 Jahre von stetig wiederkehrenden großkonjunkturellen Zyklen erfasst. Es könnte hier argumentiert werden, dass auf den letzten Zyklus nach dem Kriseneinbruch ein weiterer folgen würde. 

Auf den ersten Blick entbehrt diese ـberlegung durchaus nicht einer gewissen Plausibilität. Wenn es der Kapitalismus bislang immer wieder geschafft hat, hinter jeden großen Krisenprozess einen Neustart zu setzen – warum sollte es dieses Mal nicht funktionieren? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass es so einfach nicht ist. Zunächst deshalb, weil diesem Gedanken eine falsche Geschichtsphilosophie zugrunde liegt. Nur, weil sich die Kapitalverwertung bislang nach jeder Krise erholen konnte, heißt das nicht automatisch, das ihm das auch in diesem Fall gelingen wird. 

Damit der Kapitalismus ordentlich vor sich hin prosperieren kann, müssen eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein. So geht es bei der Kapitalverwertung nicht einfach nur darum, nützliche Gebrauchsgegenstände herzustellen, um das Leben der Menschen angenehmer zu gestalten. Es geht vielmehr um die Akkumulation von Kapital - und Kapital ist nichts weiter als eine Anhäufung verausgabter Arbeitskraft. Nun ist der Kapitalismus bereits seit Mitte der 70er Jahre mit der Situation konfrontiert ist, dass der  ihm eigentümliche Rationalisierungswetbewerb technische und organisatorische Veränderungen im Produktionsprozess hervorgebracht hat, die in einem so hohen Maße Arbeitskraft durch Maschinerie ersetzen konnten, dass immer mehr Arbeit überflüssig wurde. 

Seitdem warten nun die ExpertInnen gespannt darauf, welche Technologie wohl den nächsten prosperierenden Zyklus, die nächste Welle kapitalistischer Akkumulation einleiten und tragen könnte. Die New Economy war lange Zeit ein heißer Tipp, doch seit die 2000/2001 eingebrochen ist, ist das keine ernsthaft diskutierte Alternative mehr. Und dass das „finanzmarktgetriebene Akkumlationsregime“ auf Sand gebaut war, haben spätestens die Ereignisse seit dem Spätsommer 2008 gezeigt. Die Vermehrung von Finanztiteln an den Finanzmärkten ist nun mal keine Kapitalverwertung. Diese setzt nämlich immer die Verausgabung von Arbeit voraus, um Wert und Mehrwert zu produzieren. Nachdem die Finanzblase geplatzt ist, stellt sich also nach wie vor die alte Frage: wo soll er herkommen, der neue Aufschwung? Seit dreißig Jahren schon wird das Wirtschaftswachstum mittlerweile simuliert: durch staatliche Verschuldung, ungedeckte Geldschöpfung und Finanzmarktblasen. Und es sieht nicht so aus, als würde sich etwas daran ändern. Ganz im Gegenteil: an den Finanzmärkten kriselt es unentwegt und darüberhinaus hat die Krise längst die Realwirtschaft erreicht. Auch staatliche Konjunktur- und Rettungsprogramme werden hier keine dauerhafte Lösung sein können. 

Wenn wir es also mit mehr zu tun haben als mit einem vorübergehenden Kriseneinbruch – lässt sich das Geschehen dann als Hegemonieverschiebung sinnvoll beschreiben? Oft zu lesen ist etwa von einer relativen Abnahme der Macht der USA, in deren Folge aus dem klassischen Imperialismus ein Empire geworden sei.  So richtig diese Beobachtung sein mag, so oberflächlich bleibt sie auch. Denn es ist ja keineswegs ausgemacht, das dieser relative Hegemonieverlust die Ursache der zu beobachtenden Prozesse ist – und nicht vielleicht ihre Folge. Das wird deutlicher, wenn wir uns vor Augen führen, das auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen Veränderungen ausgemacht werden. Jede Form gesellschaftlicher Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit scheint verloren gegangen zu sein, selbst Unternehmen könnten nicht mehr langfristig planen und sind von stetig undurchschaubarer werdenden Marktlagen abhängig und die herrschenden Institutionen verlieren mehr und mehr die Fähigkeit zur Integration. Doch auch diese Feststellung bleibt auf einer sehr oberflächlichen Ebene. Denn woher rühren nun diese allumfassenden Desintegrationstendenzen? Am Ende gar aus einer Systemkrise? 

Tatsächlich sieht es sehr danach aus. Wenn es stimmt was Karl Marx sagte und „die Warenform des Arbeitsprodukts oder die Wertform der Ware die ökonomische Zellenform“ der kapitalistischen Gesellschaft darstellt – müsste dann nicht ihre Krise auch weite Teile der kapitalistischen Institutionen, Lebenspraxen und Ideologien umfassen? Sollte es dem Kapitalismus tatsächlich seit dem Ende des Fordismus nicht mehr gelingen, im ausreichenden Maße Arbeit einzusaugen, dann hätte dies eine Krise der Wertvergesellschaftung zur Folge. Die gesellschaftliche Synthesis über Arbeit, Wert und Kapital würde sich als immer weniger in der Lage erweisen, einen kohärenten sozialen Gesamtzusammenhang herzustellen. Nun ist aber die Gesellschaft, in der „das Verhältnis der Menschen zueinander als Warenbesitzer das herrschende gesellschaftliche Verhältnis ist“, die Voraussetzung menschlicher Vorstellungen von Gleichheit und Freiheit, die Basis der abstrakten Vergesellschaftung über Recht und Staat und überhaupt die Grundlage für gesellschaftliche Vorstellungen und Ideologien. 

Eine Systemkrise in diesem Sinn ließe sich daher durchaus als „fundamentale Krise“ beschreiben: nicht nur im Bereich der Ökonomie, sondern weit darüber hinaus wären gesellschaftliche Institutionen und Vorstellungen von ihr betroffen. Den Ausweg aus dieser Krise würde dann auch nicht eine sorgfältig geplante Form von Politik darstellen, mit der sich das Ganze dann ein wenig effizienter und ein wenig sozialer organisieren ließe. Stattdessen steht die Menschheit vor der Wahl zwischen Emanzipation und Barbarei. 

In diesem Sinne birgt die Systemkrise auch durchaus die Gefahr, zu einer noch tief greifenderen Menschheitskrise zu mutieren. Denn nicht nur, dass der Kapitalismus die natürlichen Lebensgrundlagen zu unterhöhlen droht und aufgrund des ihm innewohnenden Wachstumszwangs davon auch nicht ablassen können wird; die immer durchgeknalltere Formen annehmende ideologische Krisenverarbeitung hält noch weitere Spannungspotentiale bereit, bei denen sich mit gutem Grund fragen lässt, wie die Menschheit da wieder rauskommen will. 

Aber malen wir das Szenario nicht in zu düsteren Farben. Denn der aktuelle Krisenprozess ist gewissermaßen hausgemacht. Er ist weder vom Himmel gefallen noch von unbesiegbaren Naturkräften ausgegangen. Er hat seine Ursache vielmehr in der simplen Tatsache, wie Menschen ihr Leben und damit ihre Produktion organisieren – und was das mit ihnen macht. Das bedeutet aber auch, dass es es die Möglichkeit zur Veränderung gibt. Die jedoch kann nur darin bestehen, neue Formen sozialen Miteinanders zu finden, die nicht auf der Logik von Ware, Geld und Staat beruhen.

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.