Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
"Neue Antikapitalistische Partei" gegründet

02/09

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Die LCR (Ligue communiste révolutionnaire, d.h. Revolutionärer kommunistischer Bund) ist tot. Es lebe der Nouveau parti anticapitaliste (NPA)! Zum Abschluss des Gründungskongresses der französischen „Neuen antikapitalistischen Partei“, der am 8. Februar 2009 in einer Veranstaltungshalle im Pariser Vorort Saint-Denis zu Ende geht, singen die rund 1.000 Teilnehmer/innen (650 Delegierte, Gäste, über 60 ausländische  Delegationen aus 40 Ländern) die Internationale. Bei einigen – einer Minderheit - hapert es mit dem Text, und mache Sitzreihen fallen ungleichzeitig mit anderen oder zum unpassenden Zeitpunkt in den Refrain ein. Ein Ausdruck dessen, dass nicht alle der hier Anwesenden aus derselben politischen Tradition kommen: Bei der LCR, deren Organisationsleben dreieinhalb Tage zuvor am selben Ort nach 40 Jahren zu Ende ging, hätte man sich auf das reibungslose Absingen der Hymne des Internationalismus eher verlassen können. Unberührt davon bleibt der Enthusiasmus. Die meisten Anwesenden im Saal stehen auf, ballen die Fäuste. Es folgen Applaus und Ausrufe: ‚Ce n’est qu’un début, continuons le combat!’ (Dies war nur ein Anfang, setzen wir den Kampf  fort!) Ein alter Slogan aus den Tagen, in denen der Mai 1968 zu Ende ging. Ein neues Kapitel in der Geschichte der französischen radikalen Linken wird aufgeschlagen – und das vorhergehende endet mit demselben Satz, mit dem es begonnen hatte. 

Wehmut ist nur bei sehr Wenigen zu verspüren, als am Donnerstag, den 5. Februar rund 150 Delegierten den vier Jahrzehnten politischer Existenz der LCR ein Ende setzen. Keine Nostalgie kommt auf, und auch die Bilanzziehung erfolgt eher kurz und knapp. Enthusiasmus überwiegt über den Rückblick auf vergangenen Zeiten. Dafür ist in der linksliberalen Presse eher schon der Platz: In ihrer Wochenendausgabe vom 7./8. Februar lässt die Pariser Tageszeitung Libération mehrere „Ehemalige“ zu Wort kommen, die inzwischen längst bei der Sozialdemokratie oder anderswo „Politik machen“, aber sich ihrer Vergangenheit – in jüngeren Tagen – bei der LCR erinnern. Unterdessen packen die Kongressdelegierten – die 150 der LCR, und an den drei darauffolgenden Tagen die 650 beim Gründungsparteitag des NPA – lieber neue Aufgaben an. 

Die Auflösung der französischen LCR, der wohl mit Abstand bedeutendsten Organisation der französischen radikalen Linken im zurückliegenden Jahrzehnt, erfolgte auch keineswegs überraschend und überstürzt. Sie steht vielmehr am Ausgang eines anderthalb Jahre dauernden Transformationsprozesses, dessen verschiedene Etappen sich in aller Transparenz verfolgen lieben. Tatsächlich hat die LCR es geschafft, das in die Tat umzusetzen, was auch andere Strömungen der radikalen Linken in Frankreich – vor allem solche, die in trotzkistischer Tradition stehen – angekündigt hatten oder verbal in Aussicht stellten. Also das Aufgehen in einer breiteren, über bisherige politisch-ideologische Grenzen hinausreichenden und über die trotzkistischen Bezüge hinausweisenden, jedoch dem Klassenkampf klar verpflichteten Sammelbewegung. 

Projekt „strömungsübergreifende, doch radikale Partei“ 

Zuerst hatte die – ideologisch orthodoxer ausgerichtete, und ein eher ökonomistisch verengtes (d.h. den sozialen und politischen Kampf auf materielle Verteilungsfragen reduzierendes) Klassenkampfverständnis pflegende – trotzkistische Partei Lutte Ouvrière einen solchen Schritt angekündigt. Lutte Ouvrière (LO, der Name wird ohne Artikel benutzt und bedeutet „Arbeiterkampf“) war in jüngerer Vergangenheit die erste Partei der radikalen Linken, der es gelungen ist, nennenswerte Wahlerfolge zu verzeichnen. Als ihre damalige, langjährige Präsidentschaftskandidatin Arlette Laguiller – die seit 2008 dabei ist, nach sechs Kandidaturen ihren Abschied aus der aktiven Politik zu nehmen – im April 1995 erstmals die Grenze von einer Million Stimmen überschritt, trug LO sich bereits mit dem Gedanken der Gründung einer neuen Sammelpartei. Im Wahlkampf hatte sie angekündigt, im Falle eines beträchtlichen Stimmenergebnisses eine breitere „neue Arbeiterpartei“ zu gründen. Arlette Laguiller erhielt daraufhin 1,3 Millionen Stimmen oder 5,3 Prozent. Doch die Neugründung wurde abgeblasen: Man habe es versucht, wurde seitens von LO beschieden, aber nicht die dafür notwendigen „genügend ernsthaften“ Mitstreiter gewonnen. Wahrscheinlich hatte man es wirklich versucht, und es hatte nicht geklappt – kein Wunder freilich angesichts der rigiden Organisationsstrukturen bei LO, die das persönliche Leben der Mitglieder stark einengen und beeinträchtigen (was man der LCR hingegen nicht behaupten konnte). In der Folgezeit spaltete sich dann eine Minderheitengruppe von LO ab, die ihrer Führung vorwarf, es nicht ernsthaft versucht zu haben. Aus ihr wurde die Fraktion Voix des travailleurs (VdT, ungefähr ‚Stimme der Werktätigen’), die Ende der neunziger Jahre durch die LCR aufgenommen wurde und seitdem von ihr absorbiert worden ist. 

Als Karikatur, aber wirklich nur als Karikatur, findet man dieses Streben nach einer breiteren Partei ferner auch bei einer anderen, sehr speziellen (sektenähnlichen) Variante des französischen Trotzkismus wieder: bei den sogenannten Lambertisten. Diese haben ihren Organisationsnamen in den letzten Jahren und Jahrzehnten wiederholt gewandelt, und dabei jedes Mal verkündet, neue Kräfte - die bislang außerhalb ihres bisherigen ideologischen Bezugsrahmen standen - für ihren Parteiaufbau hinzugewonnen zu haben. So wechselte ihr Parteiname oftmals: von Organisation communiste internationaliste (OCI) in den sechziger Jahren über Parti communiste internationaliste (PCI) in den achtziger Jahren, dann Mouvement pour un parti des travailleurs (MPPT, „Bewegung für eine Werktätigenpartei“), ab 1991 schließlich Parti des travailleurs (PT, „Partei der Werktätigen“). Seit 2008 nun firmiert dieser Verein als Parti ouvrier indépendant (POI, „Unabhängige Arbeiterpartei“). In Wirklichkeit verbirgt sich in diesem Falle hinter den wechselnden Hüllen allerdings eine kleine, autoritäre Sekte. Um in die „breitere“ Aushängeschildpartei aufgenommen oder auch ohne eigenen Willen als angebliches Mitglied geführt zu werden, genügt es bei den „Lambertisten“, einmal eine ihrer Petitionen - etwa gegen die Schließung eines örtlichen Krankenhauses - auf der Straße unterschrieben zu haben. Die wirkliche Politik wird in ihrem Falle ohnehin in einem engeren, sektenförmigen Zirkel betrieben, der sich hinter der vorgeblichen Partei verbirgt. Hinzu kommt zu diesen antidemokratischen Strukturen, dass die „Lambertisten“ (sehr im Gegensatz zu den bedeutenderen Parteien der radikalen Linken, also LO und der LCR bzw. dem NPA) zu gesellschaftlichen Einzelfragen oft reaktionäre Inhalte verbreiten. Homosexualität gilt als kleinbürgerliche Verirrung, „Drogen wie Haschisch“ werden unterschiedslos verteufelt und als „Instrument der Bourgeoisie zur Vernebelung des Bewusstseins der Arbeiterjugend“ betrachtet. 

Über alle, teilweise riesigen - inhaltlichen wie strukturellen - Unterschiede hinweg haben die unterschiedlichen Varianten des französischen Trotzkismus grundsätzlich miteinander gemeinsam, dass sie nach einer Überwindung ihrer eigenen bisherigen Organisationsstrukturen streben. Der Grund dafür liegt in einer politischen Konzeption, welche die „eigene“ Partei nur als Mittel zum Zweck - in einer bestimmten historischen Situation und Zeitspanne - betrachtet, aber nicht als Quasi-Selbstzweck überhöht. Dies steht im Gegensatz zur orthodox-kommunistischen und insbesondere stalinistischen Parteikonzeption, in welcher „die Partei“ als zentrales historisches Instrument des Fortschritts und als höchsten Ausdruck des politischen Bewusstseins der Arbeiterklasse firmiert. Diese Selbstüberhöhung haben sich jedenfalls die meisten Strömungen des -organisatorisch vielfach aufgesplitterten - Trotzkismus nie zu eigen gemacht, und darin liegt sicherlich einer ihrer sympathischsten Züge. Und dies von Anfang an. Seitdem sich der Trotzkismus auf der französischen radikalen Linken ab 1936 (im Kontext der Massenstreiks unter der „Volksfront“regierung, und des „Verrats“ durch die - ins Regierungsnähe gerückten - französische KP an ihnen) als linke Alternative zur KP politisch verankern konnte, betrachteten seine AnhängerInnen sich eher als „Stachel im Fleisch“ der übrigen Linken und der sozialen Bewegungen denn als „die“ Avantgardepartei.  

Deshalb waren sie in aller Regel auch immer bereit, auf höchst unsektiererische Art zusammen mit anderen Strömungen etwa Streiks und soziale Bewegungen zu unterstützen, ohne darin stets ihre eigene Partei oder Strömung vorrangig „aufbauen“ zu müssen. Aber die Frage nach der politischen Organisierung, jenseits bzw. diesseits von Sozialdemokratie und (in stalinistischer oder realsozialistischer Tradition stehender) KP, stellte sich auf die Dauer dennoch. Und in den letzten Jahren umso drängender, als einerseits die französische Sozialdemokratie kaum noch als politische Kraft der Arbeiterbewegung auftritt, sondern ihre bürgerliche Wandlung nahezu vollendet hat - und andererseits die französische KP in einen Niedergangsprozess eingetreten ist, der schon Mitte der 1980er Jahre einsetzte, aber seit 2002 in eine zugespitzte Phase gerät. Das historisch zu nennende „Rekordtief“ für die KP-Kandidatin Marie-George Buffet bei den Präsidentschaftswahlen vom April 2007 (nur noch 1,9 Prozent) hat dies noch einmal äußerst drastisch vor Augen geführt. 

Historisches Moment 

Parallel zum sich verschärfenden Krisenprozess der KP seit Anfang des Jahrzehnts - u.a. eine Auswirkung ihrer bisher letzten Regierungsbeteiligung zwischen 1997 und 2002 - hat es die LCR geschafft, „auf Massenebene“ neuen Anklang als politische Alternative auf der Linken zu finden. Neben den massiven Problemen der KP, die mit einer wachsenden Überalterung ihrer (mit rund 50.000 noch immer relativ zahlreichen) Mitgliedschaft zu kämpfen hat, trug dazu auch der Niedergang von LO als andere linke Wahlalternative in den letzten Jahren bei. Nach einem vorläufigen Höhepunkt ihrer Wahlergebnisse im Jahr 2002 (5,8 Prozent für ihre Präsidentschaftskandidatin Laguiller) sackte sie im Frühjahr 2007 auf nur noch 1,5 Prozent ab. Zur spezifischen Krise von LO trug nicht nur die Tatsache bei, dass ihre Kandidatin Laguiller bei ihrer sechsten Kandidatur „abgenutzt“ und überaltert erschien, sondern u.a. auch ihre randständige Position während der spontanen antifaschistischen Proteste im April/Mai 2002. Als damals der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl um die französische Präsidentschaft einziehen konnte, erklärte LO - in ökonomistischer Verkürzung -, Jacques Chirac und Le Pen seien alle beide „reaktionäre Milliardäre“. Die LCR hingegen war von Anfang an Bestandteil der damaligen spontanen (und nach dem zweiten Wahlgang schnell abebbenden) antifaschistischen Massenprotestbewegung. 

Die LCR, mit ihrem jungen Präsidentschaftskandidaten Olivier Besancenot - der landauf landab als „der Briefträger“ bekannte Postbedienstete wird im übernächsten Monat 34 Jahre alt -, konnte unterdessen eine wachsende Zustimmung besonders auch unter jüngeren Wähler/inne/n zu finden. Besancenot erhielt zuletzt, 2007, ein Ergebnis als Präsidentschaftskandidat von 4,1 Prozent (bei hoher Wahlbeteiligung) und 1,5 Millionen Stimmen. Und diese wahlpolitische Erscheinung ist nur die Spitze eines Eisbergs, da zugleich zahlreiche politisch Betätigungswillige sich bei der Partei meldeten und sich an einer Mitwirkung interessiert zeigten. Besancenot hatte sich vor der Wahl von 2007 dafür ausgesprochen, im Erfolgsfalle zur Gründung einer neuen, breiteren Partei aufzurufen. Und zahlreiche Personen nahmen ihn nunmehr beim Wort. 

            Seit nunmehr zwei Jahren bleibt es bei einer anhaltend starken Mobilisierung für das Projekt. Hatte die LCR am Ende ihrer Existenz rund 3.000 Mitglieder - womit sie das Niveau der siebziger Jahre wieder erreichte, während sie auf ihrem Tiefpunkt (1996) bis auf 800 Mitglieder gesunken war - , so hat die neue Partei derzeit 9.100 Mitgliedskarten ausgegeben. An den örtlichen Vorkongressen, die im Regelfall einen vollen Tag dauerten, und den Abstimmungen vor dem Kongress nahmen 5.800 Aktive teil. Aufgrund des erfolgreich verlaufenen Kongresses, bei dem unkonstruktive Auseinandersetzungen vermieden werden konnte und gleichzeitig ein hohes demokratisches  Niveau gewahrt wurde, und des starken Medienechos wird nun für die kommenden Monate mit einer anhaltenden Eintrittswelle gerechnet. Bereits in der ersten knappen Woche nach dem Kongress hatten bis zum Mittwoch Abend (11. Februar) 1.100 Eintrittswillige den neu gegründeten NPA kontaktiert. 

            Die Aufgaben für die Neue antikapitalistische Partei werden damit freilich nicht geringer werden, sondern noch anwachsen. Insbesondere wird, aufgrund der sehr heterogenen politischen Herkunft der Mitglieder (unter ihnen bislang Unorganisierte, ehemalige Mitglieder anderer Strömungen der radikalen Linken, frühere KP-Angehörige, Gewerkschafter/innen, auch antiautoritäre Anarchokommunisten sowie „Ökomarxisten“), ein wachsender Bedarf an politischer „Vereinheitlichung“ und an Bildungsarbeit bestehen. Zugleich stellt die historische Situation die Partei vor nicht geringe Aufgaben. Ihre Geburtsstunde wurde begleitet von einer seit Jahrzehnten nicht dagewesenen Wirtschaftskrise, einem - zur Stunde anhaltenden - Generalstreik auf den französischen Antilleninseln Guadeloupe und La Martinique - und einem beginnenden Massenausstand in Berufsgruppen, die noch nie auf diese Weise in den Kampf getreten waren (Hochschullehrer, Juristen, Psychiatriebedienstete). Die neue Partei steht vor riesigen Aufgaben. 

DIE WICHTIGSTEN ABSTIMMUNGEN AUF DEM KONGRESS UND IHRE ERGEBNISSE 

Der Ablauf des NPA-Kongresses belegt insgesamt ein hohes Niveau der innerparteilichen Demokratie. Der Gründungsparteitag fiel zugleich in eine Phase intensiver nationaler und internationaler Ereignisse, die durch die Teilnehmer auch gebührend gewürdigt wurden. Am ersten Kongresstag begann die Veranstaltung mit einem Beitrag zum Generalstreik auf der französischen Karibikinsel Guadeloupe, der am 20. Januar anfing und sich bei Redaktionsschluss noch zuspitzte. Am zweiten Tag hielten ein Genosse von der palästinensischen PFLP und Michel Warschawski vom Jerusalem Alternative Information Center viel beachtete Redebeiträge zur Situation in Israel und Palästina. 

Ein mit Spannung erwartetes Votum hatte den zukünftigen Parteinamen zum Gegenstand. Im Vorfeld hatte die Nachrichtenagentur AFP behauptet, es ein von vornherein ausgemacht, dass der bisherige Namen NPA - der seit dem Lancieren des Gründungsprozesses vor anderthalb Jahren als provisorischer Projekttitel geführt worden war - beibehalten werde, und sagte eine satte Mehrheit von 85 Prozent dafür voraus. Doch weit gefehlt: Es kam zu hitzigen Debatten um die Namensgebung, und zeitweise sah es so aus, als ob ein anderer Vorschlag den Zuschlag erhielte. Über 500 Namensvorschläge waren in den Ortsgruppen gesammelt worden, von denen die 20 am häufigsten genannten den Delegierten unterbreitet wurde. Daraufhin wurden zunächst die fünf genannten, und dann in einem weiteren Wahlgang die beiden Namensvorschlägen mit den besten Ergebnissen zur Abstimmung gestellt. Die Beibehaltung des Parteinamens NPA setzte sich dabei, mit 53 Prozent der Delegiertenstimmen, relativ knapp gegen den Alternativvorschlag Parti Anticapitaliste Révolutionnaire (PAR) mit 44 Prozent durch. (Der Rest entfiel auf die Enthaltungen.) 

Lebhaft debattiert wurde auch über die Benutzung der Begriffe „Sozialismus“ oder - was zunächst als Alternative eingefordert wurde - „Ökosozialismus“. Letzterer Vorschlag widerspiegelt die Tatsache, dass der NPA und vor ihm bereits die LCR nicht nur klare Positionen zur Klassenfrage bezieht, sondern (anders als manche anderen Varianten des französischen Trotzkismus) auch zu Themen wie Ökologie, Feminismus, Diskriminierung von Homosexuellen und - natürlich - Internationalismus arbeitet. Allerdings widersetzte sich ein Teil der Delegierten dem Ansinnen, das ganze Gesellschaftsprojekt als „Ökosozialismus“ zu definieren, da der Schutz der Umwelt eine thematische Aufgabe sei, aber nicht das historische Projekt der Überwindung des Kapitalismus für sich allein definiere. Als Kompromissvorschlag wurde schließlich eine Kompromissformulierung gewählt - „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ - , die allein noch nicht viel aussagt, allerdings in der Resolution mit konkreten Inhalten gefüllt wird. Durch die Aufnahme von Passagen mehrerer Alternativanträge steht der Begriff „Ökosozialismus“ letztendlich allerdings doch mehrfach in der angenommenen Programmerklärung.  

Bei den Statuten gab es eine Auseinandersetzung um einen Satz, demzufolge die neue Partei sich durch innere Demokratie auszeichne, aber in einem zweiten Schritt auch eine Zentralisierung der politischen Entscheidungsfindung aufweise, „weil das Kapital und der Staat gegenüber auch zentralisiert sind“. Viele Delegierte monierten, dies erscheine problematisch, weil die stalinistische Praxis den früheren kommunistischen Begriff des „demokratischen Zentralismus“ definitiv diskreditiert habe. Die Abstimmung ergab eine Quasi-Pattsituation, ein Dutzend Stimmen ergab letztendlich den Ausschlag für eine Beibehaltung der ursprünglichen Formulierung. 

Die neue Partei erkennt das „Tendenzrecht“ an, also das Recht für innerparteiliche Strömungen, sich eigenständig zu organisieren und ihren Positionen kollektiven Ausdruck zu verleihen. Treten im Vorfeld einer Gremienwahl mehrere politische Strömungen auf, so muss das Leitungsgremium nach dem Verhältniswahlrecht gewählt werden, um den Minderheiten einen proportionalen Anteil zu sichern. Mit knapper Mehrheit abgelehnt wurde der Vorschlag, das „Tendenz-“ auf das „Fraktionsrecht“ zu erweitern, also auf die Herausbildung quasi eigenständiger Parteien innerhalb der Partei.           

Bei diesem Gründungsparteitag traten zunächst keine eigenständigen Strömungen mit eigener politischer Plattform auf. Am Nachmittag des letzten Kongresstages meldete sich jedoch die frühere LCR-Strömung UNIR - das ist die frühere Parteirechte, die statt einer explizit antikapitalistischen lieber eine breitere „anti-neoliberale“ Sammlung anstrebte - zu Wort. Ihre Vertreter verfochten die Auffassung, im Laufe der Debatten um die kommende Europaparlamentswahl hätten sie sich spontan zur eigenständigen Strömung konstituiert, um in letzter Minute noch eine Kollektivvertretung mit 26 Mitgliedern im neu gebildeten 180köpfigen Leitungsgremium zu fordern. Dieser Teil der Partei forciert die Bildung einer gemeinsamen Liste bei den EP-Wahlen mit der französischen KP und einer jüngst formierten Linksabspaltung von der französischen Sozialdemokratie. (Längerfristig streben seine Hauptvertreter eine neue politische Kraft ähnlich wie DIE LINKE in Deutschland an.) Da die Hälfte der 26 Betreffenden aber nicht - wie die Statuten es erfordern - zuvor ihre Vorstandskandidatur in ihren jeweiligen Ortsgruppen bekannt gegeben hatten, wurde der Vorschlag als nicht mit demokratischen Funktionsweisen vereinbar abgelehnt. Die Kongressleitung machte dann jedoch von sich aus einen Gegenvorschlag, der angenommen wurde: 13 der 26 Angehörigen der „Strömung Europawahlen“ (sensibilité ‚européennes’), die zuvor ihre Vorstandskandidatur in ihren Ortsgruppen angemeldet hatten, wurden doch noch in die neue Leitung integriert. Niemand wird also behaupten können, dass die Rechte der politischen Minderheiten und Strömungen nicht gewahrt worden seien.

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.

Siehe dazu auch den Artikel

 in dieser Ausgabe.