Religion und Kapitalismus
hängen auf recht widersprüchliche Weise miteinander zusammen.
Für Max Weber war die „protestantische Ethik“ eng mit der
Herausbildung des Kapitalismus verbunden. Und auch für Karl
Marx war das „Christentum mit seinem Kultus des abstrakten
Menschen“ die der kapitalistischen Produktionsweise am Besten
entsprechende Religion. Seit Marx und Weber sind nun einige
Jahre vergangen. Mittlerweile war viel die Rede von einer
Säkularisierung, der Zurückdrängung aller Religion in die
Bedeutungslosigkeit.
Doch seit einigen Jahren macht Religion wieder vermehrt auf
sich aufmerksam. Dabei ist jedoch weniger eine einfache
Wiederaufnahme altbackener religiöser Praktiken zu beobachten
als vielmehr ein Wandel des Glaubens selber. Zwar hängen viele
Menschen noch immer dem Christentum, dem Islam, dem Judentum
oder dem Buddhismus an, nur hat sich in diese Glaubensausübung
ein neuer Ton eingeschlichen. Was vordergründig
als Rückkehr zu orthodox-traditionalistischen Glaubensformen
daherkommt, ist bei näherer Betrachtung oftmals eher eine ganz
überaus moderne Variante der jeweiligen Religion. Der
Fundamentalismus der Religion ist einer, der zwar gegen
bestimmte Aspekte der Moderne anpredigt, ihr aber gleichsam
gefangen bleibt. Nicht Religion ist das Problem, mit dem wir
es hier zu tun haben, sondern etwas, das sich in Anlehnung an
Ernst Lohoff als Religionismus bezeichnen ließe.
Beim Islamismus ist dies nur allzu deutlich. Die oft im Iran
gebranntmarkte Schwulenfeindlichkeit beispielsweise ist keine
traditionell-orthodoxe Überlieferung, sondern schlicht und
ergreifend ein modernes Phänomen. Der Koran kennt keine
Homosexualität als Sünde, lediglich Analverkehr taucht als
potentielles Vergehen auf. Das allerdings ist im Rahmen der
Schari'a nur schwer zu bestrafen, da es einem umfangreichen
Beweisführungsverfahren unterliegt. Und so ist die Geschichte
des Islam auch voll von Überlieferungen gleichgeschlechtlicher
Liebe und Sexualität – nur, das diese eben nicht in der Weise
identitätsbildend sein musste, wie das im aufgeklärten Westen
der Fall war.
Historisch lässt sich so ebenfalls zeigen, das die Homophobie
islamistischer Prägung eine Reaktion auf die Konfrontation der
traditionellen Kultur mit der Moderne ist. Auch das der
Islamismus oftmals mit vormoderner Kollektivierung
gleichgesetzt wird, weil er die Gläubigen in der Umma als
einer Art islamischer Ur-Gemeinschaft vereinigen will,
verliert wesentliche Aspekte aus dem Blick. Denn die
vielbeschworene Individualisierung ist ja nur die eine Seite
der kapitalistischen Modernisierung: mit ihr einher ging immer
die Unterordnung des Individuums unter die nationale
Gemeinschaft von Standort und Schützengraben. In vielen
traditionellen Varianten des oftmals sog. Volksislams spielte
die Vorstellung kollektiver Identität nie eine herausragende
Rolle. Mit dem Islamismus tritt jedoch eine Neuerung in die
religiösen Debatten ein: er will die traditionellen, oft
voneinander abweichenden Riten zugunsten der einen, richtigen
Religionsausübung ersetzen. Hier herrscht eine Vorstellung von
gesellschaftlicher Allgemeinheit, wie sie gerade für die
Moderne spezifisch ist.
Auch im Christentum lassen sich Fragmente dieses Religionismus
finden. Sowohl evangelikale Strömungen als auch der unlängst
in die Schlagzeilen geratenen Piusorden erheben Anspruch auf
eine gesellschaftliche Verallgemeinerung ihrer Ideen. Für
Bischoff Williams gilt die katholische Kirche die „einzige
Kirche“, der sich alle Menschen (!) unterzuordnen haben. Der
Staat, so die Vorstellung der Pius-Brüder, solle im
„öffentlichen Bereich die Anhänger falscher Religionen daran
zu hindern, ihre religiösen Überzeugungen durch öffentliche
Kundgebungen, Missionierungsarbeit und Errichtung von Gebäuden
für ihren falschen Kult in die Tat umzusetzen.“ Darüber hinaus
fordern sie, „dass Pornographie, Abtreibung, ja jedes
öffentliche Laster gesetzlich verboten und die Übertretung
dieser Gesetze entsprechend geahndet wird.“ Das ferne Ziel,
auf das die Bruderschaft hinarbeitet, ist „das soziale Reich
Christi.“ Da kann einem schon mal schlecht werden.
Ganz ähnlich sieht es auf dem Internetportal Kreuz.Net aus.
Hier können wir von einer „Homo-Perversion“ lesen, die es
aufgrund ihrer „großen Lobby“ bereits soweit gebracht habe,
das „normale Paare“ in der Öffentlichkeit „süffisant
belächelt“ würden, wie der Fuldaer Bischoff Heinz Josef
Algermissen rezitiert wird. Unterschiede zu Äußerungen
islamistischer Gruppierungen müssen hier schon mit der Lupe
gesucht werden - Verschwörungstheorien inklusive. Schuld an
den gegenwärtigen Debatten zur Katholischen Kirche übrigens
ist laut Kreuz.Net weniger berechtigte Kritik als vielmehr
„einfach ein tiefsitzender Haß gegen jede Art von
Frömmigkeit.“ Dagegen gilt es sich, so der Wahn will, zu
positionieren: „Noch lange wird sich die Frage stellen: Was
hast Du gemacht, als die Bestien nach Benedikt XVI.
schnappten.“
Diese Kritik richtet sich zwar gegen moderne Vorstellungen von
Menschenrechten und negiert damit die eine Seite der Moderne,
die ihr nicht in den Kram passt. Die andere Seite aber, die
der kollektiven Unterordnung unter eine „imaginäre
Gemeinschaft“ (Benedict Anderson), wird hier umstandslos
übernommen. Die Anerkennung des Papstes soll mittels
öffentlichen Bekenntnisses vor sich gehen, mithin also durch
ein Agieren im öffentlichen Raum. Eine solche Vorstellung von
politischer Öffentlichkeit, die über den kirchlichen Rahmen
hinausging, aber war mittelalterlichen Varianten des
Katholizismus eher Fremd. Es ist egal, ob der Katholizismus
oder der Islam als Grundlage dient: hier werden inmitten einer
Welt, die mehr und mehr auseinanderzufallen scheint,
Identitätskonstrukte aufgebaut, denen sich zu überantworten
die Menschen aufgefordert werden.
Diese Konstallation kriegt gerade in Zeiten der Krise eine
besondere Bedeutung. Denn das die lange Zeit ideologisch
hochgehaltene Individualisierung alleine keine Lösung sein
kann, wird immer deutlicher. Zu unübersehbar sind die Folgen
dieses Jeder-gegen-Jeden mittlerweile geworden. Zur
Abwechslung versuchen es einige nun mit dem strikten
Gegenteil. Die Unterordnung unter die Nation bildet in den
Industriestaaten derzeit noch ein starkes Angebot, aber auch
andere kulturalistische Ideologien wie der Religionismus
werden zunehmend stärker. Auch davon werden wir gerade
AugenzeugInnen.
Editorische Anmerkungen
Den Text erhielten wir vom Autor
zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.
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