trend spezial:  Die Aufstände in Nordafrika

Bernard Schmidt
Tunesien: Präsident Ben ’Ali ging – die Bourgeoisie bleibt noch

02/11

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Die tunesische Übergangsregierung, die nach dem Abgang von Altpräsident und –diktator Zine el-Abidine Ben ’Ali zunächst unter erheblichem Druck „von unten“ stand, hat sich umgebildet. Gleichzeitig konnte sie sich nun vorläufig konsolidieren. Ob die demokratische Revolution ihre wichtigsten Ziele erreicht haben wird, muss sich nun in naher Zukunft herausstellen, wenn es sich um wichtige Fragen für das weitere Vorgehen drehen wird: Unter welchen Bedingungen werden künftige Wahlen abgehalten? Und finden substanzielle Änderungen an der Verfassung der bisherigen Diktatur (mit ihrem autoritären Präsidialsystem) statt; wenn ja, welche? Eine sozialistische Umwälzung hat unterdessen in Tunesien bislang nicht stattgefunden. Nichtsdestotrotz haben progressive soziale Kräfte „von unten“ erheblich zum – vorläufigen – Erfolg der demokratischen Revolution beigetragen. Und als „soziale Gegenmacht“ dürften u.a. die tunesischen Gewerkschaften, aber auch soziale Bewegungen weiterhin auf der Bühne des Landes präsent bleiben.

Unterdessen weht ein Wind der Revolte über die ganze Region - von Tunis (wo er entfacht wurde) über Kairo bis in den Yemen, wo vor einer Woche 16.000 Menschen in der Hauptstadt Sanaa für den Rücktritt des (seit 1978 amtierenden) Präsidenten Saleh demonstrierten…

 Wann fliegt sie endlich ’raus, die aktuell amtierende Übergangsregierung in Tunesien? Dies war die zentrale Frage, die sich in der letzten Januarwoche 2011 zahlreiche in- und ausländische Beobachter stellen. Seit Wochenbeginn wuchs der Druck auf die provisorische Regierung unter Premierminister Mohammed Ghannouchi. Ihre Umbildung war zunächst am Dienstag, den 25. Januar als „unmittelbar bevorstehend“ bezeichnet, dann für Mittwoch, dann für Donnerstag früh angekündigt worden. Es zog sich dann noch bis am Donnerstag (Abend 27. Januar) hin, bis es so weit war.

Unterschiedliche Strömungen der politischen und sozialen Opposition forderten ihren Rücktritt, da sie mehrheitlich aus „Kaziken“ des alten Regimes – das am 14. Januar dieses Jahres durch die Flucht des seit 1987 autoritär regierenden Präsidenten Zine el-Abidine Ben ’Ali zusammenbrach – bestehe. Auch wenn ihre führenden Mitglieder sowie Parlamentspräsident Foued Mebazaa, der die Übergangsperiode nach den geltenden Verfassungsbestimmungen leitet, formell ihre Mitgliedschaft in der bisherigen Staatspartei RCD (Demokratische Verfassungs-Sammlung) niederlegten, so bleiben sie doch Männer der alten Herrschaft.  

Alte Minister der Diktatur flogen hinaus – jedoch nicht alle 

Am Abend des 27. Januar 11 erfolgte die Umbildung der provisorischen Regierung. Die Mehrzahl der Minister aus der Zeiten des alten Regimes flogen nun tatsächlich ’raus - nicht jedoch der ranghöchste unter ihnen: Premierminister Ghannouchi. Die UGTT (tunesischer Einheits-Gewerkschaftsdachverband) bleibt außerhalb der Regierung, unterstützt sie jedoch bei dem Vorhaben, innerhalb von sechs Monaten Neuwahlen durchzuführen. Ansonsten möchte sie „Gegenmacht“ bleiben.

Allerdings sind bei der Umbildung der provisorischen Regierung der bisherige Premierminister Mohamed Ghannouchi (der Expräsident Ben ’Ali bereits seit dem 17. November 1999 ununterbrochen als Regierungschef gedient hatte) und zwei Minister aus der „alten Ära“ in ihren Ämtern bestätigt worden. Es handelt sich bei ihnen um Industrieminister Mohamed Afif Chelbi und um den Minister „für Wirtschaftsplanung und internationale Zusammenarbeit“, Mohamed Nouri Jouini. Ihre Beibehaltung wurde dadurch gerechtfertigt, dass sie nur „technische Ressorts“ besetzten; und jener des alten Premierministers wurde durch die „Kontinuität des Staates“ begründet. Sicherlich sollte die Aufrechterhaltung der Präsenz der beiden Minister mit wirtschaftlichen Aufgaben auch der (nationalen u. internationalen) Bourgeoisie ein beruhigendes Signal aussenden. Ansonsten findet sich die Kabinettsliste u.a. hier: http://www.aloufok.net/spip.php?article3135

An jenem Donnerstag, den 27. Januar dauerten die Beratungen im Exekutivbüro (der Führungsspitze) des Gewerkschafts-Dachverbands UGTT fort, denen ein entscheidender Einfluss auf die Regierungsumbildung zugemessen wurde. Denn es schien den Regierenden unabdingbar, ein Mindestmaß an Akzeptanz seitens der UGTT zu finden. Bei dem Gewerkschafts-Dachverband selbst herrscht ein heftiger Linienstreit zwischen dem linken Flügel (der bisher in konsequenter Opposition zum alten Regime und zur mafiösen Bourgeoisie stand), den Zentrumsfraktionen - die eine „weniger politische“, gewerkschaftliche Interessenvertretungspolitik anstreben - und den mit dem alten Regime kollaborierenden Rechten. Schon immer gab es bei der UGTT heftige Konflikte um die Linie ihrer Gewerkschaftspolitik: In der Frühphase nach der tunesischen Unabhängigkeit von 1956, unter dem bürgerlich-nationalistischen (zeitweilig aber auch leichte staatssozialistische Züge annehmenden) Modernisierer-Regime von Habib Bourguiba, hatte die UGTT anfänglich die Hälfte der Kabinettssitze eingenommen. Später wuchs aber in ihren Reihen eine handfeste Opposition heran. Im Januar 1978 organisierte die UGTT einen Generalstreik in Tunesien, der durchschlagende Wirkung erzielte.Aus den Reihen des rechten Flügels stammt zwar der amtierende Generalsekretär Abdessalem Jrad (auch „Jerad“ geschrieben, es handelt sich in beiden Fällen um eine Transkription aus dem Arabischen). Er muss sich seine Politik derzeit jedoch weitgehend durch die Basis bzw. den mittleren Apparat der UGTT diktieren lassen. Einzelne Stimmen fordern derzeit zwar mehr oder minder laut den Rücktritt Jrads. Überwiegend hält die Gewerkschaftslinke sich jedoch mit der Forderungen nach unmittelbaren Konsequenzen an der Spitze zurück, da sie es für strategisch klüger hält, inhaltlich Einfluss auf die Politik der UGTT zu nehmen - statt eine Personaldebatte und damit einen Machtkampf mitsamt Hauen & Stachen zu eröffnen, bei dem die Inhalte zweitrangig würden oder zu werden drohten. 

Im Namen der UGTT erklärte am 27. Januar eines der Mitglieder in ihrem Exekutivbüro, Mohamed Saad, die Organisation werde „nicht in der neuen Übergangsregierung vertreten sein.“ Und er fügte hinzu: „Wir wollen als Gewerkschaft weiterhin eine Art Gegenmacht (une sorte de contre-pouvoir) bilden“, doch die UGTT werde die provisorische Regierung in dem Vorhaben der Durchführung von Neuwahlen innerhalb von sechs Monaten unterstützen. Am selben Tag demonstrierten im zentraltunesischen Sidi Bouzid mehrere tausend Menschen. Am Vortag hatten in Sfax - der zweitgrößten Stadt des Landes, wo am Mittwoch (26. Januar) durch die UGTT zum Generalstreik aufgerufen wurde - laut Angaben der Opposition rund 100.000 Menschen demonstriert.

Am o1. Februar 2011 wurde nun bekannt, dass sich in Tunesien erstmals ein weiterer Gewerkschaftszusammenschluss neben der UGTT gründen wird. Der neue Dachverband wird voraussichtlich auf den Namen CGTT hören. Ausführlicheres dazu in Bälde.

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Die UGTT (der tunesische Gewerkschafts-Dachverband), die derzeit eine wesentliche Rolle als soziale Gegenmacht spielt – ihre eigene korrupte Führung unter Generalsekretär Abdessalem Jrad steht mächtig unter Druck seitens seiner Basis -, hatte am 18. Januar 2011 ihre drei Minister aus der Übergangsregierung zurückgezogen. Dieser hatten sie genau einen Tag lang angehört.

Am Dienstag, den 25. Januar 11 wurden örtliche Büros der UGTT in der Phosphat-Bergbaustadt Gafsa sowie in Sousse durch Milizen, die treu zum alten Regime stehen und derzeit Terror verbreiten - auf dass die Anhänger eines „starken Staates“ und/oder des gestürzten Ben ’Ali-Regimes lautstark vor „dem Chaos“ warnen können - angegriffen. (In Gafsa, der Hochburg einer rebellischen Region, in der schon 1962 Unruhen durch das damalige Bourguiba-Regime blutig mit rund 100 Toten niederschlagen wurden, war die UGTT seit langem linksoppositionell.) Am folgenden Tag erfolgten weitere Angriffe auf Gewerkschaftsbüros u.a. in der tunesischen Stadt Kef (auch: Le Kef).

Die kämpferischen Teile der UGTT blieben unterdessen nicht untätig. In Sfax, der zweitgrößten Stadt Tunesiens an der östlichen Küste des Landes - eine Industriestadt, die durch die Touristen eher wenig aufgesucht wird -, riefen die Gewerkschaften am 26. Januar zum Generalstreik auf. Lediglich in wichtigen Versorgungsbetrieben (Strom, Krankenhäuser) sollte der Betrieb aufrecht erhalten bleiben. Abertausende Menschen forderten in einem Aufsehen erregenden Demonstrationszug den sofortigen Rücktritt der provisorischen Regierung.

Auf sozialer Ebene hat die (demokratische) Revolution, die sich bislang auf zentraler Ebene noch nicht vollständigen durchsetzen konnte - siehe das Tauziehen um die Übergangsregierung und die Frage einer verfassunggebenden Versammlung, s.u. -, bereits einige Errungenschaften hervorgebracht. So wurde am Dienstag, den 25. Januar verkündet, dass Tunesien nun zum allerersten Mal eine Arbeitslosen-Unterstützungszahlung einführend wird. Diese beträgt demnach 150 Dinar (oder umgerechnet 106 Dollar, derzeit 78 Euro) monatlich. Zum Vergleich: Der tunesische Mindestlohn liegt bei monatlich 270 Dinar (oder umgerechnet 140 Euro). Bislang waren Arbeitslose in Tunesien allein und gänzlich auf ihre Familien angewiesen; insofern gilt dieser Beschluss als „kleine Revolution“.

Ferner hat die provisorische Regierung am selben Tag angekündigt, umgerechnet 260 Millionen Euro in die Strukturentwicklung der bislang „abgehängten“ und systematisch unterentwickelten Regionen des Landesinneren zu investieren. Und Persönlichkeiten aus diesen Regionen sollen künftig auch in der neu zu bildenden Regierung vertreten sein.

Zahme und unzahme Oppositionelle

Zurück zur provisorischen Regierung. Die UGTT hat sich also, infolge eines Beschlusses vom Dienstag, den 18. Januar, aus dem (am 17. Januar formierten) Übergangskabinett zurückgezogen.

Hingegen bleiben Ahmed Brahim, Generalsekretär der tunesischen Ex-Kommunisten von Ettajdid (Erneuerung), und der langjährige Chef der „Progressiv-Demokratischen Partei“ (PDP) – Nejib Chebbi – nach einigem Zögern im Kabinett. Die zu Liberalen gewordenen Ex-Kommunisten haben zwar den Klassenkampf aufgegeben, aber dafür die Staatsgläubigkeit beibehalten. Sie berufen sich nunmehr auf eine „Angst vor einem Machtvakuum“ im Falle einer Nichtteilnahme, welches nur den alten Kräfte nützen können. Der PDP und dessen Chef wiederum zählen zu jenen bislang „tolerierten“ zahmen Opponenten, die zudem mit den westlichen Grobmächten in Verbindung standen und vom nordamerikanischen National Endowment for Democrazy (NED) gefördert wurden. Allerdings hatten auch die „tolerierten“ Oppositionsparteien – die zwar eine formelle Existenz führen konnten, aber unter Ben ’Ali in der Regel vor der Unmöglichkeit standen, einen Veranstaltungsraum zu mieten – die „verbotenen“ Oppositionsparteien oft solidarisch unterstützt und zu ihren Versammlungen eingeladen.

Beträchtliche Teile der Opposition forderten neben dem Rücktritt dieser provisorischen Regierung auch eine Verfassunggebende Versammlung, um eine neuen Grundlagentext für die künftige tunesische Republik zu erarbeiten. Manche liberale Juristen dagegen sind der Auffassung, die bisherige Verfassung stamme nicht aus der Ben ’Ali-Ära – sie datiert von 1959, wurde jedoch in den letzten Jahren mehrfach abgeändert, um alle bis dahin geltenden Beschränkungen für die Dauer der Amtszeit sowie die Anzahl der Mandate des Präsidenten aufzuheben. Deswegen solle man sie überarbeiten, aber nicht aufheben.

Einig sind sich viele Linke und Liberale darin, dass man lieber einige Monate mit der Abhaltung von Wahlen warte, damit die bisher gröberenteils illegalisierte Opposition sich organisieren, Programme erarbeiten und ihre Vorstellungen den Tunesiern bekannt machen kann. Die Verfassung sieht bei Eintritt eines „Machtvakuums“ theoretisch Präsidentschaftswahlen innerhalb von 60 Tagen vor. Die Übergangsregierung hat hingegen in Aussicht gestellt, bis zu maximal sechs Monate dafür Zeit zu lassen. Teile der Opposition begrüben dies und fordern ferner, erst ein Präsident und danach einen neuen Präsidenten wählen zu lassen, um nicht sofort wieder in ein tendenziell autoritäres Präsidialregime zu verfallen. Andere hingegen misstrauen der Ankündigung, sich Zeit zu nehmen – und befürchten, dass im Laufe der Monate der Druck der Strabe nachlassen und die Kräfte des alten Regimes wieder Oberwasser gewinnen könnten. Dabei dürfte es letztlich eine wesentliche Rolle spielen, zu entscheiden, wer die Übergangsperiode anführt.

Leer-Räumen der Knäste?

Umstritten ist auch die Fortexistenz von Strukturen des alten Regimes in Polizei und Justiz. Der Polizeiapparat scheint bislang kaum von Veränderungen berührt worden zu sein. Hingegen ist die Armee, die in Teilen mit den Aufständischen fraternisierte, derzeit sehr populär. In den Gefängnissen wurden rund 1.800 politische Häftlinge entlassen, im Vorgriff auf die angekündigte Generalamnestie. Aber rund 3.000 unter angeblichem « Terrorismusverdacht » inhaftierte Personen - unter ihnen politische Kritiker der Regierung wie auch grundlos Verdächtigte - sollen sich noch in Haft befinden. Die Pariser Libération berichtete am Montag, den 24. Januar 11, in den Tagen zuvor seien mutmaßlich 100 bis 150 Gefangene durch ihre Wächter umgebracht worden. In den Haftanstalten gingen Angst und Schrecken um.

Am Mittwoch, den 26. Januar nun gab die tunesische vorläufige Regierung ihrerselbst Zahlen dazu an. Ihr zufolge wurden „im Laufe eines Monats“, in der Schlussphase des Ben ’Ali-Regimes, 71 Häftlinge getötet (unter ihnen allein 47 beim Abbrennen einer Haftanstalt in Monastir am Samstag, den 15. Januar). Es ist jedoch im Augenblick sehr fraglich, ob diese Angaben für die zurückliegende Periode wirklich auch nur annähernd vollständig sind. Unterdessen behauptet die Regierung auch, im Zuge des Umbruchs seit dem Abgang Ben ’Alis hätten insgesamt 11.000 Gefangene aus den Haftanstalten fliehen können.

Druck der Straße vor dem Regierungssitz

Seit Montag früh (24. Januar) kam es direkt vor den Büros des Übergangs-PRemierministers, im „Kasbah“ genannten Regierungssitz in Tunis, zu handfesten Auseinandersetzungen. Steine und Flaschen wurden auf die Polizei geworfen, die ihrerseits Tränengas und Knüppel einsetzte. Den Sonntag über hatten Tausende von Protestierern das Gebäude belagert. Verstärkung erhielten sie seit dem Vormittag von rund eintausend Demonstranten aus dem Landesinneren, dem Süden und Westen Tunesiens – aus jenen notirisch vernachlässigten und unterentwickelten Regionen, in denen seit dem 17. Dezember der Aufstand gegen das diktatorische Regime des vier Wochen später gestürzten Präsidenten Ben ’Ali begonnen hatte. Sie waren im Rahmen einer „Karawane der Befreiung“ im Laufe des Wochenendes in die Hauptstadt aufgebrochen und hatten dabei zahlreiche Städte durchquert. Der noch immer geltenden nächtlichen Ausgangssperre trotzend, lagerten sie seit Sonntag Abend (23. Januar) vor dem Regierungssitz. Als am Montag in den ersten Vormittagsstunden Regierungsbeamte diesen zu verlassen versuchten, um nicht dort eingeschlossen zu bleiben, brachen die heftigen Auseinandersetzungen aus.

Am Montag (25. Januar) kündigte Regierungssprecher Taïeb Baccouch eine Umbildung des Kabinetts als „unmittelbar bevorstehend“ an. Am Dienstag war allerdings dann davon die Rede, es könne noch „zwei bis drei Tage“ dauern. Ferner erklärte Baccouch, im Namen der „Kontinuität des Staates“ sollten „nicht alle“ bisher dem RCD angehörenden Minister gefeuert werden. Aber den Donnerstag (27. Januar) über fanden den ganzen Tag hindurch noch weitere Unterredungen zwischen der provisorischen Regierung, der Anwaltskammer und der UGTT-Spitze statt. Dabei ging es um die Zusammensetzung des künftigen Kabinetts. Die Übergangsregierung wollte demnach, neben Premierminister Ghannouchi - dessen Beibehalt trotz 11 Jahre treuer Dienste unter Ben ‘Ali auch die Anwältekammer zustimmen mochte - mindestens zwei Minister, die oben erwähnten Jouini und Chelbi, in ihren Reihen behalten. Die radikalere Opposition, die sich inzwischen (für ihren linken Teil) in einem « Bündnis des 14. Januar » zusammengeschlossen hat, möchte hingegen den Rücktritt der gesamten Übergangsregierung.

Die Demonstrationen umfassten zu dem Zeitpunkt meistens zwischen einigen hundert und rund 2000 Personen, wurden aber durch beträchtliche Teile der Gesellschaft mit Sympathie begleitet und unterstützt. Auch am Donnerstag früh noch „belagerten“ mehrere Hundert Demonstranten, die am vergangenen Wochenende aus dem Landesinneren gekommen waren, den Regierungssitz. Bei nächtlichen Temperaturen, die bis auf 8° Celsius herunter fallen, harren sie seit vier Tagen und drei Nächten beharrlich dort aus. Durch viele Angehörige der örtlichen Bevölkerung werden sie mit Lebensmitteln, Café und warmen Decken versorgt. Im Laufe des Freitag (28. Januar) wurden diese Protestierenden dann jedoch durch den Einsatz von Knüppeln und Tränengas gewaltsam von den Örtlichkeiten „entfernt“ und verjagt.

Umwälzungen in Unternehmen

Parallel zu ihnen findet derzeit eine Welle von Umwälzungen in den Betrieben und tunesischen Unternehmen statt. Dort werden reihenweise jene Chefs, die bislang zur „Kleptokratie“ (Diebesherrschaft) genannten Mafia rund um den Familienclans von Ex-Präsident Ben ’Ali zählten, zur Rede gestellt oder davongejagt. Am vorvergangenen Mittwoch, den 19. Januar etwa feuerten die Angestellten der Versicherungsgesellschaft Star ihren Boss, ebenso jene der Nationalen Landwirtschaftsbank. Auch beim tunesischen Unternehmerverband, Utica, wurde der bisherige Chef Hedi Jilani aus dem Amt gejagt. Im tunesischen Fernsehen übernahmen Gewerkschafterkomitees die Kontrolle über die Nachrichtensendung. Am Freitag, den 21. Januar besetzten Stewardessen der bislang durch die Korruption schwer gebeutelten nationalen Fluggesellschaft Tunisair den Hauptsitz ihres Unternehmens. Der oberste Chef, Nabil Chettaoui, schloss sich in einem Büro im fünften Stockwerk ein und lieb erklären, er stünde „einer Untersuchungskommission zur Verfügung“.

Das europäische Kapital in Tunesien

Eine Streikwelle hat seit Mitte Januar d.J. auch die Call Centers europäischer, insbesondere französischer, Unternehmen in dem nordafrikanischen Land erfasst. Zwischen 5 und 15 Prozent der Anrufe bei groben französischen Dienstleistern wurden über Tunesien abgewickelt. Derzeit werden die Telefonate umgeleitet, und die Wartezeiten für die Kunden haben sich erheblich verlängert. Da die tunesische Ökonomie sich auf aus Europa ausgelagerte Aktivitäten spezialisiert hatte, waren und sind die Verbindungen zu Kapital aus Frankreich und der EU eng. Orange – das ist die französische Telekom unter ihrem neuen Namen – etwa unterhielt eine tunesische Filiale. Von ihr gehörten 49 Prozent dem französischen Unternehmen und 51 Prozent einem tunesischen Eigentümer: Marwan Mabrouk, einem Schwiegersohn von Ben ’Ali und führenden Angehörigen der Mafia. Weil er zusammen mit dem gestürzten Präsidenten floh, liegt derzeit die Aktivität bei ‚Orange Tunisie’ danieder.

Das internationale Kapital sorgt sich eher um die Zukunft seiner Investitionen in Tunesien, und die Bewertungsagentur Moody’s hat dementsprechend am 19. Januar 2011 die Note Tunesien um einen Punkt herabgestuft. Die Perspektiven Tunesiens wurden von „stabil“ auf „negativ“ abgewertet. (Inzwischen haben die Agenturen Moddy’s und S&R dieselbe Entscheidung auch über Ägypten, das seit dem 25. Januar von einer heftigen Revolte geschüttelt wird, gefällt.)

Hingegen freut sich auch ein beträchtlicher Teil der einheimischen tunesischen Bourgeoisie tendenziell eher über den Umsturz. Denn sie musste bislang der mafiösen Überwucherung der Ökonomie des Landes durch die Familienclans von Ben ’Ali und seiner Gattin – Leila Trabelzi – einen beträchtlichen Tribut zollen. Die beiden Clans, die in direktem Kontakt mit Importeuren und ausländischen Investoren standen und Monopolstellungen einnahmen, verlangten von einheimischen Unternehmern oft eine Beteiligung an ihren Firmen. Zu diesen trugen die mafiösen Seilschaften jedoch nichts bei, sondern kassierten nur ab. Der Wirtschaftswissenschaftler El Mouhoub Mouhoud (zitiert u.a. in der französischen Tageszeitung ,Libération’, vgl. Ausgabe vom 22./23. Januar 11; vgl. http://www.liberation.fr/) glaubt deswegen, dass durch das Ende der aufgezwungenen Racketpraktiken auch unter kapitalistischen Bedingungen nunmehr bessere Wachstumsperspektiven herrschen.

Nichtsdestotrotz freut dies eher einheimische als internationale Unternehmen. Und zudem dürften die Interessen der tunesischen Bourgeoisie einerseits, der Jugend, des prekären Subproletariats im „informellen Sektor“ und der Arbeiterschaft andererseits künftig erheblich auseinanderdriften. Bislang zogen sie noch an einem Strang. Aufgrund der zugespitzten sozialen Auseinandersetzungen, die sich derzeit teilweise - im Kontext des Streits um die nähere Zukunft der demokratischen Revolution in Tunesien – abspielen, hat jedenfalls ein Teil der Unternehmerschaft aber schon wieder die Nase gestrichen voll von revolutionären Umtrieben. Er plädierte just in den letzten Tagen energisch dafür, nun müsse aber endlich auch mal wieder Schluss mit lustig sein (vgl. http://www.lefigaro.fr).

Eine soziale Revolte trug erheblich zum Erfolg der demokratischen Revolution in Tunesien bei. Der Tag, an dem Ben ’Ali floh, war nicht ganz zufällig jener Freitag (14. Januar), auf den der Beginn eines Generalstreiks angesetzt war, zu welchem die UGTT aufrief.

In Paris und anderswo verlor man einen „Freund“…

Die Mehrzahl der westlichen Grobmächte hielt dabei bis zuletzt an ihrem „Freund“ Ben ’Ali fest. Die so genannten Sozialistische Internationale – ein Zusammenschluss staatstragender sozialdemokratischer Parteien mit beträchtlichem Einfluss ihrer deutschen, österreichischen und französischen Ausgaben – schaffte es immerhin vier Tage nach der Flucht Ben ’Alis, dessen frühere Staatspartei RCD als Mitglied auszuschlieben. Also doch erstaunlich früh. Immerhin hatte der tunesische RCD es am selben Tag (18. Januarà) noch Stunden zuvor vermocht, Ben ’Ali seinerseits aus der Partei zu werfen.

Ebenso zügig reagierte Frankreichs Regierung: Sie lieb eine Lieferung von Tränengas und „Sicherheitsmaterial“ am Pariser Flughafen Roissy blockieren. An jenem Freitag, an dem Ben ’Ali floh (dem 14. Januar); so behauptet sie es jedenfalls. Die französische Presse stellt es anders dar: Laut ‚Le Monde’ waren es hingegen „einfache“ untere Zollbeamte, die die Lieferung im Rahmen einer Routinekontrolle aufhielten. Erst am darauffolgenden Montag oder Dienstag erhielt die französische Regierung davon Kenntnis, dass die Ladung blockiert war. Mutig ordnete sie an, ihre Auslieferung zu unterbinden. Ben ’Ali befand sich zu dem Zeitpunkt bereits auf der Flucht respektive im saudi-arabischen Exil.

Frankreichs Aubenministerin Michèle Alliot-Marie hatte ihm eine Woche zuvor, am 11. Januar, noch Polizeihilfe angeboten: Dank „französischen Know-hows“ könnten seine Sicherheitskräfte in die Lage versetzt werden, „sowohl die Sicherheit zu gewährleisten als auch Menschenleben zu bewahren“, indem sie nicht unnötig allzu viele Menschen tötete. Dieses Angebot verschleiert unterdessen, dass beide Staaten auf polizeilicher Ebene längst intensiv kooperierten. – In ihrer Ausgabe vom 02. Februar schreibt die Pariser Abendzeitung ,Le Monde’, der französische Premierminister François Fillon habe in einem Brief an den sozialdemokratischen Fraktionsvorsitzenden Jean-Marc Ayrault ausdrücklich bestätigt, dass es Versuche gegeben habe, Tränengaslieferungen an das tunesische alte Regime zu schicken. Demzufolge habe es insgesamt vier Ausfuhrgenehmigungen gegeben, zwei davon datieren noch vom 12. Januar 2011 – also nur 48 Stunden vor der überstürzten Abreise von Expräsident Ben ’Ali, und nachdem bereits mehrere Dutzend Personen bei den Unruhen durch tunesische Polizeikräfte erschossen worden waren. Es ging dabei insgesamt um „mehrer –zig Tonnen“ an Tränengas, präzisiert die Pariser Abendzeitung. Auch in der französischen Öffentlichkeit hat die amtierende Aubenministerin Alliot-Marie nun doch ein beträchtliches Rechtfertigungsproblem. Zumal die investigative Wochenzeitung ,Le Canard enchaîné’ in ihrer Ausgabe vom 02. Februar im Detail darüber berichtet, wie Alliot-Marie noch Ende 2010 privaten Urlaub in Tunesien verbrachte – mittels eines Privatjets, der ihr durch einen Milliardär zur Verfügung gestellt worden war, der zur unmittelbaren Umgebung und dem Familienclan Ben ’Alis gehört.

Am Nachmittag des 27. Januar vermeldete die Abendzeitung ,Le Monde’ ferner, der soeben – zwei Tage zuvor - ausgetauschte französische Botschafter in Tunis, Pierre Ménat, habe bis zuletzt felsenfest an die Aufrechterhaltung des Ben ’Ali-Regimes geglaubt. Und offenkundig auch darauf gehofft. Der Botschafter, der in seiner gesamten Amtszeit keinen einzigen Oppositionellen getroffen hatte, glaubte demnach noch am Tag der Flucht Ben ’Alis (dem 14. Januar 11), dessen Rede vom Vorabend werde „die Dinge schon wieder ins Lot bringen“. Und die Online-Zeitung ,Médiapart’ berichtete, der (alte) Botschafter Pierre Ménat habe eine „schwarze Liste“ von tunesischen Oppositionellen besessen, um dafür zu sorgen, dass diesen Individuen auf gar keinen Fall Zugang zur französischen Botschaft gewährt werde.

Unterdessen hatte die US-Administration Obama die Zeichen der Zeit ein bisschen schneller erkannt. Auch ihr Land unterstützte bis dahin die Diktatur Ben ’Alis (auch wenn die USA weit weniger wirtschaftliche und strategische Interessen in Tunesien hatten als die Europäer; im Gegensatz allerdings zu Ägypten). Doch intern äuberten US-Diplomaten seit längerem beträchtliche Kritik an ihr, wie die durch WikiLeaks publizierten Dokumente belegen, wo von einer „Quasi-Mafia“ in den oberen Etagen des tunesischen Staates die Rede war. Und sie unterhielten durchaus auch Kontakte zu Oppositionellen; wie dem Anwalt Mohamed Abdou, der vor fünf Jahren zu einer längeren Haftstrafe wegen eines Meinungsdelikts (3 Jahre und 6 Monate) verurteilt worden, dann aber unter internationalem Druck begnadigt worden war. Pierre Ménat hatte 2006 bei einem Treffen mit seinem US-amerikanischen Botschafterkollegen behauptet, der Rechtsanwalt sei ein „Antiwestler“, der junge Djihadisten zum Kampf gegen die Amerikaner in den (besetzten) Iraq senden wolle. Die US-Amerikaner wussten es allerdings besser, stand Abdou doch zu ihnen im offenen Kontakt...

Am 10. Januar dieses Jahres – so besagen es jedenfalls französische Nachrichtendienstquellen, welche in die Presse durchsickerten – signalisierte die US-Administration der tunesischen Armee, mit deren Generalstab sie in Verbindung stand, sie möge Ben’ Ali lieber fallenlassen. Die Armeespitze spielte eine nicht unwesentliche Rolle beim Umschlagen der Situation in den letzten Tagen des alten Regimes. Auch deswegen, weil die Militärs bislang durch das Regime Ben ’Alis und seines Vorgängers Habib Bourguiba eher vernachlässigt worden war, zugunsten der Polizei, aus der Ben ’Ali hervorging. Die tunesische Polizei beschäftigte schätzungsweise 120.000 Mann (unter ihnen 4.000 bis 5.000 Mann der Präsidentengarde und anderer Eliteeinheiten, die sich nun z.T. in den Terror ausübenden Milizen wiederfinden); die Armee dagegen verfügte „nur“ über circa 36.000 Soldaten und kein Dutzend Hubschrauber. Dies rächte sich nun...

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.