Das war’s also: der erste Elternabend an der ‘weiterführenden’ Schule, die mein Sohn ab jetzt besuchen wird.

von
Robert Hamm

02/11

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Es ist 16.00 Uhr. Um diese Zeit soll der ‘Elternabend’ beginnen. Die Eltern finden sich nach und nach im Klassenzimmer ihrer Kinder ein. Die Eintretenden setzen sich an die in Gruppen stehenden Tische. Nach etwa 10 Minuten ist der Raum gefüllt. Einzelne Eltern kennen sich bereits, unverbindliche Gespräche entwickeln sich. Die Klassenlehrerin tritt ein.

Sie nimmt vor dem an der Stirnseite des Raumes stehenden Lehrertisch Platz und begrüßt die Anwesenden. Sodann fordert sie sie auf, einen Stuhlkreis zu bilden. Dieser Aufforderung kommen die Eltern nach. Einige Tische werden aus der Raummitte an den Rand verschoben.

Nachdem der Stuhlkreis gebildet ist, eine weitere Aufforderung von der Lehrerin: Die Erwachsenen sollen sich jeweils neben eine Person setzen, die sie nicht kennen. Auch dieser Aufforderung kommen alle nach.

Nun ist die Lehrerin mit der Verteilung der Personen im Raum zufrieden.[1] Sie eröffnet die Versammlung, indem sie eine Stoffkuh präsentiert. Diese Stoffkuh ist von den Kindern der Klasse als ‘Maskottchen’ gewählt worden.[2] Sie dient dazu, in Kreisgesprächen die Reihenfolge der RednerInnen einzuhalten: nur wer die Kuh in der Hand hält, darf reden.

Und nun sollen die Eltern reihum jeweils die Kuh in die Hand nehmen, sich vorstellen und sodann die Kuh weitergeben.

Unglaublich: das funktioniert!

Ist das nun traurig oder komisch?

Wie man’s nimmt. Zuerst einmal ist es normal - und das gerade ist das skandalöseste an der ganzen Geschichte, daß das keinem auffällt, für wie saublöd man dabei doch verkauft wird.

Aber hallo! Das ist doch wirklich nicht der richtige Ton ...

Von mir aus, das läßt sich auch anders ausdrücken: Hier wird den Eltern der Kinder, die sich zur ersten Klassenelternversammlung nach der Einschulung ihrer Kinder an einer weiterführenden Schule treffen, in symbolischer Manier deutlich gemacht, welche Rolle sie in der Institution Schule zu spielen haben. Das ganze passiert im Rahmen eines szenischen Arrangements, dessen wesentlicher Inhalt die Demonstration der institutionellen Strukturen ist, in denen es inszeniert wird. Wesentliche Elemente dieser Inszenierung sind die Isolation und die Infantilisierung der Erwachsenen durch entsprechende Teilhandlungen, an deren Vollzug im idealen Falle die Erwachsenen auch noch beteiligt werden.

Ist das besser ausgedrückt? Scheißegal, wie sich das nun anhört, Skandal bleibt Skandal, Punkt.

Hier geht es nicht darum, die 21 Erwachsenen, die sich da versammelt haben, kennenzulernen. Hier geht es nicht darum, Meinungen, Einstellungen und Interessen auszutauschen. Hier geht es schlicht nicht darum, miteinander ins Gespräch zu kommen. Hier geht es darum, daß die Schule sich vorstellt, ihr Programm, ihre Szenerie, ihre Didaktik und ihre Methodik vorstellt - aber auch nicht mehr. Widerspruchslos fressen ist angesagt, dabei im Stuhlkreis sitzen, erst die Stoffkuh, dann den Rand halten.

Fragen?

Bitte nur zur Sache und weder ‘unrealistisch’, noch ‘grundsätzlich’ ...

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Der Mathelehrer stellt sich vor. Er kommt etwa eine halbe Stunde nach Beginn der Veranstaltung in den Raum, setzt sich auf einen freien Stuhl hinter einem Tisch und wird von der Klassenlehrerin aufgefordert, etwas zu seinem Fach zu sagen.

Er sagt etwas zu seinem Fach: zu Rahmenplan, Themenfolge und Stundenverteilung.

Er sagt etwas zur Basis, zum Fundament, das - ähnlich wie bei einem Haus - die mathematischen Kenntnisse tragen muß.

Er sagt etwas zu Hausaufgaben und zu Klassenarbeiten und Tests ...

Eine Frage:

Wenn er Klassenarbeiten und Tests schreiben läßt (und diese benotet), was passiert dann mit den Kindern, die in diesen Arbeiten eine schlechte Note schreiben? Die haben doch offensichtlich das gewünschte Lernziel nicht erreicht. Wiederholt er das Thema dann noch einmal, damit die das auch noch lernen, damit die auch noch eine solide Basis, ein Fundament bekommen für ‘später’?

Wenn nicht, was soll dann die Klassenarbeit oder der Test? Das ist doch für die Kinder, die schlechte Noten bekommen nix anderes als eine zusätzliche Bestrafung zu der Tatsache, daß sie das geforderte Lernpensum schon nicht erfüllt haben.

Keine Antwort. Das ist doch wohl zu ‘grundsätzlich’, außerdem hat er ‘Probleme mit den Begrifflichkeiten’; also ‘Strafe’, da verstehe er ja doch etwas anderes drunter.

Schließlich die Feststellung, daß man über ‘realistische Fragen’ mit ihm jederzeit reden könne.[3]

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Zwischenspiel:

Die Klassenlehrerin ‘glättet die Wogen’, indem sie anbietet, über ‘grundsätzliche Fragen’ in einem Gespräch mit dem Frager und dem Mathelehrer zu reden.[4]

Und dann menschelt sie den alltäglichen Skandal in eine Rationalisierung der trivialsten Art: ‘Ich hatte auch keine guten Mathenoten ...’ und ‘bin trotzdem noch was geworden’ ...[5]

Abtritt des Mathelehrers.

Nun stellt die Klassenlehrerin ihr eigenes Fach ‘Gesellschaftslehre’ vor. Sie erzählt von der Klassenstruktur, von Ordnungsdiensten, die die Kinder untereinander verteilt haben und von der KlassensprecherInnenwahl.

Dieses Thema führt sie näher aus, indem sie beschreibt, daß sie erst ein paar Wochen gewartet hat, bevor sie die Kinder hat wählen lassen, damit diese sich untereinander erst einmal etwas besser kennenlernen können.

Darüber hinaus hat sie die Wahl nicht ‘einfach so’ vollzogen, sondern in eine ‘didaktische Einheit’ verpackt. Die Kinder sollten zuerst einmal sagen, wofür einE KlassensprecherIn denn da ist.

Dabei kamen Antworten wie ‘Aufräumen, Streit schlichten, Fenster zumachen’ u. ä. neben Antworten wie ‘Zuverlässig sein, Hilfsbereit sein’ usw. In der daran anschließenden Gesprächssituation wurden dann die Ordnungsdienste als der/dem KlassensprecherIn nicht zumutbar zurückgewiesen. Es blieb danach eine Liste von Eigenschaften übrig (zuverlässig, freundlich, hilfsbereit etc.). Damit hatten die Kinder die Wahlkriterien.

Schließlich wählten sie und zwar eine Klassensprecherin - und weil die Hälfte der Kinder Jungen, die andere Hälfte Mädchen sind, auf eigenen Wunsch, wie die Lehrerin betonte, einen Vertreter.

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Auftritt der Lehrerin in den naturwissenschaftlichen Fächern.

Sie setzt sich auf den Platz der Klassenlehrerin an der Stirnseite des Raumes vor dem Lehrertisch. Die Klassenlehrerin geht gleichzeitig in den Klassenraum gegenüber, wo sie sich einer anderen Elternversammlung als Fachlehrerin vorstellt.

Nun also die Lehrerin in ‘NaWi’ (Naturwissenschaften). Auch sie sagt etwas zu ihrem Fach, das eigentlich aus drei Fächern besteht: Chemie, Physik, Biologie. Auch sie erzählt von Rahmenplänen, Themenfolge und Stundenverteilung.

Von Seiten der Eltern keine Fragen. Die Versammlung erscheint müde.

Also erzählt sie weiter, das gleiche, was sie eben allgemein beschrieb nochmal anhand von Beispielen. So geht eine Viertelstunde vorbei. Immer noch keine Fragen.

Schließlich doch noch eine Frage zu der Möglichkeit, daß die Kinder bis zum Ende des Zehnten Schuljahres nicht genug gelernt haben könnten, um auf der Oberstufe mithalten zu können.[6]

Beruhigende Worte von der Lehrerin, der Stoff sei der gleiche, egal ob drei Fächer oder eines, in dem die drei aufgehen.

Schließlich Abtritt der Lehrerin, Auftritt der Englischlehrerin.

Sie wählt den Platz an der Tür, bleibt stehen, die Tür bleibt offen.

Kurze Informationen zum Fach Englisch, zu den ersten Wochen in der Klasse (‘Es macht richtig Spaß in die Klasse zu gehen. Die sind ja noch so begeistert und ohne jeden Argwohn. Das kommt wohl auch davon, daß die in der Grundschule zum großen Teil keine Noten bekommen haben ...’) und zum weiteren Vorgehen.

Einzige Frage: Wie gewichtet sie wohl bei der Benotung?

Antwort: Sprechen ist schon sehr wichtig. Allerdings wird sie auch Klassenarbeiten schreiben lassen und mit zunehmender Dauer wird das schriftliche wohl auch einen stets größer werdenden Anteil der Note ausmachen.[7]

Rückkehr der Klassenlehrerin, die die Versammelten fragt, ob sie denn jetzt gleich wählen wollen, oder lieber eine Pause vorziehen. Angesichts eineinhalb Stunden ‘wesentlicher Information’ am Nullpunkt jeder Aufmerksamkeit ist die Pause einhellig beschlossen.

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Nachdem alle wieder ihre Plätze eingenommen haben, eröffnet die Klassenlehrerin den ‘offiziellen Teil’ der Versammlung: die Wahl der Klassenelternbeiräte.

Stop! Eine Frage:

‘Wenn wir hier jetzt einen Klassenelternbeirat wählen, so wählen wir damit doch einen Vertreter unserer Interessen. Da wir aber noch gar nicht darüber geredet haben, welches überhaupt unsere Interessen im Rahmen der Schule oder auch darüber hinaus sind, wie können wir da jemanden als Vertreter derselben wählen? Und: Am Beispiel der KlassensprecherInnenwahl hat doch die Klassenlehrerin vorher zweierlei dargestellt. Erstens nämlich, daß die Wahl eines Vertreters zumindest ein Mindestmaß an gegenseitigem Kennenlernen erfordert (weshalb die Klassensprecherin ja auch erst nach drei Wochen gewählt wird) - und zweitens, welche Kriterien einer Wahl auch zugrunde liegen können, nämlich so völlig unverbindliche Eigenschaftszuschreibungen wie Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft oder Zuverlässigkeit. Nicht, daß diese Eigenschaften für sich genommen unwichtig wären, sie sagen aber noch nichts aus über die konkrete Position in einem Konflikt, die eine Person einnimmt, über deren Standpunkt und deren Interessen.

Sollten wir daher nicht die Wahl besser heute nicht vollziehen und zuerst einmal in die Debatte über unsere Interessen eintreten?’

Aufruhr.

Das geht jetzt aber zu weit. Das kann doch in so einem Treffen gar nicht geleistet werden, ...

Na eben, deshalb.

Schließlich nach einigen Minuten Wallung die ‘formale Antwort’ von einem beflissenen Elternteil, es könne ja ein Antrag gestellt werden, die Wahl zu verschieben und wenn er nicht gestellt werde, dann solle jetzt eben gewählt werden. Auf gut Deutsch: Halt’s Maul, wir ziehen hier jetzt das Ding durch. Von wegen Interessen und Diskussion und Debatte, wo soll das denn hinführen ...

Also kein Antrag, keine Diskussion, keine Verschiebung.

Wer will denn nun Elternbeirat werden?

Ein Vater meldet sich. Er würde das machen.

Noch ne Frage, diesmal konkret:

‘Wenn denn nun tatsächlich eine Klassenarbeit geschrieben wird, z. B. in Mathe und dabei Kinder mit einer fünf oder sechs abschneiden, wird er sich dann wohl dafür einsetzen, daß das Thema dann wiederholt wird, damit diese Kinder doch noch eine ‘gesunde Basis’, ein ‘tragfähiges Fundament’ in Mathe bekommen?’

Antwort: Das ist nicht die Aufgabe des Klassenelternbeirates ...

Ach ja, ich vergaß, der hat ja nichts zu vertreten, der hat ja nur zu sein, nämlich zuverlässig, hilfsbereit und freundlich, so wie die Pfadfinder ... unverbindlich und schwammig, nach allen Seiten nett und leicht verdaulich.

Schließlich das Prozedere - vor dem Hintergrund der vor Augen geführten Absurdität des Ganzen: Stimmzettel austeilen, Namen draufschreiben (es gibt nur je eineN KandidatIn für die zwei Ämter! - aber geheime Abstimmung, au weia!), Stimmzettel einsammeln, Stimmen auszählen, etc.

an diesem punkt: abbruch und vorläufiges ende
bevor der wahnsinn endgültig mit seinen klauen zupackt

Anmerkungen

[1] Was hat sie damit erreicht? Ganz einfach: die Personen haben neben sich keineN BekannteN, also auch niemanden, mit dem ein ‘vertrauliches Flüstern’ möglich wäre, oder allgemeiner: die bestehenden (ohnehin nur wenig ausgeprägten) Beziehungsstrukturen innerhalb der ihr gegenübersitzenden Gruppe sind durch die von der Lehrerin vorgegebenen Sitzordnung in der aktuellen Situation aufgelöst worden. Sie hat die Eltern im Rahmen ihrer Möglichkeiten isoliert und somit die Möglichkeit einer größeren Kontrolle über die Situation geschaffen. Dies umso mehr, als sie diese Situation als Einstieg in die Veranstaltung wählt und dabei das aktive Mittun der Eltern (Tischerücken, Plätzewechseln) fordert.

[2] Natürlich nicht von alleine, sondern genauso auf Aufforderung der Lehrerin hin ...

[3] Na was denn jetzt: Grundsätzlich oder unrealistisch? Eine unrealistische Frage kann ja wohl kaum ‘grundsätzlicher Natur’ sein ...

[4] Und spielt damit in ihrer vorherigen Strategie weiter: nicht Debatte, Diskussion, Kennenlernen, Gespräch aller mit allen, öffentliche und kontrovers. Statt dessen: isoliert, ‘unter uns’, vertagt ...

Im Übrigen: ich warte noch immer auf einen Terminvorschlag!

[5] Unter der Hand entzieht sie sich damit die Basis für die selbst praktizierte Notengebung; denn wenn Noten keinen Aussagewert für künftige Lebenserfolge haben, wenn sie weiterhin nicht der Feststellung von Lerndefiziten zum Zwecke ihrer Behebung dienen, dann sind sie schlicht sinnlos - oder aber sie haben einen anderen, nicht benannten Sinn.

Daß dies tatsächlich so ist, wissen wir natürlich alle. Allerdings ist es nicht ‘statthaft’, diesen tatsächlichen Sinn der Noten offen anzusprechen, wenn man es mit berufsmäßigen BenoterInnen zu tun hat. Es kratzt ihnen zu sehr an der professionellen Ehre. Ihre Scheinheiligkeit läßt sich nämlich nicht mit der Tatsache vereinbaren, daß die schulische Benotung lediglich den Sinn hat, die SchülerInnen in verschiedene Kategorien der Verwertbarkeit im Rahmen des kapitalistischen Arbeitsmarktes einzustufen. ‘Plazierungsfunktion’ nennen das Sozialwissenschaftler in ihrem Fachchinesisch und meinen damit nix anderes, als daß die Noten eben dazu taugen, einigen den Weg zur Uni zu öffnen, anderen aber zu verschließen, je nach Arbeitsmarktlage.

[6] Na also, so ist’s besser. Nicht grundsätzlich, nicht unrealistisch, immer schön in der Logik der schulischen Vorgaben: Eltern haben besorgt darum zu sein, daß der Nachwuchs auch genug lernt, um ‘auf der Oberstufe zu bestehen’.

[7] Ob es ihr wohl irgend wann mal in den Sinn kommt, daß sie damit die Quelle der Begeisterung zum Versiegen bringt, die sie zuvor so euphorisch begrüßt hat ...

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.