Ägypten war über Jahrzehnte ein
überaus wichtiger Partner für den „westlichen“ Imperialismus
in der arabischen Welt. Die jüngsten revolutionären
Erhebungen stellen die imperialistischen MachthaberInnen nun
aber vor neue Herausforderungen...
Wie andere Länder der Region auch (zum
Beispiel Syrien) lehnte sich Ägypten in den 1960er Jahren an
die stalinistische Sowjetunion an. Der „Nasserismus“ unter
Staatspräsident Gamal Abdel Nasser verstaatlichte
wesentliche Teile der Ökonomie (ohne die kapitalistisch
Funktionsweise der Wirtschaft grundsätzlich anzutasten), gab
sich verbalradikal antiimperialistisch und sozialistisch. In
den 1970er Jahren kam es jedoch unter Nassers Nachfolger
Anwar as-Sadat zu einem Wechsel in Richtung einer Anlehnung
an die USA und Israel. 1979 wurde schließlich ein
Friedensvertrag mit Israel geschlossen – der die Aufhebung
des Kriegszustandes, gegenseitige Anerkennung sowie die
Rückgabe der Sinai-Halbinsel an Ägypten vorsah.
Gleichzeitig privatisierte das Sadat-Regime (später von
Mubarak fortgeführt) Staatsbetriebe, lockerte
wirtschaftliche Einschränkungen und öffnete die Ökonomie
gegenüber stärkerer imperialistischer Durchdringung. So
entstanden auch die Bedingungen, die den Nährboden für die
gegenwärtige Revolte bilden: Armut, (Jugend-)Arbeitslosigkeit,
Perspektivlosigkeit für die breite Masse und eine enorme
soziale Polarisierung; jene Revolte, die den Imperialismus
nun vor neue Herausforderungen stellt.
Reaktionen des Imperialismus
Zu Beginn der Massenproteste in Kairo, Alexandria und
anderen ägyptischen Großstädten waren die Regierungen in
Europa und Nordamerika überrascht und mit der Situation
überfordert. Vor kurzer Zeit noch undenkbar, stellte eine
Massenbewegung plötzlich den Langzeitpräsidenten Husni
Mubarak in Frage, seines Zeichens essentieller Verbündeter
der USA und anderer imperialistischer Staaten. Erst als sich
immer mehr herauskristallisierte, dass Mubarak nicht mehr
haltbar ist, änderten die einzelnen RegierungsvertreterInnen
schrittweise ihre Position.
Nachdem sich etwa die US-Regierung anfänglich noch klar
hinter Mubarak stellte, forderten dann Obama, Clinton und
andere VertreterInnen des US-Imperialismus immer deutlicher
eine Ablöse des verhassten Diktators. So meinte Obama nach
der letzten Fernsehansprache von Mubarak vor seinem
Rücktritt, die ägyptische Regierung müsse einen
„glaubwürdigen, konkreten und unmissverständlichen Pfad in
Richtung einer echten Demokratie einschlagen, und sie habe
diese Gelegenheit noch nicht beim Schopf ergriffen“.
Auch die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton sprach sich
für einen umgehenden Machtwechsel in Ägypten aus: „Die Zeit
für den Wechsel ist jetzt“, erklärte Ashton und meinte,
Mubarak habe „den Weg für schnellere und umfassendere
Reformen noch nicht freigemacht“. Die Europäische Union
werde sich jedenfalls weiterhin für einen „geordneten,
sinnvollen und dauerhaften Wandel“ in Ägypten einsetzen. Von
einem „geordneten Übergang“ sprach auch Angela Merkel auf
dem unlängst in München abgehaltenen Kriegstreibertreffen
(„NATO-Sicherheitskonferenz“).
Signifikante Interessenunterschiede zwischen US- und
EU-Imperialismus scheint es in dieser Frage bislang nicht zu
geben. Doch was meinen die „hohen“ Damen und Herren, wenn
sie von einem „geordneten“ und „sinnvollen“ Wandel sprechen?
Sowohl Clinton als auch Merkel warnten auf der Münchner
Konferenz vor einem „zu schnellen“ Übergang zur
„Demokratie“. Diese könne „Instabilität“ hervorrufen oder
sogar zu einem neuen „autoritären Regime“ führen.
Der Imperialismus und die
Demokratie
Nun, autoritäre Regime haben den US- und EU-Imperialismus
nie gestört – solange sie nur kooperiert haben. Das sehen
wir etwa am Beispiel Saudi-Arabien, wo ein extrem
reaktionäres Königshaus regiert, dass Homosexualität unter
Todesstrafe stellt und Frauen das Autofahren in Städten
verbietet. Wo bleiben hier die Forderungen der
imperialistischen OberheuchlerInnen aus Washington, Berlin
oder Paris nach Demokratisierung? Und wo waren sie, als Ben
Ali und Husni Mubarak noch fest im Sattel saßen?
Wovor Obama, Merkel und Co. Angst haben, ist, dass hier
Kräfte an die Macht kommen, die nicht gewillt sind, den
Kofferträger für den Imperialismus zu spielen. Dabei kann es
sich – theoretisch – um islamistische Kräfte handeln, so wie
etwa im Iran 1979, wo es islamischen Fundamentalisten
gelungen ist, eine anfangs progressive Revolution zu
okkupieren (mehr dazu in "Revolutionen nach 1945 "). Doch es
liegt in der sozialen Systematik islamistischer Strömungen,
dass sie, da sie keine über die kapitalistischen
Produktions- und Eigentumsverhältnisse hinaus gehende
Perspektive haben immer wieder zu einem Deal mit dem
Imperialismus finden müssen (siehe etwa die Taliban Mitte
der 90er Jahre – sieh dazu "Antikriegsbewegung und
Islamismus "). Und schließlich gibt es gegenwärtig in
Ägypten auch gar keine relevanten islamistischen Kräfte, die
auf Konfrontationskurs mit dem Imperialismus gehen würden.
So hat etwa Essam El Eryan, einer der führenden Vertreter
der einflussreichen Muslimbrüderschaft, in einem
israelischen Fernsehinterview gesagt, dass er die Verträge
Ägyptens mit Israel nicht antasten würde. Und ausländische
islamisch-fundamentalistische Kräfte verfügen über zu wenig
Verankerung in Ägypten. Wenn der irakische Al-Qaida-Ableger
mit deutlicher Verspätung völlig aufgesetzt zum „heiligen
Krieg“ im nordafrikanischen Land aufruft, dann zeigt das
letztendlich doch nur, wie wenig Einfluss diese jämmerliche
Organisation auf die derzeitige Massenbewegung hat.
Was die imperialistischen Regierungen um jeden Preis
verhindern wollen, ist, dass die Massen in Ägypten, Tunesien
und der (arabischen) Welt überhaupt sich ihrer Kraft bewusst
werden und selbst die Initiative ergreifen. Eine Erhebung
der mächtigen arabischen ArbeiterInnenklasse, die sich
angesichts der gegenwärtige ökonomischen Weltlage ausbreiten
könnte wie ein Flächenbrand – das kann der Imperialismus am
wenigsten gebrauchen. Gerade Ägypten ist ökonomisch und
geostrategisch gesehen für den „Westen“ eines der
wichtigsten Länder der Region. Durch den 162 km langen
Sueskanal gehen fast zehn Prozent des weltweiten Seehandels,
darunter ein erheblicher Teil der Öllieferungen. Ein Ausfall
der günstigen Konditionen, zu denen Schiffe den Wasserweg
benutzen können, würde den Ölpreis nachhaltig nach oben
treiben. Der Kanal gilt daher als einer der sieben zentralen
geografischen Punkte, die vom US-Energieministerium als
besonders wichtig für den globalen Ölhandel eingestuft
werden.
In der Sprache des Imperialismus bedeutet ein „sinnvoller“
Übergang eine Ablösung des alten bürgerlich-kapitalistischen
Regimes durch ein neues bürgerlich-kapitalistisches Regime
mit neuen, in der Bevölkerung beliebten Köpfen an der
Spitze, gleichzeitig aber starken personellen und
organisatorischen Kontinuitäten. In der Sprache Obamas
bedeutet das: „Die USA waren und sind ein Freund Ägyptens.“
Richtig! Die Herrschenden der USA waren ein Freund des
Mubarak Regimes, genauso, wie sie nun mit einer neuen
Führung nach ihren Vorstellungen befreundet sein wollen.
Welche konkrete Person nun an der Spitze steht, ist für den
Imperialismus relativ egal, solange seine Bedingungen
erfüllt sind. So gilt etwa der bisherige Vize-Präsident Omar
Suleiman als Favorit Israels und auch der USA, wie auf
Wikileaks veröffentlichte Depeschen aus dem Jahr 2008
zeigen. Doch der ehemalige Geheimdienst- und Folterchef
Suleiman ist auch nicht gerade der Liebling der Massen. In
der arabischen Welt gut verkaufbar wäre wohl auch der der
ehemalige IAEO-Generaldirektor Mohammed el-Baradei, der
gegen den Irak-Krieg war, jedoch trotzdem
pro-imperialistisch genug eingestellt ist.
Die spannende Frage ist natürlich, ob sich die ägyptischen
Massen diese oder ähnliche Figuren aufschwatzen und als
„Wandel“ verkaufen lassen. Die gegenwärtige Dynamik der
Bewegung, die auch stark von Streiks in verschiedenen
Branchen geprägt wird, spricht eher nicht dafür.
Andererseits fehlt eine relevante revolutionäre
Organisation, die imstande wäre, eine tatsächlich
systemüberwindende Perspektive zu geben und die Proteste
weiter zu treiben.
„Demokratischer Wandel“
Nach dem Rücktritt von Mubarak scheint es nun so, als würde
sich die ganze Welt mit den Massen in Ägypten freuen. Von
Sarkozy („historischer Moment“) über Obama („Die Ägypter
haben uns inspiriert“) bis hin zum iranischen Außenminister
Ali Akbar Salehi („Sieg“) übten sich die Regierungen
weltweit im Süßholz raspeln. Dass nun die Armee
vorübergehend (auch) formell die Macht im Land übernommen
hat – und nicht etwaige Revolutionskomitees oder
ArbeiterInnenmilizen - , ist natürlich ganz im Sinn des
Imperialismus, der möglichst schnell wieder „Stabilität“
(NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen) im Land sehen
will.
Nun wollen die imperialistischen Regierungen „die
Entwicklung in Richtung Demokratie zu unterstützen“, wie es
der deutsche Außenminister Guido Westerwelle ausdrückte.
Gleichzeitig müssen natürlich Warnungen vor einem „zu
schnellen Übergang zur Demokratie“ a la Merkel
berücksichtigt werden. Übersetzt heißt das: Es soll
bürgerlich-demokratischen Wahlen geben, allerdings nicht zu
schnell, damit vorher noch besonders pro-“westliche“
Strömungen und Parteien aufgebaut werden können, die stark
genug sind, das Land im Sinne von USA und EU zu führen. Das
heißt: Weiterführung günstiger Handelsbedingungen und guter
Konditionen bei der Benutzung des Sueskanals, Kooperation im
„Kampf gegen den Terror“, Unterstützung Israels bei der
Unterdrückung des palästinensischen Widerstands und so
weiter.
Internationale Solidarität
USA und EU werden alles tun, um eine Weiterführung der
ägyptischen Revolution hin zu einer wahren Demokratie der
ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen und verarmten Massen, hin
zu einer Vergesellschaftung der kapitalistischen Wirtschaft
zu verhindern. Doch dieser Weg ist der einzige, der eine
dauerhafte und umfassende Verbesserung der sozialen Lage
großer Teile der ägyptischen Bevölkerung bringen könnte. Die
ägyptische ArbeiterInnenklasse braucht keine heuchlerischen
Glückwünsche der KriegstreiberInnen in Washington, Berlin
oder Paris. Was sie braucht, ist die Solidarität der
ArbeiterInnenbewegung hier, im Herzen des Imperialismus. Und
die beste Solidarität, die wir geben können, ist immer noch
der Kampf vor Ort, gegen die eigene herrschende Klasse.
Editorische
Anmerkungen
Wir erhielten den Artikel von der
RSO-Website.
