Scheinkritik
Auch eine exemplarische Buchbesprechung

von Richard Albrecht

02/12

trend
onlinezeitung

Bewußseinsfalsifikation

Es gibt so verschiedene und vielfältige Möglichkeiten, Varianten und Formen, Menschen zu verdummen wie es vielfältige und verschiedene Gruppen, Medien und Publica gibt vom plebejisch-rechtspopulistischen BILD Boulevard[1] über mittelständisch-gebildete Periodica wie ZEIT und SPIEGEL bis hin zu intellektuell ausgeklügeltem „Betrug und Täuschung in der Wissenschaft“[2]. All´ dies und all´ diese nimmt und nehmen entsprechend des gesellschaftlich vorherrschenden oder dominanten Charakters auch der Medien systemischen Charakter an und bildet und bilden das besondere Mediensystem[3] mit seinen „vielen und nachhaltig wirksamen Medien als Bestandteile einer über bloße ´Bewusstseins-Industrie´ (Hans Magnus Enzensberger) weit hinausgehenden ´Verdummungsindustrie´ mit ihren Verblendungs-, Verkehrungs- und Umwertungsmechanismen zur strategischen Verstärkung der durch den Warenfetisch jeder kapitalistischen Gesellschaft immer schon gegebenen spontanen Mystifikation als ´gesellschaftliche Gefolgschaft´“[4]. Dies bewirkt auch und gerade im entwickelten Spätkapitalismus das, was Reinhard Opitz[5] selbstbewußte, interessensbezogene und gemeinschaftliche Handlungen sei´s blockierende und sei´s verhindernde „Bewußtseinsfalsifikation“ nannte[6].

Zensur im Netz

Thomas R. Köhlers FAZ-Buch zur Internetfalle[7] beansprucht den leserhilfreichen „Blick hinter die Kulissen der Webwelt“. Das im langen Untertitel drei Mal vernutzte dumdumdum-deutsche oder Krotten-WIR wird, so auch hier, typischerweise dann benützt, wenn etwas nicht begründet, sondern einverständig behauptet wird, das „für uns“ als selbstverständlich gelten soll.

So auch und beispielhaft die hier mehrfach angesprochene, mich auch nicht erst seit vorvorgesternmittag interessierende Zensur im allgemeinen[8] und die im „world wide web“ genannten Netz im besonderen. Zensur wird wohl einerseits vom Autor abgelehnt. Aber was Zensur andererseits ist und wie Zensur im Netz funktioniert bleibt so unbegriffen wie ungeklärt, wie in welchen Formen Zensur im Netz auftritt und warum Zensur im Netz abzulehnen ist. Stattdessen heißt es so eingängig wie oberflächlich zur Zensur im Netz heute:

„Wer aufmerksam seine Webnutzung beobachtet, kann ab und zu Hinweise auf bereits existierende Sperrungen oder Ausschlüsse hierzulande finden, die man durchaus als Zensur interpretieren kann. So meldete Google im Rahmen der Recherchen für dieses Buch einmal:

´Aus Rechtsgründen hat Google 3 Ergebnis(se) von dieser Seite entfernt´. Ohne weiter auszuführen, warum und wieso die konkrete Suche […] nun illegale Treffer beinhalten soll. Da alles, was nicht in der Suchmaschine gefunden wird, aus Nutzersicht praktisch nicht existent ist, ist der Effekt einer ´Entfernung von Suchergebnissen´ aus der Google-Trefferliste für „Otto-Normalnutzer“ im Prinzip der gleiche wie eine Websitesperre – es sei denn, der Endanwender kennt die Internetadresse bereits oder findet sie über Hyperlinks.“

Der vom Autor fingierter „Normalnutzer“ wird freilich was den vom Autor beanspruchten aufklärenden „Blick hinter die Kulissen der Webwelt“ betrifft in aller nur möglichen Hinsicht enttäuscht: Es fehlt nicht nur jeder Hinweis auf das, was Zensur (und zensieren) als Überprüfung und/oder Überwachung von (traditionell) gedruckten Texten[9] wie (heute) online zugänglichen Netzseiten und -inhalten ist und um welche Formen wie Vor- oder/und Nachzensur und um welche Einrichtungen wie Staat oder/und Unternehmungen es sich handelt. Es fehlt im speziellen auch jede konkrete Kritik an von Google exekutierter, dort verniedlichend Ergebnisentfernung genannter, faktischer Nachzensur etwa der deutsch(sprachig)en Suchmaschine, deren justiziell veranlasste Wirksamkeit in einer (mikro)empirischen Leitstudie 2006/07 untersucht und 2007/08 publiziert wurde.[10]

Kritik als Pose

Das google-Zensurbeispiel läßt sich verallgemeinern: was gelegentlich polemisch PISAisierung genannt wird und zunächst als „Wikipedianisierung der Erkenntnis“[11] daherkommt ist, zeitdiagnostisch-kultursoziologisch gesehen, mehr: Aufklärung wird nur scheinkritisch behauptet, faktisch aber ins Gegenteil verkehrt. Insofern erfüllt Scheinkritik konkret-historisch und sozial-empirisch eine Doppelfunktion: einmal historisch „mögliches Bewußtsein“[12] zu hintergehen und zum anderen und zugleich das TINA-Syndrom (there is no alternative) als scheinbar alternativlose, realexistierende Faktizität zu befestigen – auch wenn, wie hier beispielhaft oder exemplarisch zitiert, ein dutzend“liberaler“ Gemeinplatz in Form bestenfalls „links“liberalen Feuilleton-„Gewäsches“ (Ernst Bloch) zur Bedeutung der Suchmaschine Google im weltweiten Netz als Einsicht in Zusammenhänge oder aufklärende Erkenntnis ausgegeben wird. Dieser Scheinaufklärung entspricht denn auch der Verlagshinweis, demzufolge der Autor (so der „Klappentext“) nicht „einer der führenden IT/TK-Experten im deutschsprachigen Raum“ ist, sondern als solcher „gilt“.

Als (noch immer wissenschaftlich arbeitender) post-68er-Sozialwissenschaftler folge ich, wenn´s um - wie hier beschriebene - Scheinkritik geht, dem Rat eines kritischen Juristen: „Eine – an sich mögliche und sinnvolle – kritische Überprüfung l o h n t in der Regel n i c h t , wenn die Begründungs w e i s e erkennen läßt, daß nicht ehrlich argumentiert wird“[13], verzichte auf jeden scheinkritischen „Blick hinter die Kulissen“ und laß´ auch postmodernisch-beliebige Modetheoreme als belanglos-talmisoziologischen SOWISIFF[14] rechts liegen …


Anmerkungen
 

[1] Richard Albrecht, BILD-Wirkung; in: Neue Politische Literatur, 27 (1982) 3: 351-374; ebenda, 31 (1986) 2: 274-286[2] Richard Albrecht, Gaukeleien der Bekenner: Betrug und Täuschung in der Wissenschaft, in: Deutsche Universitätszeitung vom 16. 6. 1986: 21-22

[3] Richard Albrecht, Staat – Monopole – Massenmedien; in: Marxistische Blätter, 17 (1979) 3: 26-35

[4] Richard Albrecht, "Weltmacht" Habermas – Mikroempirische Untersuchung zur Habermas-Rezeption in der deutsch(sprachig)en Netzenzyklopädie Wikipedia; in: Tönnies-Forum, 18 (2009) 2: 5-25; erweiterte & actualisierte kostenfreie Netzversion udT. HABERMAS - Porträt eines ganzdeutschen Ersatzintellektuellen in zwei Teilen
http://www.duckhome.de/tb/archives/9060-HABERMAS-EIN-GANZDEUTSCHER-ERSATZINTELLEKTUELLER-1.html
http://www.duckhome.de/tb/archives/9061-HABERMAS-EIN-GANZDEUTSCHER-ERSATZINTELLEKTUELLER-2.html
[5] Als kurze Übersichten zu Leben & Werk von Reinhard Opitz http://www.linksnet.de/linkslog/index.php?itemid=278&catid=13
http://www.trend.infopartisan.net/trd0112/030112.html
http://duckhome.de/tb/archives/9727-UEBERZAEHLIGKEITSANGST.html
[6] Richard Albrecht, Reinhard Opitz´ These der Bewußtseinsfalsifikation - 30 Jahre später: http://www.grin.com/e-book/108957/reinhard-opitz-these-der-bewusstseinsfalsifikation-30-jahre-spaeter;  gedruckt in: Topos. Internationale Beiträge zur dialektische Theorie, 24/2005, 124-146 [und] Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 48 (2006) 4: 125-143; aktualisierte Netzversion http://duckhome.de/tb/archives/9164-BEWUSSTSEINSFALSIFIKATION.html
[7] Thomas R. Köhler, Die Internetfalle. Was wir online unbewusst über uns preisgeben und wie wir das World Wide Web sicher für uns nutzen können. Frankfurt/Main: Frankfurter Allgemeine Buch, 2010, 234 p., ISBN 978-3-89981-230-5

[8] Richard Albrecht, Literatur – Medien – Zensur; in: die horen, 24 (1979) 113: 121-140

[9] Wolfgang Pfeifer u.a., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen [1989]. München: dtv 3358, 1995: 1601

[10] Richard Albrecht, nachzensur.de: Einblicke in die deutsche „Google-Gesellschaft“; in: Aufklärung und Kritik, 14 (2007) II: 214-224; wieder in ders., SUCH LINGE. Vom Kommunistenprozeß zu Köln zu google.de. Sozialwissenschaftliche Recherchen zum langen, kurzen und neuen Jahrhundert (= Berichte aus der Sozialwissenschaft). Aachen: Shaker, 2008: 85-100; der Autor verwies auch beispielhaft auf (damals noch via google.com mögliche) Umgehungsvarianten von google.de-Nachzensurakten
[11] Albrecht, SUCH LINGE: 13
[12] Lucien Goldmann, L´importance du concept de conscience possible pour la communication [1965]; deutsche Textfassung in: ders, Kultur in der Mediengesellschaft (= Reiher Fischer 35). Frankfurt/Main: S. Fischer, 1973: 7-18
[13] Egon Schneider, Logik für Juristen. Die Grundlagen der Denklehre und der Rechtsanwendung. Berlin; Frankfurt/Main: Fanz Vahlen, 1965: 280; http://duckhome.de/tb/archives/9816-LOGIK-FUER-JURISTEN.html
[14] Richard Albrecht, SOWISIFF; in ders. (Hg.), FLASCHEN POST. Beiträge zur reflexivhistorischen Sozialforschung. VerKaaT 2011: 39-46; http://gegen-den-strom.org ; http://duckhome.de/tb/archives/8908-SOWISIFF.html  ; http://www.saarbreaker.com/2011/02/sowisiff/

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom  Autor.

Richard Albrecht (Ph.D.; Dr.rer.pol.habil.) lebt als reflexionshistorisch arbeitender Sozialforscher & Freier Autor in Bad Münstereifel. Eigener Forschungsansatz The Utopian Paradigm; in: Communications, 16 [1991] 3: 283-318; gekürzt http://www.grin.com/en/e-book/109171/tertium-ernst-bloch-s-foundation-of-the-utopian-paradigm-as-a-key-concept  

Bio-Bibliographischer Link http://wissenschaftsakademie.net  Kontakt eingreifendes.denken@gmx.net