Ein Jahr nach dem Ausbruch der tunesischen Revolte und Beginn des „Arabischen Frühlings“
Überarbeitete Fassung eines Debattenartikels für die Berliner Wochenzeitung ,Jungle World’


von
Bernard Schmid

02/12

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Der Abgeordnete Sadok Chourou lässt seiner Fantasie freien Lauf. Unter Berufung auf einen Text aus der Zeit des Propheten Mohammed stellte der Parlamentarier der - seit den Wahlen vom 23. Oktober 11 mit relativer Mehrheit ausgestatteten, und in einer Koalition regierenden - tunesischen Partei En-Nahdha sich die Behandlung von Demonstranten vor, „die Straßen oder Fabriken blockieren. Von Kreuzigen war da die Rede, von anderen Hinrichtungsarten, und auch vom Amputieren. Chourou ist ein Mitglied deralten Garde der tunesischen Islamisten, und wird von den jüngeren Anhängern mitunter missträuisch beäugt.

Solche Ausfälle definieren sicherlich nicht die, in der Welt der Realpolitik angesiedelte, Strategie der Regierungspartei En-Nahdhaim wirklichen Leben“. Aber diese steht oft extrem unvermittelt neben einer ideologischen Fantasiewelt, die sich aus vormodernen Erinnerungen und über ein Jahrtausend alten Textquellen schöpft. Ähnlich verhielt es sich mit den historischen Vorstellungen eines Hamad Jebali, der am 15. November 2011 in einer Rede von einemsechsten Kalifat schwärmte - das er natürlich nicht errichten wird und auch nicht ernsthaft in der realen Welt anstrebt -, bevor er in die Rolle eines bürgerlichen tunesischen Premierministers schlüpfte. Die ideologische Scheinwelt, aus denen solche Politiker einen Teil ihrer Gedanken bezogen, wird nun mit politischer und sozialer Wirklichkeit konfrontiert, vergleichbar einer Mumie, die plötzlich der Luft und dem Licht des Tages ausgesetzt ist. Das bedeutet, die Sache mag unangenehm bis fürchterlich aussehen, ist aber auch einem schnellen Zerfall ausgesetzt. Anders läuft es nur, wenn die Ideologie sich auf die Machtinstrumente des Ausnahmezustands stützen kann, wie im IrandankKrieg mit dem Iraq (eingedeutscht Irak) 1980 und Quasi-Bürgerkrieg mit den Volksmujjahedin 1981. Davon ist Tunesien jedoch weit entfernt. Welche Zerfallsprodukte dieser Prozess hervorbringen wird, und welche Brüche sich zwischen den der Tagespolitik verpflichtet bleibenden Fraktionen und den nach ideologischer Reinheit strebenden Kräften sich auftun werden, bleibt abzuwarten.

Der Prozess wird auf jeden Fall die politische Entwicklung der arabischsprachigen Gesellschaften in den nächsten Jahren mit prägen. Daneben sind aber auch die sozialen Verteilungsfragen und -kämpfe, welche sich zum Teil mit den zu erwartenden politischen Auflösungs- und Umgruppierungsprozessen überschneiden werden, von wesentlicher Bedeutung.

Diese soziale Komponente spielt eine ganz entscheidende Rolle, wenn es darum geht, die Frage zu beantworten, welche Kräfte mittel- oder längerfristig alsAlternativen zum Bestehenden Auftrieb nehmen könnten. Und die Frage danach, obsektiererische“ - also konfessionalisierte - Konflikte, wie im besetzten Irak vor allem in den schlimmsten Phase zwischen 2005 und 2007 oder auch im Libanon vor dem Waffenstillstand 1990, und/oder islamistische Mobilisierungen eher das Bild beherrschen. Oder aber eherzivil auftretende soziale und/oder politische Mobilisierungen, unter Einschluss von Gewerkschaften, Frauenorganisationen, Menschenrechtsverbänden und Intellektuellen. In einigen Ländern ist die Richtungsentscheidung zwischen diesen beiden grundsätzlich denkbaren Entwicklungen noch unentschieden. In anderen Ländern dagegen deutet die vorhandene Sozialstruktur darauf hin, in welche Richtung die Dinge mit einiger Wahrscheinlichkeit gehen dürften.

Negative Ausnahme Libyen: Klassenkämpfe eher schwierig

In Libyen beispielsweise existiert keine organisierte Arbeiterbewegung, nicht einmal in Ansätzen. Das hatte einerseits mit der politischen Natur des alten Regimes zu tun. Unter Gaddafi wurde die Bevölkerung einerseits durch ein - jedenfalls im Vergleich zu den Nachbarländern und zum Rest des afrikanischen Kontinents - nicht unbeachtliches materielles Lebensniveau weitgehend stillgehalten, so lange dies funktionierte. Gleichzeitig verbot das Regime gesellschaftliche Organisationsformen jeder Art: Es wies ja selbst nicht einmal eine Staats- oder Einheitspartei auf, sondern seine Hierarchien waren weitgehend informelle, clanförmig, und basierten auf Verwandtschaftsbeziehungen im engeren und weiteren Sinne. Auf den unteren und mittleren Ebenen des Staates reaktivierte dieses Regime in den letzten Jahrzehnten immer wieder vormoderne, tribale Sozialstrukturen, die sich zwar im Prinzip überlebt hatten - die Mehrheit der Libyerinnen und Libyer lebte in Städten, und technisch in der Moderne -, doch als politische Organisationsform immer neu wiederbelebt wurden. Denn hinter der angeblichenStaatslosigkeit in Libyen, dem vordergründigen Fehlen formaler politischer Hierarchien, verbarg sich auf örtlicher Ebene eine Ersetzung solcher Strukturen durch tribale Repräsentationsformen.

Abhängige Arbeit, auch industrielle, gab es auch in Libyen. Doch sie wurde durch ein Millionheer von Migranten, überwiegend aus dem subsaharischen Afrika, verrichtet. Diese waren schon unter dem Gaddafi-Regime weitgehend rechtlos, wenngleich ihr materielles Lebensniveau oft deutlich besser war als in ihren Herkunftsländern. Diese Arbeitskräfte konnten sich nicht im Ansatz organisieren, stattdessen träumten sie eher von der Weiterwanderung nach Europa oder aber von einer Rückkehr, mit dem nach einigen Jahren Arbeit Ersparten, in ihre Ursprungsländer. Durch pogromartige Ausschreitungen während des Bürgerkriegs im Jahr 2011, die durch eineSöldnerhysterie“ - vor dem Hintergrund der Präsenz einiger tatsächlicher Söldner, etwa der tschadischen Präsidentengarde, in Gaddafis Armee wollten manche in jedem Schwarzen einen angeblichen Söldner erblicken - noch befördert wurden, hat ihre Situation sich noch drastisch verschlechtert. Von ihnen sind daher in naher Zukunft wohl nur geringe Widerstandskapazitäten zu erwarten, zu prekär, zu angsterfüllt ist ihre Lage.

Eine klassenförmige Organisierung jener, die die gesellschaftlich am geringsten geschätzten Tätigkeiten verrichten, ist deswegen in Libyen vorläufig absolut nicht in Sicht. Dies hat aber Rückwirkungen darauf, wie sich eine Gesellschaft strukturiert. Rivalitäten zwischen über ihreStammesherkunft definierten Gruppen, Regionen und Städten prägen die innergesellschaftlichen Widersprüchen. Das Rückgrat der Rebellion, die das alte Regime (im Zusammenspiel mit einer ausländischen Militärintervention) stürzte, besteht aus miteinander rivalisierenden, bewaffneten Haufen. Als Träger einer mit sozialem Anspruch gegen dasungerechte Bestehende auftretenden Alternative erscheinen radikale Islamisten. Vor diesem Hintergrund ist für Libyen auf absehbare Zeit wohl eher mit religiös aufgeladenen Konflikten, mit von auen her irrational erscheinenden Spannungen, immer wieder mindest sporadisch aufflammenden bewaffneten Auseinandersetzungen, denn mit Klassenkämpfen oder Kontroversen um politisch-ideologische Werte zu rechnen. - Und in den letzten Tagen prägen Berichte von Amnesty international und HRW über die wieder auftretende Folter in Libyen das Bild.

Golfstaaten: Migrantisches Proletariat & Kämpfe

Dabei ist Libyen allerdings eher die negative Ausnahme denn die Regel. Auch in den arabischen Golfländern existiert ein Millionenheer von Lohnabhängigen, ja im mehr oder minder buchstäblichen Sinne Arbeitssklaven, die den jeweiligen Staatsangehörigen die alsschmutzig oderauf niedriger Stufe stehend betrachteten Tätigkeiten abnehmen. Zumindest in einigen Fällen aber konnten eigenständige Mobilisierungen auch dieses multinational zusammengesetzten Industrie- und Dienstleistungsproletariats stattfinden oder sogar die Rolle eines Initialzünders spielen. In Bahrain fand unmittelbar vor der Massenbewegung der sozial benachteiligten und politisch unterdrückten, aus Schiiten bestehenden Bevölkerungsmehrheit im Februar 2011 ein Streik von 1.300 Arbeitern des Bausektors für höhere Löhne statt. Es handelte sich bei ihnen meistens um Einwanderer aus Südasien. Ihre erfolgreiche Mobilisierung wirkte als Beispiel gebend für andere Einwohner des Landes. Die Revolte der siebzigprozentigen schiitischen Mehrheit, die auch durch progressive Sunniten und ihre Parteien unterstützt wurde, endete zwar am 14. März 11 vorläufig mit einer brutalen Repressionswelle und dem Einmarsch saudischer Truppen. Dennoch flammte sie in den letzten Monaten immer wieder auf, den ganzen Januar dieses Jahres hindurch etwa kam es mehrfach zu Unruhen.

In anderen Fällen konnten solche Kämpfe des auf der niedrigsten Stufe in der sozialen Hackordnung der Golfgesellschaften stehenden, eingewanderten Proletariats zwar nicht direkt als Schrittmacher für breitere Protestbewegungen dienen, sich aber dennoch neben ihnen entwickeln. Im SultanatOman etwa bestehen vier Fünftel der Arbeitskräfte im privaten Wirtschaftssektor aus Einwanderern. Seit Anfang dieses Jahres fanden zwei mal hintereinander Streiks und Demonstrationen dieser, oft südasiatischen, Arbeiter statt. Die breite Protestbewegung, die inOman im vergangenen Jahr auch mit zahlreichen Arbeitskämpfen (von der Telekommunikation bis zur Ölindustrie) einher ging, war zuvor abgeebbt, nachdem die abhängig Beschäftigten dabei massive materielle Zugeständnisse herausholen konnten. Es blieben zunächst die Kämpfe von Arbeitslosen, die aber ihrerseits mit der Bekanntgabe der Schaffung von 55.000 Jobs - das ganze Land hat knapp drei Millionen Einwohner/innen - etwas beruhigt werden konnten, und Jugendlichen. Nun kamen die Einwanderer hinzu.

Vielerorts sind es besonders diskriminierte Minderheiten, die sich nun nach der ersten Welle von antidiktatorischen Kämpfen in der arabischsprachigen Welt (Tunesien, Ägypten, Jemen) in einer Reihe von Ländern zu Wort melden. In Kuwait kam es einerseits zu einer ebenfalls relativ breiten politischen Protestbewegung, die es erreichte, eine Auflösung des Parlaments und dessen (demnächst anstehende, und seit kurzem von militanten Proteste begleitete) Neuwahl zu erzwingen. Andererseits waren von Anfang an - im Februar 2011 kam es zu den ersten Demonstrationen - migrantische Arbeitskräfte in die Rebellion eingetreten. In den letzten Wochen und Monaten sind es aber zudem auchStaatenlose“, also die Nachkommen von Beduinenstämmen, denen nach der Gründung des heutigen Staates Kuwait (1963) nicht die Staatsangehörigkeit zuerkannt wurde, weil sie nicht anhand von Dokumenten nachweisen konnten, zuvor auf dessen Territorium gelebt zu haben. Seit Wochen kommt es in kurzen Abständen zu heftigen Protestdemonstrationen dieser Gruppe. In vielen nordafrikanischen Ländern, darunter Tunesien und Libyen, melden sich die Berber als - neben den Arabern - zahlreichste Bevölkerungsgruppe mit eigenen politischen Forderungen zu Wort.

Vorläufige Aussicht

Aus dieser Kombination von politischen Kämpfen, sozialen Mobilisierungen und dem Anmelden von Minderheitsforderungen erwächst die Hoffnung. Die Durchsetzung von demokratischen Mindestbedingungen wird zweifellos Jahre in Anspruch nehmen. Aber nun, wo der Geist aus der Flasche ist, lässt er sich nicht einfach dorthin zurück verbannen. Sicherlich wird es auch beunruhigende Entwicklungen geben können. In Syrien beispielsweise ist ein konfessionalisierter Bürgerkrieg nicht auszuschließen, auf den jedenfalls das Regime - das seine Kader zum Gutteil aus der, historisch lange Zeit benachteiligten, religiösen Minderheit der Alawiten rekrutiert - zielstrebig hinarbeitet. Der frühere syrische Vizepräsident Abdelhalim al-Khaddam beschuldigt etwa von seinem Pariser Exil aus das Regime, Waffen in eine Kernzone der alawitischen Siedlungsgebiete im Westen des Landes zu konzentrieren, um im Notfall eine Spaltung des syrischen Staatsgebiets anzustreben. Auch viele Beobachter/innen befürchten, je länger die brutale Repression andauern und den Hass anwachsen lassen, desto stärker drohe ein Umkippen in einen Bürgerkrieg. Ihn gegebenenfalls religiös aufzuladen, darauf arbeitet das Regime durch seine heuchlerische Berufung auf eine Rolle als „Beschützer von Christen und Alawiten“ bewusst hin.

Rückschläge und Negativentwicklungen drohen also durchaus in einigen Ländern. Die Gesamtentwicklung stellen sie nicht in der Weise in Frage, dass man behaupten könnte, die arabischsprachigen Staaten wären besser bei den alten diktatorischen Führungen geblieben. Dass die Gesellschaften konfessionell gespalten und von zahllosen Spannungen durchzogen sind - dass diese Scheiße auf das Dach kam, daran hatten sie schließlich Jahrzehnte lang gearbeitet.


Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.