Deutschland-Frankreich : 50 Jahre Elysée-Vertrag

von Bernard Schmid

02-2013

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Würde es als Geschenk zum Hochzeitstag die Scheidungsurkunde geben? So kam es nicht, als am Dienstag, den 22. Januar 2013 der fünfzigste Jahrestag des Elysée-Vertrags zwischen Frankreich und der Bundesrepublik begangen wurde. Zwar betonten manche Medien wachsende politische Differenzen und Verstimmungen zwischen beiden Staaten. So titelte die konservative französische Tageszeitung Le Figaro am Freitag, den 18. Januar 13: „Zwischen Paris und Berlin wird der Graben tiefer.“ Die Jahrestagsfeiern konnte dies dennoch nicht vermiesen.

Am Dienstag nahmen gleich 400 Abgeordnete beider Kammern des französischen Parlaments – Nationalversammlung und Senat – zusammen mit Staatspräsident François Hollande und Premierminister Jean-Marc Ayrault das Flugzeug nach Berlin. Zwei Maschinen waren dafür geordert worden. Letzterer, Jean-Marc Ayrault, war in einem früheren Beruf übrigens Deutsch-Lehrer.

In der deutschen Hauptstadt fanden eine gemeinsame Sitzung der beiden Kabinette und der Parlamente sowie ein großes Konzert zu Klängen von Beethoven und Saint-Saens. Zwei Texte wurden veröffentlicht, die feierlich an die „gemeinsamen Verpflichtungen Deutschlands und Frankreichs“ erinnern sowie Gebiete binationaler Zusammenarbeit definieren, etwa bei Kultur, Jugendaustausch, aber auch Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sowie auf dem Energiesektor. Zuvor war die Idee verworfen worden, aus gegebenem Anlass einen neuen deutsch-französischen Grundlagenvertrag aufzulegen ähnlich dem, den Präsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer ein halbes Jahrhundert zuvor im Pariser Elysée-Palast unterzeichnet hatten. Die Vorbereitung dafür sei zu kompliziert, hieß es. In Kreisen der französischen Politik regen nun manche Regierungsberater einen Vertrag für das Jahr 2020 an. Bis dahin dürfte jedoch einiges Wasser die Seine und die Spree hinuntergeflossen sein. (Und - am Rande - die Bundesbank wird ihre 374 Tonnen Gold, die bisher in Paris eingelagert waren, bi im Jahr 2018 komplett nach Deutschland überführt haben, vgl. http://bourse.lefigaro.fr/. Dereinst waren sie aus „Furcht vor einer sowjetischen Invasion“ in Richtung Westen ausgelagert worden...)

Im Vorfeld gab es Unstimmigkeiten über den genauen Charakter der Festivitäten in Berlin. Die französische Seite wollte ihnen eine stärker „politische Natur“ geben, die deutsche sprach von „volkstümlichen“ Feierlichkeiten - also eher Dschingderassabumm als tiefgründige Debatten. In jedem Falle wurde die Sache auf politischer Ebene tiefgehängt als der letzte „runde“ Jahrestag des Elysée-Vertrags, der am 18. Januar 2003 begangen wurde, damals in der französischen Hauptstadt. Er war nicht nur dem vierzigjährigen Jubiläum um einen Monat voraus, sondern sollte auch eine politische Positionierung der Führungen beider Länder absichern – die Annäherung zwischen den damaligen Staats- respektive Regierungschefs Jacques Chirac und Gerhard Schröder, denen sich kurz darauf auch noch Wladimir Putin hinzugesellte. In Abgrenzung von den damals laufenden Vorbereitungen des Angriffs von US-Amerikanern und Briten auf den Irak versuchten diese Kontinentalmächte, sich als Gegenblock zu konstituieren und mit dem Argument der Friedenserhaltung für die eigenen Interessen zu werben. Auch wenn daraus keine dauerhafte Blockbildung erfolgte, so konnte man doch zum damaligen Zeitpunkt nicht wissen, wieweit die Annäherung der drei Mächte einerseits und die Rivalität zu den anderen Großmächten andererseits gehen würden.

Spuren der Euro-Krise

Kein in vergleichbarer Weise einigendes Ereignis stand in diesem Jahr auf dm Programm der Weltgeschichte. Die Euro-Krise der beiden zurückliegenden Jahre und die Unterschiede in der Bestimmung der wirtschafts- und europapolitischen Strategie haben die beiden Mächte tendenziell eher auseinander dividiert. Trotz eines klar wirtschaftsliberalen Kurses mit einigen sozialpolitischen Einsprengelns ist die französische Wirtschaftspolitik aus dominierender deutscher Sicht noch immer „zu keynesianisch“. Anfang November vergangenen Jahres hatte der deutsche Wirtschaftsminister Wolfgang Schäuble sogar sehr laut darüber nachzudenken begonnen, ob Frankreich nicht vielleicht der nächste „kranke Mann Europas“ sei, nach Griechenland und anderen „Südländern“. Die soeben in Paris eingeleiteten wirtschaftsliberalen „Reformen“, auf Grundlage des Rapport Gallois genannten Regierungsberichts vom 5. November, kämen „zu spät“, und die so genannten Arbeitsmarktreform seien „zu schwach“ – den Vergleichsmaßstab lieferten wohl die Hartz-Gesetze. Am 12. November titelte daraufhin die Pariser Tageszeitung Libération: << Paris à Berlin: Achtung! >>

Bekanntlich nähert nichts so sehr aneinander an, wie gemeinsame Feinde zu besitzen. So war es auch, als der Elysée-Vertrag unterzeichnet wurde. Voraus ging eine vielbeachtete Reise des französischen Präsidenten Charles de Gaulle durch das westliche Nachkriegsdeutschland, im September 1962.

Historischer Kontext

Am 09. September jenes Jahres hielt er dabei seine bekannte „Rede an die deutsche Jugend“ in Ludwigsburg, bei Stuttgart. Sie wird vielfach als Musterdokument der Aussöhnung beider Länder nach den Kriegen von 1870, 1914 und 1940 betrachtet, und hat demnach zum Abbau von Vorurteilen zwischen zwei „Erbfeinden“ und der Versöhnung zwischen beiden Bevölkerungen beigetragen. In Wirklichkeit steht aber in dieser Ansprache sehr stark die Beschwörung eines gemeinsamen Feindes im Mittelpunkt. Ihn stellte damals der böse Kommunismus dar, den man – wie im offiziellen Diskurs üblich – mit dem autoritären Staatssozialismus sowjetischer Prägung und der vom Ostblock ausgehenden angeblichen Bedrohung in eins setzte.

De Gaulle führte unter anderem aus: „Das Leben in dieser Welt birgt jedoch Gefahren. (…) Es geht darum zu wissen, ob im Laufe der Umwälzungen der Mensch zu einem Sklaven in der Kollektivität wird oder nicht.“ Damit meinte er nicht so sehr die Gefahren der Volksgemeinschaft, sondern eher jene, die mit den bürgerlichen Vorstellungen vom vermeintlichen Marxismus einhergingen. Und er fuhr fort: „Darum geht es bei der großen Auseinandersetzung in der Welt, die sie in zwei getrennte Lager aufspaltet und die von den Völkern Deutschlands und Frankreichs erheischt, dass sie ihrem Ideal die Treue halten, es mit ihrer Politik unterstützen und es, gegebenenfalls, verteidigen und ihm kämpfend zum Sieg verhelfen.“ Es war auch eine Rede zur Mobilmachung, im Ringen mit dem sowjetischen Block um die weltpolitische Vorherrschaft.

Deswegen kann überhaupt nicht bestritten werden, dass es gleichzeitig positive Aspekte etwa durch zwischenmenschliche Annäherungen durch Städtepartnerschaften, Jugendaustausch und Schulreisen gab. Deren Nutzen kann nicht geleugnet werden. Westdeutsche Jugendliche lernten dabei in manchen Fällen auf französischem Boden erstmals Kommunisten kennen – die sie sich bis dahin eher mit mongolischen Gesichtszügen und Russenmütze vorstellten – oder erlernten eine Sprache, mit der man sich nicht nur zwischen Ärmelkanal und Alpen verständigen kann, sondern aus historischen Gründen auch von Mali bis Madagaskar. (Und zur selben Zeit entdeckte der jetzige französische Premierminister, Ayrault, seinerseits Ende der 1960er die deutsche Sprache.) Aber die politische Intention hinter dem Ganzen war eine andere.

Den Zeitpunkt für die Rede hatte keineswegs der Zufall bestimmt. Unmittelbar voraus gingen mehrere internationale Ereignisse, die sowohl westdeutschen wie auch französischen Politikern bedeutet hatten, dass die Bedeutung ihrer jeweiligen Staaten in der internationalen Rang- und Hackordnung sich im Absteigen befinde. Im Juli 1962 musste Frankreich das nordafrikanische Land Algerien, nach einem achtjährigen und extrem blutigen antikolonialen Befreiungskrieg, in die Unabhängigkeit entlassen. Die meisten anderen Kolonien und Besitzungen des Landes hatte Paris schon zuvor – im Falle Nordafrikas meist 1956, im Falle West- und Zentralafrikas zwischen 1958 und 1960 – in die „kontrollierte Unabhängigkeit“ entlassen, auch wenn es versuchte, weiterhin neokolonialen Einfluss und wirtschaftliche Kontrolle auszuüben. Der „Verlust“ Algeriens wog innenpolitisch sehr schwer. Westdeutschland wiederum war sein relativer nationaler Bedeutungsverlust besonders seit August 1961 vor Augen geführt worden: Der Bau der Mauer zwischen den West- und Ostsektoren Berlins, dem in den folgenden Monaten der Aufbau von Befestigungsanlagen entlang der DDR-Grenze folgte, zementierte die „deutsche Spaltung“ auf längere Sicht. Die Träume mancher bundesdeutscher Politik, die Westalliierten würden sich diesen „Affront“ seitens von Sowjetunion und DDR nicht bieten lassen und eingreifen, wurden enttäuscht – viele Politiker bei den Westallierten waren eher erleichtert, dass vorläufig „der Druck aus der deutschen Frage herausgenommen“ war. Kurz zuvor waren Ambitionen westdeutscher Politik, allen voran Franz-Josef Strauß, auf eine eigene atomare Bewaffung der Bundeswehr erst einmal gescheitert.

Letztere sollten in späteren Perioden wieder auf den Tisch gebracht werden. Und dann oftmals im Zusammenhang mit der westdeutsch-französischen politischen Annäherung. Im Sommer 1987 etwa eröffnete der vormalige französische „Verteidigungs“minister Charles Hernu – ein Sozialist, der gerade die Oppositionsbank drückte – eine Debatte darüber, ob Frankreich nicht der Bundesrepublik einen „Zweitschlüssel“ zur Mitverfügung über das nationale Nuklearwaffenarsenal Force de frappe anbieten solle. Dadurch wäre Westdeutschland aus der engen strategischen Bindung an die USA ein wenig gelöst, und gleichzeitig wären eigene atomar-militärische Ambitionen bundesdeutscher Politiker ausgebremst worden. Als der Freistaat Bayern im April 1989 sein Vorhaben aufgab, eine riesige Plutoniumfabrik in Wackersdorf in der Oberpfalz – wo auch riesige Mengen waffenfähigen Spaltstoffs verarbeitet worden wären – zu bauen, hatte dies den Hauptgrund, dass die französische Regierung damals mit einer Beteiligung an der vergleichbaren Wiederaufbereitungsanlage (WAA) in La Hague lockte. Bis zu 49 Prozent sollten die Deutschen mitbesitzen dürfen. Das Projekt scheiterte in den folgenden Monaten jedoch, und das Ende des Kalten Kriegs durch Implosion des Ostblocks und der UdSSR relativierte ohnehin die Bedeutung des Besitzes von Atomwaffen.

Heute sind diese militärpolitischen Diskussionen eher Schnee von gestern. Die deutsche Politik hat sich ganz gut in einer Rolle als wirtschaftliche Supermacht mit vorhandener, aber relativ geringer militärischer Rolle eingerichtet – ein Jahrhundert früher hatte man eine solche Strategie den Briten noch als „Krämerimperialismus“ angekreidet. Die Hauptdiskussionen zwischen Paris und Berlin drehen sich um die Wirtschaftspolitik.

Modell für die Eliten

Aufgrund der wirtschaftlichen Stärke der Bundesrepublik sind es heute westlich des Rheins vor allem die Eliten, die mit feuchten Augen von Deutschland träumen. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/ ) In diesem Sinne ist es übrigens auch ziemlich logisch, dass der reaktionär-wirtschaftsliberale Oppositionsführer Jean-François Copé – er weilte als Gast der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin – am Montag, den 21. Januar 13 von der deutschen Hauptstadt aus „Frankreich-Bashing“ betrieb; vgl. http://www.lemonde.fr/ An historischen Vorbildern für den UMP-Vorsitzenden mangelt es dabei nicht, vom konterrevolutionären Schriftsteller Antoine Rivarol im Berlin des Jahres 1800 bis zu Louis-Ferdinand Céline in jenem des Jahres 1943... Copés Ansatz war freilich ein anderer, wirtschaftsliberaler. „Frankreich muss viel weiter gehen mit den strukturellen Refiormen“, gemeint: mit dem Reformterror gegen die Lohnabhängigen, bellte der UMP-Chef, und kritisierte „Frankreichs Hinterherhinken“ hinter dem wirtschaftlich so erfolgreichen, tollen Deutschland.

Laut einer Umfrage unter 25.000 Deutschen und Franzosen, die aus Anlass des Jahrestags in dieser Woche am vergangenen Dienstag (15. Januar 13) vorgestellt wurde, fühlen sich vor allem die Oberklassen und Bildungseliten in Frankreich vom deutschen „Modell“ angezogen. Letzteres Land gilt demnach 44 Prozent der Franzosen als Vorbild, umgekehrt aber Frankreich nur 22 Prozent der befragten Deutschen – wirtschaftlicher Erfolg zählt dabei ungleich mehr als kulturelle Symbole. Und während rund 60 Prozent der befragten Franzosen gern in Deutschland arbeiten würde, wo man oft wesentlich mehr verdient, zieht es nur ein Drittel der deutschen Umfrageteilnehmer nach westlich des Rheins. Allerdings würden 94 Prozent gern ihren Urlaub dort verbringen. Wenn es um Essen, Trinken, Gesang und Strand geht, dann sind die welschen Hallodris in Ordnung – aber eine Wirtschaft können sie nicht zusammenhalten, jedenfalls keine nationale, so die verbreitete Meinung.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.