trend spezial: Die Organisations- und Programmdebatte

Die Dauerkrise der revolutionären Linken
…und die “breite” NaO als möglichen Ausweg

von Tino P. (SiB)

02-2013

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Vorbemerkung: Es ist bezeichnend für den Niedergang des SiB-Nao-Projekts, dass  seine selbsternannten Revolutionäre - im NaO-Jargon "subjektive Revolutionäre" sich statt mit der Klassenwirklichkeit zu befassen zum "gefühlten 183. Mal"  miteinander ideologisch in der trotzkistischen Nische ringen. /red. trend.

Marx’ Satz: Die Philosophen haben bisher die Welt nur interpretiert, es kommt aber darauf an sie zu verändern, könnte mensch nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts folgendermassen aktualisieren: Die subjektiven Revolutionäre haben durch ihre Abgehobenheit die Welt  bisher nur interpretiert, sie haben es nicht verstanden sich als Kraft aufzubauen und haben damit auch nichts in der Welt verändert.

Die nichtstalinistische revolutionäre Linke, im Zuge des Niedergangs der Russischen Revolution um 1922 entstanden und in der 68er Bewegung sich weltweit neu formierend, hat historisch versagt. Das Schönreden dieses Versagens durch das nicht enden wollende Lamento über die objektiv schwierigen Umstände muss aufhören und der Analyse der Ursachen und Umstände Platz machen, die in den letzten neunzig Jahren dazu führten, dass zahlreiche Gelegenheiten zu signifikanten Verschiebungen des Kräfteverhältnisses zu Gunsten von revolutionären Veränderungen verpasst worden sind – nicht durch objektive Widrigkeiten, sondern durch subjektive Fehler und Unzulänglichkeiten. Revolutionäre Prozesse, die nicht mit riesigen objektiven Schwierigkeiten konfrontiert wären, gab es nie und wird es auch in Zukunft nicht geben.

Trotzki zum Beispiel verpasste zwischen 1922-1924 mindestens fünf Male exzellente Gelegenheiten zur Zurückdrängung des stalinistischen Aufstiegs, die trotzkistische POUM im vorrevolutionären Spanien 1935/36 mit 5000 Mitgliedern verpasste es zu einer Partei mit 100’000 Mitgliedern zu werden, infolge ihrer sektiererischen Weigerung auf eine sich rasch radikalisierende Jugend zuzugehen, da diese programmatisch zu “unrein” und zu widersprüchlich war, als ob es in Massenbewegungen nicht immer, in jedem Moment der Geschichte zahlreiche Widersprüchlichkeiten gäbe d.h. anstatt auf die Dynamik der widersprüchlichen, aber sich in Bewegung befindenden Jugendmassen zu setzen, erging sie sich in schematisch-scholastischen Programmdiskussionen. Ähnliches ereignete sich im vorrevolutionären Bolivien 1984/85, wo die trotzkistischen Strömungen Einfluss in etlichen strategischen Bereichen hatten und der Aufbau einer veritablen Massenpartei zum Greifen nahe war. Das wichtigste und modernste Beispiel des Versagens der revolutionären Linken seit 68 bildet die brasilianische PT. Groß-São Paulo war in den 80er Jahren nicht nur die Hochburg der PT, sondern auch der revolutionären Linken, deren etwa zehn Strömungen alle in der PT arbeiteten und zugleich das grösste Industrieballungszentrum der Welt mit einem Bruttosozialprodukt, das damals höher war als diejenigen von Chile, Peru, Bolivien, Ekuador, Paraguay und Venezuelas zusammen. Es gibt kein strategisches oder taktisches Problem moderner revolutionären Politik, das nicht exemplarisch anhand der Geschichte der PT abgehandelt werden könnte. Die PT ist 1980 aus massiven Streikbewegungen entstanden, die etwa sechs Jahre lang andauerten und an denen wohl über 20 Millionen Menschen teilnahmen. Die Initiative zur Parteigründung kam von einem Alttrotzkisten und einem Streikführer der Erdölarbeiter und nicht von Lula. Das Kernkonzept der neuen Partei war Antikapitalismus plus der so genannte Klassismus d.h. Organisierung der Klasse der Lohnabhängigen als Klasse unabhängig von allen bürgerlichen Strömungen, ein Konzept also, das über viele historische Kurven an Marx’ Konzept der 1. Internationale anknüpft und das innerlich verwandt ist mit dem Konzept einer breiten antikapitalistischen NaO. Die Kritik, dass eine glasklare scharfe Abgrenzung gegen den Reformismus in diesem Konzept fehlte ist durchaus berechtigt, obwohl man wissen muss, dass die allermeisten Reformisten in der PT schwerstens beleidigt gewesen wären, wenn man sie nicht als subjektive RevolutionärInnen  akzeptiert hätte. Trotzdem war das PT-Konzept richtig, denn es erlaubte der revolutionären Linken,  innerhalb von acht Jahre, von einer kleinen Gruppe von einigen hundert Leuten zu einer Kraft von 40-50’000 Leuten anzuwachsen (Miglieder+ Sympathisantenmilieu). Als 1988 eine Vertreterin des linksreformistischen Parteiflügels  überraschend nach einem erdrutschartigen Wahlsieg die Regierung der 10 Millionen Stadt übernehmen musste  – ein sehr ähnliches Szenarium wie es beinahe im Juni mit Syriza passiert wäre und in naher Zukunft immer noch passieren könnte - haben die revolutionären Linken mit ca. 45% in der Partei während Monaten in einer äusserst dramatischen Situation, ganz verkürzt zusammengefasst, sich auf Verstaatlichungsforderungen konzentriert, die völlig jenseits des bestehenden Kräfteverhältnisses lagen und die Bevölkerung auch nicht sonderlich interessierte. Die Weigerung der Revolutionäre sich mit exemplarischen Sofort-Reformen zu befassen um mit diesen sowohl eine kleine Verbesserung für die Bevölkerung als auch eine positive Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu erreichen, überlies den staatsgläubigen Reformisten faktisch das Feld. Die PT-Regierung war bereits nach wenigen Monaten erledigt, ihr Popularitätsgrad sank von 70% auf etwas über 30%, der Niedergang der revolutionären Linken begann und um einige Jahre verzögert der gesamten PT, bei den nächsten Wahlen gewann die Partei, die von den Generälen während der Militärdiktatur (1964-85) gegründet worden war.

Die siamesischen Trillinge Schematismus-Sektierertum-Dogmatismus treten relativ unabhängig vom politischen Programm auf. Es gibt sie von rechts bis links und ultralinks. Es ist eine abstrakte abgehobene Denk- und Arbeitsweise. Bei dem linken sektiererisch-dogmatische Schematismus drückt sich dies ausserordentlich stark durch ununterbrochene Schlachten zur Reinhaltung des politischen Programms aus. An diesem charakteristischen Merkmal erkennt man die linksrevolutionäre Sekte. Nicht umsonst stammen Begriffe wie Sekte, Dogma, Scholastik allesamt aus der Kirchengeschichte. Völlig rausgerissen aus den inneren wechselseitigen Zusammenhängen sowohl zwischen Programm-Aufbaustrategie-Kampfmittel-Taktik-Ethik einerseits als auch all dieser Zusammenhänge und der vorliegenden Situation andrerseits, wird um einzelne Wörter verbissen gerungen, weil man glaubt zu wissen, dass einzelne Formulierungsfragen darüber entscheiden würden, ob z.B. eine NaO in fünf, zehn oder zwanzig Jahren reformistischen Illusionen erliegen wird. Angesichts der geschichtlichen Erfahrungen mit der sozialistischen Weltbewegung des 20. Jahrhunderts ist diese einseitige Fixierung auf das politische Programm geradezu ein schlechter Witz. Um nur das wichtigste Beispiel zu nehmen, Stalin hat bis zu Lenins Tod immer das “korrekte revolutionäre Programm” verteidigt – was jedoch den konkreten Verlauf der Geschichte nicht im Geringsten bestimmt hat. Solche Beispiele im Grossen wie im Kleinen könnten zu Tausenden aufgezählt werden.

Der Vorschlag zur Gründung einer “nur” konsequent antikapitalistischen Organisation   versucht der heute real existierenden Situation gerecht zu werden. 30 Jahre neoliberaler Prägung der Menschen, sowie die eklatante Unfähigkeit der radikalen Linken ihr steriles und oft auch autoritäres Zirkelwesen zu überwinden, haben in der Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen: extreme Individualisierung und Entpolitisierung sowie das Schwinden eines elementaren Klassenbewusstseins und der Zerfall der Alltagssolidarität waren u.a. die Folgen. Diese Situation zwingt uns “einen Schritt zurück zu gehen”, um dann wieder Schritte vorangehen zu können. Dieser Schritt zurück ist die Sammlung der zersplitterten und heterogenen Kräfte vorerst “nur” aufgrund eines Minimalprogramms von rund acht bis zehn politischen Leitgedanken, die sich im NaO-Manifest ausdrücken sollen. Der Versuch eines Neustarts der radikalen Linken findet, im Vergleich zu der Zeit vor 2008, unter relativ günstigen Vorzeichen statt. Die Widersprüche und die destruktive Seite des Kapitalismus nehmen rasant zu, der Leidensdruck im linken Milieu über ihre politische Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit nimmt ebenfalls zu und drittens dürfte das Bedürfnis nach einer Art “politischer Heimat” und einer attraktiver Organisation, ohne die abstoßenden sektiererischen Eigenschaften der linken Gruppierungen der 70er und 80er Jahre auch stark zunehmen. Insgesamt ist die Lage und die allgemeinen Voraussetzungen sicher alles andere als einfach, aber die Bausteine liegen vor uns, wenn wir bereit sind aus den Fehlern unserer Vorfahrer, der 68er Linken, zu lernen, haben wir eine Chance. Wir sollten sie nicht verpassen!

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel von der SiB mit der Bitte um Veröffentlichung. Er kann auf deren Blog diskutiert werden.