Diskussionsbeitrag über die französische Intervention in Mali

von Bernard Schmid

02-2013

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Die Bewertung der französischen Intervention in Westafrika, die dazu beitrug, die Jihadisten in weiten Teilen Nord-Malis zumindest aus den Städten zu vertreiben, ruft kontroverse Diskussionen hervor. So ist es in Frankreich, wo bei einem „Forum zu Mali“ – als Vor-Auftakt zur „Antikolonialen Woche“, am 14. Februar 13 im Pariser Gewerkschaftshaus – sehr unterschiedliche Einschätzungen aus der politischen Linken, aus Solidaritätsinitiativen und von afrikanischen Vertreter/inne/n vorgetragen wurde. Diese reichten grob von „antifaschistischem Befreiungskrieg“ (so u.a. ein selbst aus Mali stammender Redner, welcher die Rolle der französischen Armee mit jener der USA 1944 in Frankreich verglich) bis hin zu „Intervention in purer Kolonialtradition zwecks Raub der Rohstoffe“, mit allen Zwischentönen, die irgendwo dazwischen liegen. Einige Standpunkte waren – wie auch die beiden soeben zitierten – grobschlächtig vereinfachend, andere sehr um Differenzierung bemüht.

Auch im deutschsprachigen Raum gibt es unterschiedliche Einschätzungen dazu. Die Berliner Wochenzeitung Jungle World, in welcher auch der Autor dieser Zeilen zu Wort kommt, vertritt einen Teil des Spektrums der Auffassungen dazu. Ihre Ausgabe vom 31. Januar 13 übertitelte die Zeitung mit der Überschrift Allez les bleus!, die üblicherweise zum Anfeuern der französischen Fußballmannschaft benutzt wird. (Auch der Verfasser dieser Zeilen schrieb in jener Ausgabe, hätte allerdings sicherlich nicht diese Überschrift oder eine ähnlich lautende verfasst.) In der Folgezeit erschienen zwei Diskussionsbeiträge, die – mit Nuancen zwischen beiden – die Intervention begrüten, von Klaus Blees "Krieg, Uran und Jihadiste" und von Jörn Schulz "Klassenfeind mit Kufiya" - Im Anschluss dann erschien am 13. Februar 13 ein Diskussionsartikel des Verfassers dieser Zeilen, in welchem die französische Intervention kritischer bewertet wurde. Dessen Argumente werden in unten stehenden Zeilen nochmals aufgegriffen und entwickelt.

Französischer Neokolonialismus: Untoter, als mancher Autor glauben möchte

Totgesagte leben manchmal länger. So sagt Jörn Schulz dem französischen Neokolonialismus in Afrika schnell, und ein bisschen zu schnell adieu: „Die Epoche des Neokolonialismus endete nicht, weil Franzosen und Briten auf einmal von Gewissensbissen geplagt wurden. Im subsaharischen Afrika begann die Demokratierung bereits 20 Jahre vor dem Beginn der arabischen Revolten, von den Klienten der ehemaligen Kolonialmächte haben sich nur wenige halten können. Überdies bedeutet Neokolonialismus auch Abschottung des Marktes eines abhängigen afrikanischen Landes gegen konkurrierende Großmächte, und dies ist mit dem heutigen Freihandelsregime nicht vereinbar.“ (Jungle World 06/13)

Ach, wenn es nur so wäre! Allein, die Dinge liefen nicht so ab, wie Jörn Schulz in dem Absatz schreibt. Zugegeben, die Kontinuität des französischen oder britischen Neokolonialismus auf dem afrikanischen Gegenstand war nicht unmittelbar der Hauptgegenstand seines Artikels. Dennoch ist es von Bedeutung, dass es nicht zutrifft, dass – wie man indirekt aus diesen Zeilen schlussfolgern darf – diese neokoloniale Machtpolitik „endete (…), weil (…) die Demokratisierung bereits 20 Jahre vor dem Beginn der arabischen Revolten“ einsetzte. Tatsächlich hat es im französischsprachigen Afrika südlich der Sahara eine massive Demokratisierungswelle in den Jahren 1990 bis 1992 gegeben, in Form von Mobilisierungen und Massenprotesten „von unten“. Ausgelöst wurden diese durch die Informationen und Fernsehbilder über den Zusammenbruch der staatssozialistischen Regimes in Osteuropa und später der UdSSR. In West- und Zentralafrika, wo oft ebenfalls autoritäre Ein-Parteien-Regimes herrschten, welche sich in der Regel allerdings nicht auf den Marxismus beriefen, verursachte dies einen starken Nachahmungswunsch.

Aber funktioniert – in dem Sinne, dass es zumindest zu bürgerlich-demokratischen Verhältnissen führte – hat es nur in zwei Fällen. Erstens in Mali, wo im März 1991 die Bevölkerung in Eigeninitiative die seit 1968 amtierende Militärdiktatur von Moussa Traoré stürzte. Und zum Zweiten in Benin, wo die Situation insofern eine besondere war, dass hier bis 1991 das – neben Kongo-Brazzaville in den siebziger Jahren – einzige offiziell „marxistisch-leninistische“ Regime im französischsprachigen Afrika herrschte. Dessen Sturz war die fast logische Konsequenz des Wegbrechens der Sowjetunion. Überall anderswo jedoch wurde der Demokratisierungsimpuls, den die Massenbewegung seit 1990/91 verursacht hatte, schnell wieder einkassiert. Entweder willigten die jeweiligen Präsidenten, wie in Gabun und im damaligen Zaire, in die Einführung eines Mehrparteiensystems ein - um daraufhin dann aber selbst von ihren Getreuen mehrere Dutzend Parteien gründen zu lassen, und dadurch den Prozess zu lenken. Oder aber die Präsidialregimes willigten in eine Demokratisierung ein, hielten „nationale Konferenzen“ mit den Oppositionsparteien ein, organisierten Wahlen und manipulierten diese dann schamlos. Dies war etwa in Kamerun der Fall, wo der ebenso autokratische wie kleptomanische Machthaber Paul Biya seit 1982 amtiert. Bei den Präsidentschaftswahlen von 1993, deren Ausgang auf offenem Betrug basierte, war es die „Gültigkeitserklärung“ aus Paris, die den Ausschlag gab. Die Situation stand zuvor auf der Kippe, da die Opposition massivste Proteste durchführte. Die so genannte internationale Gemeinschaft schloss sich dann jedoch der französischen Position an.

Es war offenkundig, dass Frankreich seine schützende Hand über die Autokraten hielt. Obwohl François Mitterrand beim „Französisch-afrikanischen Gipfel“ im Juni 1990 seine berühmte „Rede von La Baule“ hielt, in welcher er verbal seine angebliche Unterstützung für die Demokratisierung angekündigt hatte.

Den allerschlimmsten Fall bildete die explizite französische Beihilfe für das Regime in Rwanda, das im Frühjahr 1994 auf seine tiefe Krise mit der Organisierung des Völkermords an der Bevölkerungsgruppe der Tutsi antwortete. Ein Staatsverbrechen, das bis heute auf französischer Seite nicht zu Sanktionen gegen die politisch und militärisch Verantwortlichen führte, auch wenn Nicolas Sarkozy im Jahr 2010 de facto die negative Rolle Frankreichs beim bislang letzten Völkermord der Geschichte anerkannt hat. Ach, übrigens: der Leiter der Opération Serval – der aktuell laufenden militärischen Intervention Frankreichs in Mali -, Brigadegeneral Grégoire de Saint-Quentin, war von 1992 bis 1994 (also während der Vorbereitung des Genozids) als französischer Militärberater bei den Elitetruppen der para-commandos in Rwanda, und steckte also bis über beide Ohren in der Vorbereitung des Völkermords von April-Juni 1994 mit drin.

Die Polizei rufen? Und wenn ja, welche?

Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund anlässlich der derzeitigen französischen Intervention in Mali stellt, lautet also, ob man nicht doch den Bock zum Gärtner erhoben hat. Zweifellos hat Jörn Schulz absolut Recht, wenn er schreibt: „Aus Sicht der emanzipatorischen Linken kann die Frage nur sein, wie die Jihadisten vertrieben werden können, und nicht, ob das überhaupt notwendig ist.“ Bei der Bewertung der Schreckensherrschaft, welche die radikalen Islamisten seit Anfang 2012 in Nordmali ausübten, kann man sowohl Jörn Schulz als auch Klaus Blees nur prinzipiell zustimmen. An diesem Punkt kann es kaum ernsthafte Differenzen geben. Und die Frage, wie man es mit hehren pazifistischen Idealen hält, ist angesichts der Realität der ideologisch motivierten Unterdrückung der Bevölkerung in Nordmali von geringem Interesse.

Dass die Mächte, die gegen bewaffnete Islamisten eingreifen, zunächst einmal durch die Letzteren unterworfene Bevölkerung als kleineres Übel wahrgenommen werden, ist eine auch anderswo gemachte Erfahrung. Sei es 1993 im algerischen Blida, wo bewaffnete Islamisten einige Monate lang über eine „befreite Zone“ verfügten, oder 2004 im iraqischen (irakischen) Fallujah: Oft unterstützten Bevölkerungsteile die radikalen Islamisten am Anfang als „Robin Hoods“, die gegen ein verhasstes Regime oder eine als Besatzer wahrgenommene Armee kämpften – aber sobald es darum ging, dass die Gotteskrieger das Leben der Menschen ihrer „konkreten Utopie“ unterwerfen wollte, hörte die Zustimmung sehr schnell und nachhaltig auf. Angesichts des realen Erlebens der reaktionären Utopie, für die die Islamisten kämpfen, wurde noch jedes Eingreifen gegen selbige als kleineres Übel betrachtet. Einen menschenfreundlichen Charakter jener Akteure, die danach jeweils die Macht ausüben – etwa das Regime der algerischen Oligarchie – begründet dies allerdings ebenfalls nicht. Zwischen zwei Übeln muss man nicht unbedingt das eine auf Dauer wählen.

Auch im Falle Malis ist die Begeisterung der Bevölkerung für die konkrete französische Intervention übrigens relativer, als sie mitunter dargestellt wird. Es ist richtig, dass es einigen Applaus für diese, und sehr wenig explizite Widerstände gegen sie gegeben hat. Allerdings wurde Präsident François Hollande am vorletzten Wochenende in Mali zwar in Tombouctou (Timbuktu), wo die Djihadisten noch bis kurz zuvor drakonische Strafen wegen Rauchens oder Trinkens verhängte, tatsächlich von einer jubelnden Menge begrüßt. Anderswo in Mali dagegen war die Begeisterung sehr viel relativer. In der Hauptstadt Bamako war hingegen der Platz, auf dem Hollande sprach, teilweise leer, wie man unschwer auf den Fernsehbildern erkennen konnte. Gegenüber der französischen Wochenzeitung Le Canard enchaîné (Ausgabe vom 06. Februar 13) begründete das Präsidentenamt dies damit, dass gleichzeitig das Fußball-Länderspiel Mali gegen Südafrika stattgefunden habe. Keine besonders starke Begründung. Alles spricht dafür, dass viele Menschen in Mali zwar das Ergebnis der Vertreibung der Djihadisten wünschten, aber gegenüber den neoliberalen Hintergedanken der intervenierenden Macht skeptisch bleiben. Auf französischer Seite hingegen sähe man gerne die grundsätzliche Rolle Frankreichs als Hegemon in der Region für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre erfolgreich neu legitimiert.

Stellen wir uns also die einzige Frage, die aufgeworfen zu werden verdient: Welche politischen Alternativen hat es zum real stattfindenden Eingreifen Frankreichs gegeben? Was dessen Bewertung betrifft, so vermag man sich ebenfalls Jörn Schulz anzuschließen, wo er schreibt, dass es keine „Schande (…) oder Bejahung der bürgerlichen Ordnung ist, angesichts der Bedrohung durch neonazistische Schläger die Polizei zu rufen, wenn die Antifa nicht stark genug ist.“ Ja, das stimmt, und es trifft sogar dann zu, wenn man bei der Polizei den Diebstahl seines Autos anzeigt, weil die Selbstverteidungsgruppe des Arbeiterrats in dieser historischen Periode gerade keine Sprechstunden anbietet. Nur stehen eben auch hier die Dinge nicht immer und überall alternativlos. Wenn man mit dem Diebstahl seines Autos konfrontiert ist, bietet es sich an, zur nächsten Polizeiwache zu gehen – weil man ohne Strafanzeige den Versicherungsbetrag nicht erstattet erhält -, aber man wird nicht unbedingt die GSG9 anrufen. Und wenn es um rassistische Gewalt von Rechtsextremen geht und man die örtliche Polizei von Nazisympathisanten durchsetzt weiß, aber die lokale Antifa über solide Argumente in Form von Hartholz verfügt, dann wird man im konkreten Fall doch lieber die Letztere anrufen.

Alternativen?

Ob man also in der Krisenregion Mali ausgerechnet auf Frankreichs militärisches Eingreifen zurückgreifen musste, ist also eine Frage, die man sich stellen muss. Dafür mag vordergründig die Effizienzerwägung sprechen: Als hochgerüstete Großmacht, die in Afrika über reichlich Kampferfahrung verfügt, konnte Frankreich zweifellos schnell eingreifen. Allerdings trifft ebenso zu, dass alle Ansätze für eine inländische Lösung innerhalb Malis sowohl in ihren zivilen als auch militärischen Komponenten über Monate hinaus blockiert wurde. Seit März 2012 war Mali mit einem Waffenembargo belegt worden, mit der vordergründigen Begründung seitens der USA und Frankreichs, man nehme den Putsch eines Teils der Armee – eher ihrer unteren Ränge, gegen die korrupte Oligarchie – vom 22. März nicht hin. Stattdessen forderten etwa die USA erst einmal reguläre Wahlen, was angesichts der realen Situation in einem zweigeteilten und im Kriegszustand befindlichen Land ausgesprochen realitätsfern schien. Unterdessen verrosteten die für Malis Armee bestimmten Waffen in Conakry, Dakar und Abidjan. Dabei war die Begründung aus Paris und aus Washington gelogen, der Militärputsch in Bamako sei erst die Ursache für die Eroberung des Nordens durch die Djihadisten gewesen: Das war er nicht, viel eher war er eine von ihren Folgeerscheinungen.

Man muss Militärputsche keineswegs bejubeln, auch wenn sie von den unteren Reihen und den weniger korrupten jungen Offizieren ausgehen. Auch wenn man nicht verkennen darf, dass im postkolonialen Afrika – wo viele junge Männer aus armen Familien oft überhaupt nur bei der Armee zu erträglichen Jobs und Bildung kommen können – oft in den unteren Rängen der Armee progressivere Kräfte existieren, als in der regierenden Oligarchie. Als positivstes, tatsächlich emanzipatorisches Beispiel bleibt in ganz Westafrika der durch einen Putsch an die Regierung gekommene linke Präsident von Burkina Faso, Thomas Sankara (1983 bis 87). Ein negatives Gegenbeispiel setzte allerdings in jüngerer Zeit Moussa Dadis Camara, der ebenfalls als junger Offizier an die Macht kam, Ende 2008 in Guinea, und schon im September 2009 ein Massaker an zivilen Opponenten verüben ließ. Die Ambitionen und politischen Perspektiven der jungen Offiziere in Mali lagen wohl irgendwo zwischen diesen beiden Extrempolen. Einige der Putschisten strebten vor allem danach, einen Verteidigungskrieg im Norden des Landes gegen die Djihadisten zu organisieren. Andere dagegen wiederum strebten überwiegend danach, sich selbst auf schnellere Weise als bei normalem Karrieregang zu bereichern – in öffentlichen Gebäuden in Bamako kam es in den ersten Tagen des Putschs zu Plünderungen von ihrer Seite.

Man hätte den Putschisten keinen Blankoscheck geben dürfen, und es wäre notwendig gewesen, für eine starke politische Kontrolle von zivilen Kräften über die malische Armee zu sorgen. Zivile politische Kräfte begleiteten ja tatsächlich den Putsch vom 22. März, in dem ein kleineres Übel gegenüber der alten Oligarchie erblickten – Letztere ist in das internationale Drogenkartell an der Kokain-Route, die von Südamerika über Guinea und Mali in den Mittelmeerraum führt, eingebunden und hat deswegen gemeinsame Interessen mit den kriminellen Gruppen in der Sahara, die gleichzeitig die Djihadisten in der Wüste überlassen lassen und selbst am Drogentransport verdienen. Dies ist einer Hauptgründe für das Laissez-faire der alten Staatsmacht in Mali gegenüber den Djihadisten. Eine Mischung aus ziviler und militärischer Mobilisierung in Mali gegen die djihadistische Bedrohung, verbunden mit einer internationalen Beteiligung, aber unter einheimischer Kontrolle – dies wäre eine Alternative zur Intervention unter rein französischer Kontrolle gewesen. Es hätte Frankreich nicht daran gehindert, Waffen oder Militärberater dafür zur Verfügung zu stellen.

So sahen es im Übrigen auch die UN-Resolutionen von September und November 2012 zu Mali vor, die Frankreich aus gutem Grund jetzt nicht mehr zitiert, und die jeglichen französischen Oberbefehl ausschlossen. Dass dieses offizielle Vorhaben über den Haufen geworfen wurde, begründete man offiziell mit der Dringlichkeit, nachdem die Djihadisten in Zentralmali am 09. Januar 13 einen Ausfall durch eine Offensive auf Konna und Sévaré versuchten. Doch die Intervention wurde nicht zwischen dem 09. und dem 11. Januar entschieden: Französische militärische „Spezialkräfte“ standen, neben einigen deutschen Beratern übrigens, seit September 2012 in der Region bereit. Und ein Treffen zwischen politischen und militärischen Entscheidungsträgern in Paris am 31. Oktober 12 debattierte über die Luftlandekapazitäten, die jetzt eingesetzt wurden.

Die Djihadisten, die seit dem zweiten Februar-Wochenende 2013 – mit einer ersten Gegenoffensive in Gao, und ersten Selbstmordattentaten – in einen Guerillakrieg einzutreten scheinen, träumen davon, sich als „Widerstandskämpfer“ gerade gegen die ehemalige Kolonialmacht zu präsentieren. Diesen Gefallen hätte man ihnen nicht tun dürfen.

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.