Warum ich Marxist bin

von Karl Korsch (1935)

02-2015

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Es gibt für den Marxisten keinen „Marxismus" im allgemeinen, so wenig es die „Demokratie" im allgemeinen, die „Diktatur" im allgemeinen oder den „Staat" im allgemeinen gibt. Es gibt nur einen bürgerlichen Staat, eine faschistische bzw. proletarische Diktatur usw., und auch diese nicht im allgemeinen, sondern nur auf einer bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstufe. Jede dieser wirklichen Daseinsweisen des Staats, der Diktatur usw. hat ihre eigenen ökonomisch, zum Teil auch geographisch, traditionell oder sonstwie bestimmten Eigenschaften, ihre eigene Struktur und ihre eigenen Bewegungs- und Entwicklungsgesetze. Dieses Prinzip gilt unbedingt auch für den „Marxismus" selbst. Es gibt auf den verschiedenen zeitlichen Entwicklungsstufen, und es gibt auch noch heute auf den verschiedenen Ausbreitungsgebieten und bei den verschiedenen Richtungen der marxistischen Bewegung innerhalb jedes Gebiets und im internationalen Maßstab ganz verschiedene theoretische Systeme und Bewegungsformen, die als Marxismus auftreten. Anstatt also die verschiedenen theoretischen Prinzipien, methodischen Gesichtspunkte, geschichtlichen Einsichten und praktischen Erfahrungsregeln des proletarischen Klassenkampfes, die von Marx und den Marxisten seit mehr als 80 Jahren zu dem Ganzen einer revolutionären Theorie und Bewegung verbunden worden sind, mit systematischer Vollständigkeit zu behandeln, stellen wir uns rücksichtslos auf den Boden der gegenwärtigen praktischen Brauchbarkeit. Wir fragen, welche bestimmten marxistischen Gedanken, Einstellungen, Verhaltensweisen heute hier unter den gegebenen Verhältnissen d. h. im Jahre 1935 in Europa, in USA, in China, Japan, Indien und in der neuen Welt der USSR geeignet sind, für das Proletariat bzw. für den entwickeltsten und energischsten Teil des Proletariats oder auch für bestimmte, nicht oder noch nicht proletarisierte Schichten [„versinkende Mittelschichten", „neuer Mittelstand" der höheren Angestellten, Bauern und Farmer usw.] oder sogar für einen Teil der vom „Monopolkapitalismus" oder vom „Faschismus" bedrohten Bourgeoisie selbst, in zweiter Linie auch für die bei der zunehmenden Auflösung der alten Gesellschaft einzeln zum Proletariat überlaufenden Bourgeoisideologen [Gelehrte, Künstler, Ingenieure usw.] als Richtschnur des Denkens und Handelns zu dienen.

Wir erörtern im folgenden einige der „starken Seiten" des Marxismus:

1. Der Marxismus ist nicht allgemein, sondern spezifisch.
2. Er ist nicht positiv, sondern kritisch.
3. Sein Gegenstand ist nicht die bestehende und in ihrer Be­ständigkeit bestätigte, sondern die untergehende und als un­tergehend bewiesene kapitalistische Gesellschaft.
4. Sein Zweck ist nicht die Anschauung und der Genuß der bestehenden Welt, sondern ihre praktische Umwälzung.

I

Keine dieser Seiten des Marxismus ist in der bisherigen Theorie und Praxis der Marxisten voll zur Geltung und Auswirkung gelangt. Viele Marxisten haben, indem sie entweder als alt­marxistische „Orthodoxie" den Marxismus gegen den reformi­stischen Vorwurf des out-of-date-Seins verteidigen wollten oder umgekehrt als Bürger des Sowjetstaats ihrer neumarxisti­schen Staatsdoktrin eine noch höhere Weihe geben wollten, statt der spezifischen Bedeutung aller Sätze der marxistischen Theorie vielmehr die allgemeine Gültigkeit wenigstens ihrer Grundlehren behauptet. So „rettete" noch kürzlich der engli­sche Marxist A. L. Williams den Marxismus gegen die reformi­stische Behauptung, daß der tatsächliche Gang der modernen Geschichte von ihrem marxistischen Entwicklungsschema abge­wichen sei, durch die klägliche Ausflucht, daß Marx „die allge­meinen Gesetze der gesellschaftlichen Veränderung nicht nur aus dem Studium der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, son­dern auch aus dem Studium der gesellschaftlichen Entwicklung seit den Anfängen der menschlichen Gesellschaft" abgeleitet habe und daß es daher „wohl möglich" wäre, daß „seine Schlußfolgerungen für das 20. Jahrhundert ebenso wahr wä­ren, wie sie es für die Periode waren, in der er zu ihnen ge­langte".(1) Es versteht sich von selbst, daß eine solche „Verteidi­gung" eine weit schlimmere Preisgabe des wirklichen Inhalts der Marxschen Theorie bedeutet als irgend ein Bernsteinscher Revisionsversuch. Gleichwohl war dies die einzige Antwort, die in den letzten 30 Jahren von der marxistischen Orthodoxie gegen den reformistischen Vorwurf, daß der eine oder der an­dere Bestandteil des Marxschen Lehrgebäudes veraltet sei, vor­gebracht worden ist. Es passierte dieser Marx-Orthodoxie, daß sie, statt dem reformistischen Angreifer durch eine fortschritt­liche Weiterentwicklung des Marxschen Prinzips zu begegnen, vielmehr selbst in noch viel höherem Grade in jene „abstrakte" und „metaphysische" Denkweise zurückfiel, die schon Marx — im Anschluß an Hegel — widerlegt hatte, und die durch die ganze dazwischenliegende Entwicklung des modernen Den­kens erst recht überholt ist. Der gleiche Rückfall in eine über­wundene Denkweise unterläuft, wenn auch unter völlig ande­ren Verhältnissen und aus anderen Motiven, auch den ideolo­gischen Vertretern der marxistisch-leninistischen Staatsdoktrin des heutigen Sowjetrußland. So läßt heute der kleine stalinisti­sche Ideologe L. Rudas von den drei bei Marx als konkrete Einheit einer praktisch revolutionären Entwicklung in der ge­genwärtigen Epoche begriffenen Gegensätzen [der Produktiv­kräfte und Produktionsverhältnisse in der Ökonomie, der ge­sellschaftlichen Klassen in der Geschichte und der Thesis und Anti-thesis im logischen Denkprozeß] gerade den mittleren, den der kämpfenden Klassen, als vergängliches, für den dia­lektischen Prozeß belangloses Nebenwerk unter den Tisch fal­len und behält als einzige Grundlage der zu einem ewigen Gesetz der kosmischen Entwicklung aufgeblähten „materiali­stischen Dialektik" den ebenfalls von jeder spezifischen Be­stimmtheit gelösten Gegensatz von Produktivkräften und Pro­duktionsverhältnissen bei. Er gelangt so, nebenbei, mit Bezug auf die gegenwärtige sowjetrussische Ökonomie zu der absur­den Konsequenz, daß in ihr der grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft in „invertierter" Form fortbestehe, indem dort jetzt nicht mehr die sich entwickelnden Produktiv­kräfte gegen die fixierten Produktionsverhältnisse rebellieren, sondern umgekehrt die relative Rückständigkeit der Produktiv­kräfte gegenüber der bereits eingetretenen Weiterentwicklung der Produktionsverhältnisse als Antrieb zu einer über alle bis­herigen Erfahrungen hinaus beschleunigten Entwicklung diene.(2) Die von mir in meiner Ausgabe des Marxschen Kapital [Berlin 1932 p. 33] aufgestellte Behauptung, daß die in diesem Werke und besonders in seinem letzten Kapitel über die „ursprüng­liche Akkumulation" enthaltenen Marxschen Sätze nur ein geschichtlicher Abriß der Entstehung und Entwicklung des Ka­pitalismus im westlichen Europa sind und „darüber hinaus Allgemeingültigkeit nur in dem Sinne haben, wie jede tiefere erfahrungsmäßige Erkenntnis einer natürlichen oder geschicht­lichen Gestalt in ihrer Geltung über diesen Einzelfall hinaus­greift", fand bei den Wortführern beider Fraktionen der deut­schen und russischen Marx-Orthodoxie ungeteilte Ablehnung. Tatsächlich ist aber diese Behauptung nur eine selbstverständli­che Konsequenz jener prinzipiellen Absage an alle Versuche zu einer „supra-historischen" Ausdeutung der im Kapital aufge­stellten Sätze, die Marx schon vor 50 Jahren in seiner Polemik gegen einen solchen Ausdeutungsversuch des idealistischen rus­sischen Soziologen Michailowsky ausdrücklich ausgesprochen hat. Wie nüchtern, klar und bestimmt war im Vergleich zu dieser neuerlichen Renaissance der philosophischen Dialektik noch vor einigen Jahrzehnten der Standpunkt solcher revolu­tionärer Marxisten wie Rosa Luxemburg und Franz Mehring, die das Wesen der materialistischen Dialektik in der marxisti­schen Ökonomie schlicht und einfach in ihrer spezifischen Bezo-genheit auf historisch bestimmte Gegenstände erblickten.

Alle berüchtigten Streitfragen auf dem Gebiet der materialisti­schen Geschichtsauffassung, die in ihrer allgemeinen Fassung ganz ebenso unlösbar und ganz ebenso sinnlos sind wie die be­kannte scholastische Streitfrage nach der Priorität des Eis, ver­lieren ihren mysteriös sterilen Charakter, wenn sie konkret, geschichtlich und spezifisch gestellt werden. Wenn z. B. Fried­rich Engels in seinen bekannten Altersbriefen über den histori­schen Materialismus die Marxsche Grundbehauptung, daß „die ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Basis bildet, worauf sich ein juristischer und politischer Uberbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen", in allzu entgegenkommender Berücksichtigung der gegen die Einseitigkeit dieser Lehre von bürgerlichen und halbmarxistischen Kritikern vorgebrachten Einwände nach­träglich dahin modifizierte, daß er in weitem Umfange soge­nannte „Wechselwirkungen" von dem Uberbau auf die Basis und von der ideologischen auf die ökonomische und politische Entwicklung usw. zugestand, so wurde durch diese nachträgli­chen Konzessionen an die Gegner und halben Anhänger die neue revolutionäre Einsicht in völlig unnötiger Weise in ihrer Grundlage zerstört. Ohne genauere quantitative Bestimmung des „wieviel" der Wirkung und der Gegenwirkung und eine exakte Angabe über die Bedingungen, unter denen jeweils die eine oder die andere eintritt, verliert gerade durch diese nach­trägliche Engelssche „Ergänzung" die ganze Lehre der materia­listischen Geschichtsauffassung über die „entscheidende" Be­deutung der ökonomischen Basis für den geschichtlichen Ent­wicklungsprozeß der Gesellschaft jede praktische Brauchbar­keit; sie bleibt dann nicht einmal mehr als Forschungshypothese nützlich, da man in keinem Einzelfalle eine Handhabe dafür hat, ob man den Anstoß zu der auf irgend einem Gebiet des gesellschaftlichen Lebens eingetretenen Veränderung mehr in der Wirkung der Basis auf den Uberbau oder in der Rückwir­kung des Überbaus auf die Basis suchen soll. Auch mit solchen sprachlichen Wendungen wie „primäre" und „sekundäre" Fak­toren oder „unmittelbar", „mittelbar" und „in letzter Instanz" entscheidende Ursachen wird hier nicht viel verbessert. Die ganze Streitfrage wird aber hinfällig, sobald die allgemeine Fragestellung nach der Wirkung „der Ökonomie" auf „die Po­litik", „das Recht", „die Kultur", „Kunst" usw. usw. ersetzt durch eine spezialisierte Beschreibung der bestimmten Bezie­hungen zwischen bestimmten ökonomischen Erscheinungen auf einer bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstufe und den gleichzeitig oder später auf jenen anderen Gebieten der politi­schen, juristischen und geistigen Entwicklung eintretenden be­stimmten geschichtlichen Erscheinungen. So löst sich nach Marx, der über diese Seite der Sache [in dem posthum veröffentlichten Entwurf einer allgemeinen Einleitung zu seiner „Kritik der politischen Ökonomie"] eine bei aller Skizzenhaftigkeit höchst eindringliche, alle jene späteren Einwände vorausnehmende Klarstellung des ganzen Sachverhalts gegeben hat, insbeson­dere auch das einigermaßen verwickelte Problem des „unegalen "Verhältnisses der Entwicklung der materiellen zur künstleri­schen Produktion", welches zum Ausdruck kommt in der Tat­sache, daß bestimmte Blütezeiten der Kunst keineswegs im Ver­hältnis zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft, also auch der materiellen Grundlage ihrer Organisation stehen". Er zeigt in zweifacher Spezialisierung auf, wie diese ungleiche Entwick­lung sowohl „im Verhältnis der verschiedenen Kunstarten in­nerhalb des Bereichs der Kunst selbst" als auch „im Verhält­nis des ganzen Bereichs der Kunst zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft" in bestimmten geschichtlichen Formen eintritt. „Die Schwierigkeit besteht nur in der allgemeinen Fassung die­ser Widersprüche. Sobald sie spezifiziert werden, sind sie schon erklärt".

II

Ebenso bestritten wie die Behauptung über den spezifisch be­stimmten, konkret geschichtlichen Gegenstand aller, auch der scheinbar allgemeinsten Aussagen, Gesetze und Prinzipien der marxistischen Theorie ist auch unser zweiter Satz über ihren nicht positiven, sondern wesentlich kritischen Charakter. Die marxistische Theorie ist weder positive materialistische Philo­sophie noch positive Wissenschaft. Sie ist vielmehr von Anfang bis zu Ende eine zunächst theoretische, in der Folge auch prak­tische Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung und aller Institutionen und Ideen dieser bestehenden Gesellschaftsord­nung. Freilich ist hierbei das Wort „Kritik" wieder in jenem umfassenderen und gesteigerten Sinne zu verstehen, in dem in der vorrevolutionären Periode der 40er Jahre alle linken He­gelianer und mit ihnen auch Marx und Engels das Wort „Kri­tik" angewendet haben. Es ist ferner zu verstehen im Sinne einer nicht mehr bloß idealistischen, sondern zugleich mate­rialistischen Kritik, die nicht nur nach der Seite des Objekts die genaue „naturwissenschaftlich treu zu konstatierende" empirische Erforschung aller Beziehungen und Entwicklungen einschließt, sondern ebenso auch nach der Seite des Subjekts von dem machtlosen Wünschen, Wollen und Sollen individuel­ler Subjekte zur Entwicklung einer geschichtlich aktionsfähigen Klassenkraft und ihrer „umwälzenden Praxis" übergeht. Die­sen in allen Marx-Engels'schen Schriften der ersten jugendlichen Periode (bis 1848) unbedingt vorherrschenden kritischen Zug hat die Marxsche Theorie auch in ihrer späteren Entwicklungs­periode behalten. Wie die erste (von den beiden Freunden in der Mitte der 40er Jahre gemeinsam unternommene) Gesamt­darstellung ihres philosophischen und politischen Standpunk­tes den Titel „Kritik der deutseben Ideologie" trug, so nannte Marx auch noch, als er 1859 den ersten Teil des von ihm ge­planten umfassenden ökonomischen Werkes veröffentlichte, dieses Buch in scharfer Betonung seines angreifenden Charak­ters eine „Kritik der politischen Ökonomie", und dieser Name wurde auch in dem später unter einem anderen Titel veröffent­lichten Gesamtwerk wenigstens als Untertitel festgehalten: „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie". Dagegen haben die späteren „orthodoxen" Marxisten diese Vorherrschaft des nach ihrer Meinung dem äußeren Ansehen und dem „wis­senschaftlichen" Charakter ihrer Theorie höchst abträglichen kritischen Prinzips besonders in der von ihnen als Grundwis­senschaft des Marxismus betrachteten Ökonomie vergessen und verleugnet. Den krassesten Ausdruck findet diese veränderte Stellung der späteren marxistischen Wissenschaft in den be­kannten Einleitungsworten des Hilferding'schen „Finanzkapi­tal", in welchem die marxistische Ökonomie als eine bloße neue Phase in der von Adam Smith bis Marx ungebrochen fort­gesetzten Entwicklung einer einheitlichen ökonomischen Wis­senschaft dargestellt wird. Nachdem der Verfasser ausdrücklich erklärt hat, daß die ökonomische Theorie des Marxismus eben­so wie seine Politik „frei von Werturteilen" sei, fährt er fort, daß es „deshalb eine, wenn auch intra et extra muros weit ver­breitete, so doch falsche Auffassung ist, Marxismus mit Sozia­lismus schlechthin zu identifizieren. Denn logisch, nur als wis­senschaftliches System betrachtet, also abgesehen von seinen historischen Wirkungen, ist Marxismus nur eine Theorie der Bewegungsgesetze der Gesellschaft, die die marxistische Ge­schichtsauffassung allgemein formuliert, während sie die marx­istische Ökonomie auf die Epoche der Warenproduktion an­wendet. Die sozialistische Konsequenz ist Resultat der Tenden­zen, die in der warenproduzierenden Gesellschaft sich durch­setzen. Aber die Einsicht in die Richtigkeit des Marxismus, die die Einsicht in die Notwendigkeit des Sozialismus einschließt, ist durchaus keine Abgabe von Werturteilen und ebenso wenig eine Anweisung zu praktischem Verhalten. Denn etwas ande­res ist es, eine Notwendigkeit zu erkennen, etwas anderes, sich in den Dienst dieser Notwendigkeit zu stellen. Es ist ganz gut möglich, daß jemand, von dem schließlichen des Sozialismus überzeugt, sich dennoch in den Dienst seiner Bekämpfung stellt."

Wenn um dieselbe Zeit der revolutionäre Syndikalist Sorel gegen diese oberflächliche und scheinbare „Wissenschaftlichkeit" der Marx-Orthodoxie Sturm gelaufen ist und eine Entwick­lungsphase später der revolutionäre Marxist Lenin das ver­gessene kritische Prinzip des Marxismus nicht nur für die Öko­nomie, sondern für den ganzen Umfang der marxistischen Theorie wiederhergestellt hat, so haben beide doch die ur­sprüngliche Schärfe des Marxschen kritischen Prinzips nicht wieder erreicht, geschweige denn gesteigert. Bei dem Irrationa­lsten Sorel hat die Umwandlung einiger wichtiger Theorien des Marxismus in „Mythen" gegen seine Absicht im Endergeb­nis zu einer auch praktischen Entwertung dieser Theorien für den revolutionären proletarischen Klassenkampf geführt und dem Mussolinischen Faschismus den Weg bereitet. Bei dem re­volutionären Praktiker Lenin hat die ausschließlich auf die nächstliegende und in der vergangenen Erfahrung bereits her­vorgetretene Wirkung und zu wenig auf die möglichen künfti­gen Wirkungen abgestellte grobe Einteilung aller philosophi­schen, ökonomischen und sonstigen Sätze in für das Kapital bzw. für das Proletariat „nützliche" und „schädliche" Sätze jene Erstarrung, Rückbildung und teilweise Entartung der marxistischen Theorie eingeleitet, die heute die Geltung und Werbekraft des sowjetischen Marxismus außerhalb seines auto­ritären Machtbereichs bereits merklich beeinträchtigt. In Wirk­lichkeit kann das revolutionäre Proletariat die Unterscheidung der wissenschaftlichen Sätze in wahre und falsche auch prak­tisch nicht entbehren. Ganz wie der Kapitalist nach Marx „ein praktischer Mann ist, der zwar nicht immer bedenkt, was er außerhalb des Geschäfts sagt, aber stets weiß, was er im Ge­schäft tut", wie er also trotz all der religiösen und sonstigen sein Gehirn umnebelnden ideologischen Vorstellungen inner­halb der engen Grenzen, wo es für den Erfolg seiner Geschäfte unmittelbar notwendig ist, doch auch wahre, empirisch be­währbare Erkenntnisse braucht, und wie der Techniker für die Konstruktion einer Maschine wenigstens einige objektiv gege­bene physikalische Zusammenhänge richtig erkannt haben muß, so braucht auch das Proletariat für die Durchführung seines praktischen Klassenkampfes notwendigerweise eine hinrei­chend wahre Erkenntnis der für diesen Kampf erheblichen ökonomischen, politischen und sonstigen objektiven Sachver-halte. In diesem Sinne und in diesen Grenzen bleibt auch in der schärfsten Hervorkehrung des kritischen Prinzips in der materialistischen Revolutionstheorie des Marxismus die streng empirische und „naturwissenschaftlich treue" Erkenntnis der ökonomischen Bewegungs- und Entwicklungsgesetze der kapi­talistischen Gesellschaft und des proletarischen Kampfes immer eingeschlossen.

Da die marxistische „Theorie" sich mit der objektiven Erkennt­nis der Wirklichkeit keineswegs aus irgendeinem selbständi­gen theoretischen Interesse, sondern notgedrungen, aus gebie­terischer praktisch unausweichlicher Notwendigkeit und bei Strafe der objektiven Zielverfehlung (der Niederlage und des Unterganges der von ihr vertretenen proletarischen Klassen-bewegung), eben darum aber auch mit dem vollen Ernst und der Gründlichkeit eines an seiner theoretischen Sache auch praktisch interessierten Mannes befaßt, so liegt es ihr auch völ­lig fern, nach irgend einer systematischen Ganzheit ihrer Er­kenntnis zu streben. Sie interessiert sich auch theoretisch nicht für alles oder gar für alles gleichmäßig, sondern grundsätzlich nur für die Dinge, die sie etwas angehen, und für jedes einzelne Ding und für jede einzelne Seite an einem Ding desto mehr, je mehr dieses Ding oder diese Seite des Dinges sie auch praktisch angeht. Der Marxismus ist, bei aller selbstverständlichen Aner­kennung der „Priorität" der äußeren Natur vor der geschicht­lich menschlichen Welt, direkt nur an den geschichtlich gesell­schaftlichen Erscheinungen und Zusammenhängen interessiert, d. h. an denen, die in relativ zur kosmischen Naturentwicklung kleinen Zeiträumen veränderlich sind und in die er also gege­benenfalls auch praktisch verändernd eingreifen kann. Aus der Verkennung dieser Sachlage entspringt einerseits die neuer­dings besonders vom sowjetrussischen Marxismus-Leninismus vertretene Tendenz, die gleiche Überlegenheit, die die marxisti­schen Begriffe und Methoden auf dem ökonomischen und so­zialwissenschaftlichen Gebiet besitzen, auch für die Anwendung des Marxismus auf dem naturwissenschaftlichen Gebiet in An­spruch zu nehmen, andererseits jene bekannte Geringschätzung, mit der viele dem Sozialismus sonst wohlwollend gegenüber­stehende Naturforscher über den wissenschaftlichen Wert der besonderen marxistischen Erkenntnismethoden zu urteilen pfle­gen. In Wirklichkeit haben die spezifischen marxistischen Be­griffe und Methoden auf dem naturwissenschaftlichen Gebiet trotz der hierfür von Friedrich Engels seinerzeit geleisteten be­deutenden Vorarbeiten bis zum heutigen Tag keinerlei bemer­kenswerte Ergebnisse erzielt, dagegen auf dem ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Gebiet bis jetzt gegenüber allen Rivalen siegreich das Feld behauptet. Durch diese wirkliche Entwicklung der marxistischen Theorie sind alle jene Tenden­zen, die den Marxismus aus dem spezifischen Instrument ge­schichtlich gesellschaftlich praktischer Erkenntnis zu einem System allgemeiner natur- und sozialwissenschaftlicher Er­kenntnis oder gar zu einer allumfassenden philosophischen Weltanschauung ausbilden wollten, tatsächlich schon jetzt wi­derlegt. Sie werden deshalb heute von jenen vernünftigeren und verantwortlicheren Vertretern der leninistisch-marxisti­schen Wissenschaftstheorie, deren Äußerungen sich von denen der Rudasse ungefähr so unterscheiden, wie sich der heutige Sowjetstaat von den außerrussischen Sektionen der Kommuni­stischen Internationale unterscheidet, auch nicht mehr in der alten Schärfe aufrecht erhalten. So betont z. B. V. Asmus in seinem programmatischen Artikel neben der „gegenständlichen und methodologischen Einheit" der Geschichte und Naturwis­senschaft ebenso stark die zugleich gegebene „Eigentümlichkeit der geschichtlich gesellschaftlichen Wissenschaften, die es grund­sätzlich verbietet, ihre Probleme und Methoden mit denen der Naturwissenschaften zu identifizieren."(3)

Auch innerhalb der geschichtlich-gesellschaftlichen Sphäre in­teressiert sich der Marxismus (trotz seiner späteren Einbezie­hung auch gewisser urgeschichtlicher Phänomene im Zusam­menhang mit dem Problem der Analogie zwischen der „urkom­munistischen" und der künftigen klassenlosen „kommunisti­schen Gesellschaft") eigentlich und mit vollem Ernst nur für die besondere Epoche der heutigen „bürgerlichen Gesellschaft" in ihrer gegenwärtigen geschichtlichen Entwicklung. In ihrer Er­forschung verfährt er einerseits radikaler als andere „soziologi­sche" Theorien, indem er sich vorzugsweise mit ihrer ökonomi­schen Grundlage beschäftigt. Andererseits interessiert er sich für diese bürgerliche Gesellschaft und die ihr zugrunde liegende bürgerliche Produktionsweise keineswegs gleichmäßig in allen ihren Zügen, sondern vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der in ihrem Gefüge hervortretenden Unstimmigkeiten, ihrer kran­ken oder irgendwie schadhaften Stellen, mit einem Wort nicht für ihre „normale" Funktion, sondern vielmehr für den von ihm als eigentlicher Normalzustand dieser besonderen Gesell­schaftsformation aufgezeigten Zustand der Krise. Die Kritik der bürgerlichen Ökonomie und der darauf gegründeten ökono­mischen Gesellschaftsformation verdichtet sich zu einer kriti­schen Analyse der dieser Produktionsweise trotz der zeitweili­gen Überwindung jeder besonderen Krise doch unablösbar und in immer steigendem Grade anhaftenden Krisenhaftigkeit. Es ist eine merkwürdige Verkennung dieser überall offen zutage liegenden Grundtendenz der marxistischen Ökonomie, wenn einige neuere englische Marxisten eine „lacuna of some impor-tance" des marxistischen Systems darin „entdeckt" haben, daß der Marxismus zwar den Prozeß der unvermeidlichen Entste­hung von Krisen, aber nicht mit der gleichen Nachdrücklichkeit auch den Prozeß der Krisenüberwindung in seiner ökonomi­schen Notwendigkeit begründet und dargestellt hätte.(4) Auch außerhalb der ökonomischen Sphäre im politischen Über­bau und in der Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft interessiert sich die marxistische Theorie hauptsächlich für die in­nerhalb des kapitalistischen Systems bemerkbaren Risse und Spalten, die dunklen brüchigen und labilen Stellen, die zugleich für das revolutionäre Proletariat die praktischen Einbruchstel-len in das Gefüge dieser Gesellschaft kenntlich machen. „In unseren Tagen scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen. Die Maschinerie, die mit der wundervol­len Kraft begabt ist, die menschliche Arbeit zu verkürzen und ertragreicher zu gestalten, sehen wir für diese Hunger und Überarbeit erzeugen. Die neuen Reichtumsquellen werden durch einen seltsamen Zauberspruch des Schicksals zu Quellen der Not. Die Siege der Kunst scheinen erkämpft durch Verlust an Charakter. In dem Maße, wie der Mensch die Natur be­herrscht, scheint der Mensch durch andere Menschen oder durch seine eigene Niedertracht beherrscht zu werden. Selbst das reim Licht der Wissenschaft kann offenbar nur auf dem dunklen Hin tergrund der Unwissenheit scheinen. Alle unsere Erfindungen und Fortschritte scheinen kein anderes Ergebnis zu haben, als daß materielle Kräfte mit geistigem Leben begabt werden, und daß das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft ver dummt wird. Diesen Gegensatz zwischen moderner Industrie und Wissenschaft auf der einen Seite und modernem Elend und Verfall auf der anderen, dieser Gegensatz zwischen den Pro­duktivkräften und den gesellschaftlichen Verhältnissen unserer Zeit ist eine handgreifliche, überwältigende und nicht wegzu leugnende Tatsache. Einige Parteien mögen darüber wehkla gen, andere mögen wünschen, die moderne Geschicklichkeit los­zuwerden und damit auch die modernen Konflikte. Oder sie mögen glauben, daß ein so bemerkenswerter Fortschritt in der Industrie zur Vervollständigung eines ebenso bemerkenswer­ten Rückschritts in der Politik bedarf."(5)

IV

Alle in dieser kurzen Skizze bereits erörterten Eigentümlichkei ten des Marxismus zusammen mit der noch nicht explizit, abc: allenthalben implizit mitbehandelten vierten Eigentümlichkei'. der Unterordnung aller theoretischen Bekenntnisse unter de: Zweck der revolutionären Praxis, ergeben die Grundzüge dc^ sen, wodurch sich die Marxsche materialistische Dialektik vo der idealistischen Dialektik Hegels unterscheidet. Die von der bürgerlichen Restaurationsphilosophen Hegel bis in ihre spi ziellen Züge zu einem Instrument der Rechtfertigung des Besn henden einschließlich eines vernünftigen Fortschritts geformt Dialektik wurde von Marx nach einer sorgfältigen kritische Analyse am Ende „materialistisch" umgewälzt und weitererwickelt zu den  Ansätzen einer auch als Methode revolutionären Theorie, die die von Hegel idealistisch bewiesene „Vernunft" der vorhandenen Wirklichkeit als eine nur vorübergehende Vernunft nachweist, die im Verlauf der Entwicklung notwen­dige „Unvernunft" überschlägt, und diese kapitalistische Un­vernunft zugleich auch praktisch durch die „umwälzende Pra­xis" der neuen, proletarischen Klasse in ihrem realen Bestände und in ihren Grundlagen angreift. Während die Hegeische Dia-liktik „das Bestehende zu verklären schien", ist sie in dieser neuen rationellen Gestalt „dem Bürgertum und seinen doktri­nären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel", weil sie „in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist"(6).

Wie alle einzelnen kritisch aktivistischen und revolutionären Züge des Marxismus, so ist auch dieser Gesamtcharakter der Marxschen materialistisch dialektischen, d. h. kritischen und revolutionären Methode von den meisten Marxisten in der Folge gänzlich übersehen und auch von den besten nur teilweise wiederhergestellt und weiterentwickelt worden. Es ist an der Zeit, diesen revolutionären Gesamtcharakter der marxistischen Methode und damit die revolutionäre theoretische und prakti­sche marxistische Bewegung wiederherzustellen und sie zugleich dem gegen alle früheren Entwicklungsstufen ganz unvergleich­lich verschärften und aktualisierten Entwicklungsgrad des heu­tigen proletarischen Klassenkampfes entsprechend weiter zu verschärfen und zu aktualisieren.

Anmerkungen

1) A. L. Williams: »What is Marxism?« London 1934, p. 27.

2) L. Rudas: »Dialectical Materialism and Communism«, London 1934, p. 28-29.

3) Prof. V. Asmus: Marxism and the Synthesis of Sciences in der von VOLKS herausgegebenen Zeitschrift »Socialist Construction in the USSR.« Vol. V 1933 p. 11.

4) R. W. Postgale: »Karl Marx«, London 1933 p. 79 und die dort erwähnten Ausführungen von G. D. H. Cole's »Guide through World Chaos«, Lon­don 1932.

5) Aus einer Rede von Marx auf der 4. Jahresfeier des chartistischen »Pcople's Paper« 14. IV. 1856, abgedruckt People's Paper 19. IV. 1856. druckt Pcople's Paper 19. IV. 1856.

6) Marx, Vorrede zur 2. Auflage des »Kapital« 1873.


Editorische Hinweise

Der Aufsatz wurde entnommen: Sozialistisches Jahrbuch 2, Westberlin 1970, S. 7-17, erstveröffentlich wurde er auf Englisch mit dem Titel "Why I am a Marxist" in:  Modern Quarterly IX,2, April 1935.

Mehr zu Karl Korsch: http://www.workerscontrol.net/de/activists/karl-korsch