Kommentare zum Zeitgeschehen

"Für das Recht auf Mohammed-Karikaturen!".

von A.Holberg

02-2015

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Dem stimme ich zu. Es gibt ein formales Recht, allen möglichen Mist zu produzieren, solange dadurch nicht die Freiheit und physische Unversehrtheit Anderer in Mitleidenschaft gezogen wird. Aber sollten wir als Menschen, die für eine Welt eintreten, in der die Freiheit des Einzelnen Voraussetzung für die Freiheit Aller ist und in der Freiheit folglich das Ziel hat, die Entwicklung der besten und folglich potentiell allen Menschen nützlichen Fähigkeiten zu ermöglichen, jede Form der Nutzung dieser Freiheit, auch wenn sie genau diesem Ziel widerspricht, gutheißen?.

Im Zusammenhang mit den aktuellen Ereignissen, sollten wir vielleicht versuchen, uns zunächst einmal auf eine Definition von Blasphemie (="Gotteslästerung") zu einigen, auch wenn wir die Existenz eines "Gottes"nicht anerkennen. Ein Vorschlag: Jesus, dessen historische Realität zweifelhaft ist, der von seinenAnhängern als Gott verstanden, vom Islam immerhin als Prophet, oder Mohammed, der von den Muslimen nur als Mensch und Prophet gesehen wird, waren als imaginäre oder reale Personen zweifellos solche, die in zeitgemäßer Form grundlegende menschliche Bedürfnisse nach einem besseren - wenn nicht gar ökonomisch, dann doch geistigen und emotionalen - Leben ansprachen, die über ihre eigene Epoche hinausreichten. Sie sind deshalb Symbole, um die sich Menschen ganz verschiedener Art und Güte versammel(te)n. Anders als irgendwelche Päpste, Priester, Ayatollahs oder Imame, Rabbis oder Gurus, die sich auf sie bezogen und die als fassbare historische Persönlichkeiten Verfehlungen bis hin zu unbestreitbaren Verbrechen begangen haben und auf dieser Basis ebenso kritisiert und karikiert werden sollten wie irgendwelche weltlichen Könige und Präsidenten & Co, stellt eine ungehobelte Kritik oder gar Karikierung solcher "Propheten" eine fundamentale Verletzung der moralischen Integrität ihrer Anhänger - und zwar aller ihrer Anhänger - dar.

Jesus als "Lattenjupp" oder Mohammed als "Kinderficker" oder Bombenleger zu bezeichnen, verletzt mehr noch die guten Menschen, die sich auf sie beziehen, als den Abschaum, über den wir hier leider diskutieren müssen und die sich zweifellos zu Unrecht auf einen der Beiden oder - was für die Muslime gilt - gar auf Beide beziehen. Trotzki hat im übrigen eine Arbeit zur Alltagskultur nach der sozialistischen Revolution geschrieben, in der er sich gegen solche damals speziell in der russischer Arbeiterklasse verbreiten Unarten wie permanentes Fluchen oder auf den Boden Spucken wandte. Was sind das für "Kleinigkeiten" im Vergleich zur - auch noch im Interesse der Humanisierung der Gesellschaft nutzlosen - Beleidigung der tiefsten Gefühle von Millionen von Menschen, darunter einer Vielzahl solcher, die wir für den Sturz der Klassengesellschaft gewinnen wollen und müssen? Selbst wenn es möglich wäre, einem der "Propheten" Taten nachzuweisen, die auf dem Hintergrund der Gesellschaften, in denen sie wirkten, moralische Verfehlungen waren (was wohlbemerkt alleine auf Grund der Quellenlage nicht möglich ist), wäre es unangebracht und abstrus, einen solchen Versuch zu unternehmen, weil solche Taten der Propheten gar nicht in das Bild eingehen, das Millionen Menschen zu ihren Anhängern gemacht hat. Diese "Propheten" waren und sind für ihre Anhänger nicht als historische Persönlichkeiten bedeutend (auch wenn viele das in Hinblick vor allem auf Mohammed glauben mögen), sondern als Träger einer moralischen "Wahrheit", die relevant ist für ein gedeihliches Miteinanderleben.

"Charlie Hebdo" ist hingegen ein typisches Produkt wildgewordenen - französischen - Kleinbürgertums, das parallel zur sozioökonomischen Entwicklung Frankreichs seit der bürgerlichen Revolution von 1789 - insbesondere in seiner Robespierre'schen Form-, deren militante Basis eben das Kleinbürgertum war, im Zuge des imperialistischen Verfaulens der bürgerlichen Ordnung vom Revolutionarismus gegen das Ancien Regime zum pornographischen Zynismus übergegangen ist.

Wir verteidigen auch deren Recht, ihren Müll zu produzieren und daran nicht durch Verbot oder gar Mord gehindert zu werden. Aber wir sollten als Anhänger gleichermaßen der Aufklärung wie als Verfechter einer nicht nur formal menschenwürdigen Welt deutlich machen, dass uns mit dieser sekundären ideologischen und kulturellen Barbarei ("sekundär", weil die usprünglichen "Barbaren" von ganz anderer Art waren), wie wir sie nicht zufällig parallel auch bei den islamistischen Mordbrennern antreffen, nichts, aber auch gar nichts, verbindet.

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Kommentar vom Autor für diese Ausgabe.

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