Dem stimme ich zu. Es gibt ein
formales Recht, allen möglichen Mist zu produzieren, solange
dadurch nicht die Freiheit und physische Unversehrtheit Anderer
in Mitleidenschaft gezogen wird. Aber
sollten wir als Menschen, die für eine Welt eintreten, in der
die Freiheit des Einzelnen Voraussetzung für die Freiheit Aller
ist und in der Freiheit folglich das Ziel hat, die
Entwicklung der besten und folglich potentiell allen Menschen
nützlichen Fähigkeiten zu ermöglichen, jede Form
der Nutzung dieser Freiheit, auch wenn sie genau diesem
Ziel widerspricht, gutheißen?.
Im Zusammenhang mit den
aktuellen Ereignissen, sollten wir vielleicht versuchen, uns
zunächst einmal auf eine Definition von Blasphemie
(="Gotteslästerung") zu einigen, auch
wenn wir die Existenz eines "Gottes"nicht anerkennen.
Ein Vorschlag: Jesus, dessen historische Realität
zweifelhaft ist, der von seinenAnhängern als Gott verstanden,
vom Islam immerhin als Prophet, oder Mohammed, der
von den Muslimen nur als Mensch und Prophet gesehen wird,
waren als imaginäre oder reale Personen zweifellos solche, die
in zeitgemäßer Form grundlegende menschliche
Bedürfnisse nach einem besseren - wenn nicht gar
ökonomisch, dann doch geistigen und emotionalen - Leben
ansprachen, die über ihre eigene Epoche hinausreichten. Sie
sind deshalb Symbole, um die sich Menschen ganz
verschiedener Art und Güte versammel(te)n. Anders als
irgendwelche Päpste, Priester, Ayatollahs oder Imame, Rabbis
oder Gurus, die sich auf sie bezogen und die als fassbare
historische Persönlichkeiten Verfehlungen bis hin zu
unbestreitbaren Verbrechen begangen haben und auf
dieser Basis ebenso kritisiert und karikiert werden
sollten wie irgendwelche weltlichen Könige und Präsidenten & Co,
stellt eine ungehobelte Kritik oder gar
Karikierung solcher "Propheten" eine fundamentale Verletzung der
moralischen Integrität ihrer Anhänger - und zwar aller ihrer
Anhänger - dar.
Jesus als "Lattenjupp"
oder Mohammed als "Kinderficker" oder Bombenleger zu
bezeichnen, verletzt mehr noch die guten Menschen, die sich auf
sie beziehen, als den Abschaum, über den wir
hier leider diskutieren müssen und die sich zweifellos zu
Unrecht auf einen der Beiden oder - was für die Muslime gilt -
gar auf Beide beziehen. Trotzki hat im
übrigen eine Arbeit zur Alltagskultur nach der sozialistischen
Revolution geschrieben, in der er sich gegen solche damals
speziell in der russischer Arbeiterklasse
verbreiten Unarten wie permanentes Fluchen oder auf den Boden
Spucken wandte. Was sind das für "Kleinigkeiten" im Vergleich
zur - auch noch im Interesse der
Humanisierung der Gesellschaft nutzlosen - Beleidigung der
tiefsten Gefühle von Millionen von Menschen, darunter einer
Vielzahl solcher, die wir für den Sturz der
Klassengesellschaft gewinnen wollen und müssen?
Selbst wenn es möglich wäre, einem der "Propheten" Taten
nachzuweisen, die auf dem Hintergrund der Gesellschaften, in
denen sie wirkten, moralische Verfehlungen
waren (was wohlbemerkt alleine auf Grund der Quellenlage
nicht möglich ist), wäre es unangebracht und abstrus, einen
solchen Versuch zu unternehmen, weil solche
Taten der Propheten gar nicht in das Bild eingehen, das
Millionen Menschen zu ihren Anhängern gemacht hat. Diese
"Propheten" waren und sind für ihre Anhänger nicht
als historische Persönlichkeiten bedeutend (auch wenn
viele das in Hinblick vor allem auf Mohammed glauben mögen),
sondern als Träger einer moralischen "Wahrheit",
die relevant ist für ein gedeihliches Miteinanderleben.
"Charlie Hebdo" ist hingegen
ein typisches Produkt wildgewordenen - französischen -
Kleinbürgertums, das parallel zur sozioökonomischen Entwicklung
Frankreichs seit der bürgerlichen
Revolution von 1789 - insbesondere in seiner Robespierre'schen
Form-, deren militante Basis eben das Kleinbürgertum war, im
Zuge des imperialistischen Verfaulens der bürgerlichen Ordnung
vom Revolutionarismus gegen das Ancien
Regime zum pornographischen Zynismus übergegangen ist.
Wir verteidigen auch deren
Recht, ihren Müll zu produzieren und daran nicht durch Verbot
oder gar Mord gehindert zu werden. Aber wir sollten als Anhänger
gleichermaßen der Aufklärung wie als Verfechter einer
nicht nur formal menschenwürdigen Welt deutlich machen, dass uns
mit dieser sekundären ideologischen und
kulturellen Barbarei ("sekundär", weil die usprünglichen
"Barbaren" von ganz anderer Art waren), wie wir sie nicht
zufällig parallel auch bei den islamistischen
Mordbrennern antreffen, nichts, aber auch gar nichts,
verbindet.
Editorischer
Hinweis
Wir erhielten
den Kommentar vom Autor für diese Ausgabe.
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