Im Spiegel der Linken: Griechenland nach der Wahl

Grandioser Wahlsieg von Syriza. Wichtiger denn je – die Solidarität!

von
Heinz Jandl  (Revolutionär Sozialistischer Bund / IV.Internationale)

02-2015

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Die ursprünglich erst in eineinhalb Jahren fällige Wahl war – entsprechend der griechischen Verfassung – vorgezogen worden, weil im Parlament keine Mehrheit für die Wahl des von der Regierung vorgeschlagenen Präsidentschaftskandidaten Dias gefunden worden war.

Wahlberechtigt waren rund zehn Millionen Griechen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. Zur Wahl standen die Regierungsparteien der rechtskonservativen Nea Dimokratia (ND), der sozialdemokratischen Pasok (Panhellenische Sozialistische Bewegung), dazu die bisherigen Oppositionsparteien Syriza (Koalition der Radikalen Linken), Anel (Unabhängige Griechen, Abspaltung der ND), die rechtsradikal-faschistische Goldene Morgendämmerung, die Dimar (Demokratische Linke), die KKE (Kommunistische Partei Griechenlands), der rechtsliberale To Potami (Der Fluss) und die neu gegründete Kinima (Bewegung der Demokraten und Sozialisten).

Syriza musste wegen zwei fehlender Sitze eine Koalition eingehen. Da die KKE sich verweigert, blieb erst mal nur Potami, so jedenfalls wurde diese Partei von den Medien präsentiert. Sie wäre mit ihren Kontakten nach Brüssel ein „trojanisches Pferd“ in der Regierung. Es ist klar, dass sie alles tun würde, um eine Vermittlerrolle zur EU zu spielen, d. h. die Sparpolitik doch noch „irgendwie“ zum Zuge kommen zu lassen.

Durch Regierungskoalition mit den „Unabhängigen Griechen“ hat sich Syriza für die einzige Partei entschieden, deren Gründung durch die Ablehnung der Troikapolitik bewirkt war und die ihren Wahlkampf hauptsächlich mit der Forderung nach einem Stopp der Sparpolitik ohne Wenn und Aber geführt hatte.

Inzwischen ist das Land wegen des sogar im kapitalistischen Sinne »verfehlten«, in Wahrheit menschenverachtenden Wahns vom Sparzwang bei offiziell fast 30 Prozent Arbeitslosigkeit angekommen. Bei den jungen Menschen zwischen 18 und 25 Jahren liegt die verkündete Erwerbslosenquote bei 55 Prozent, in Wirklichkeit dürfte sie in diesem Winter rund 65 bis 70 Prozent erreicht haben. Das ist eine Verdoppelung der Werte in den Jahren zwischen 2010 und 2014. Allein im Staatsdienst fielen fast 400 000 Stellen dem Diktat der Troika zum Opfer.

Gleichzeitig zu dieser sogar vom IWF als katastrophal bewerteten Entwicklung wurden Löhne und Gehälter zusammengestrichen. Beschäftigte mussten Kürzungen von rund 20 Prozent hinnehmen, der gesetzliche Mindestlohn wurde auf Betreiben der Troika um 22 Prozent auf inzwischen nur noch 586 Euro gesenkt.

Rund 30 Prozent der Griechen sind inzwischen ohne Krankenversicherung, große Krankenhäuser in Athen und in den anderen Städten des Landes verzichten unter anderem auf teure Therapien, weil sie die Medikamente dafür nicht mehr bezahlen können. Ganze Häuserblocks in der Athener Innenstadt werden auch in diesem Winter nicht beheizt, weil ihre Bewohner sich die Kosten für Strom oder Heizmaterial nicht leisten können. Alte Menschen sterben vor selbst gebastelten Holzöfen, Jugendliche sitzen in ungeheizten Schulen, die Kindersterblichkeit ist rasant angestiegen. Nach einer Umfrage vom September vergangenen Jahres meinten 74% der Griechen, die Demokratie sei nur noch in wenigen Restbeständen vorhanden und 21% meinten gar, sie sei schon längst beseitigt worden.

Die Schulden, die Griechenland zurückzahlen soll, belaufen sich auf 175 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – eine unerträgliche Belastung für die griechische Bevölkerung, deren Lebensstandard mittlerweile mit dem eines Entwicklungslandes vergleichbar ist.
Vor diesem Hintergrund ist der Wahlsieg für Syriza keineswegs eine Überraschung.

Das EU-Projekt der Reichen ist beschädigt

Die EU steht vor dem Scherbenhaufen ihrer Sparorgien, deren treibende Kraft die deutsche Regierung war und ist. Es ist bezeichnend, dass stundenlang in Brüssel kein Verantwortlicher erreichbar war, der zum Wahlausgang eine Stellungnahme abgeben wollte. Jean-Claude Junker, der noch wenige Tage vor der Wahl die Griechen aufgerufen hatte, nicht falsch zu wählen, blieb über Stunden unerreichbar. Schäuble murmelte etwas von „kein Schuldenschnitt“ in die Kameras und war damit wohl so etwas, wie ein Stichwortgeber für die EU.
Es wurde zum vielstimmigen ersten Echo der EU-Bankster, nachdem diese ihre Stimme wiedergefunden hatten. Wesentlich differenzierter fiel dagegen die erste Reaktion der Weltbank aus und es bleibt abzuwarten, ob nun das Ende der preußischen Zuchtmeisterrolle im EU-Rahmen eingeläutet ist. Das Kalkül der EU-Bürokraten ist klar: Keinen Schuldenschnitt, aber eventuell Verhandlungen über eine Verlängerung der Rückzahlungszeiträume und/oder eine Kreditverlängerung.

In der Zwischenzeit wird man die linke Regierung schon „weichkochen“. Wenn nichts passiert, läuft Ende Februar das Hilfsprogramm des Euro-Rettungsfonds (EFSF) aus. Athen wartet immer noch auf die letzte Rate des Hilfskredits. Es fließt aber kein Geld, solange die von der Geldgeber-Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF geforderten Auflagen nicht erfüllt sind. Der IWF, dessen Programm bis ins erste Quartal 2016 läuft, dürfte Rest-Milliarden ebenfalls auf Eis legen. Alles in allem geht es um rund acht Milliarden Euro. Es würde nicht nur Geld verfallen, auch müssten wohl Bankenhilfen wieder zurückfließen.

Wie weiter?

Syriza muss nun alles tun, um die Hoffnungen ihrer verarmten Wähler nicht in Verzweiflung umschlagen zu lassen. „Linke“ Politik muss heute neben raschen und spürbaren sozialen Verbesserungen auf eine Stabilisierung der Massenunterstützung gerichtet sein.

Denkbar wäre z. B. der Prüfungsauftrag, der sich aus Artikel 7 der im Mai 2013 verabschiedeten EU- Verordnung ergibt. Dort wird den Staaten unter Punkt 9 ein Prüfungsauftrag aller Staatsschulden auferlegt: Ein Mitgliedstaat, der einem makroökonomischen Anpassungsprogramm unterliegt, führt eine umfassende Prüfung seiner öffentlichen Finanzen durch, um unter anderem die Gründe für die Entstehung des übermäßigen Schuldenstandes zu analysieren und etwaige Unregelmäßigkeiten zu ermitteln.“

Wie würden die Griechen und die Europäer reagieren, wenn die neue Regierung diesen Auftrag ernst nimmt und eine Kommission mit der Prüfung beauftragt, die dann regelmäßig transparent die Öffentlichkeit über alle „Unregelmäßigkeiten“ und Korruptionsfälle informiert? Die Rolle der Reichen und der Banken würde nochmals vor der Öffentlichkeit ausgebreitet. Die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger ist unerlässlich, wenn die Prüfung gründlich und unabhängig sein soll. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass Artikel 8 der oben erwähnten EU-Verordnung empfiehlt, bei der „Vorbereitung des Entwurfs für ein makroökonomisches Anpassungsprogramm [...] die Ansichten der Sozialpartner sowie der einschlägigen zivilgesellschaftlichen Organisationen“ einzuholen. Ein Grund mehr, diese an der Prüfung aktiv teilnehmen zu lassen.

Die alte abgewählte Regierung von Antonis Samaras hat sich wohlweislich davor gehütet, diese Vorschrift anzuwenden, um der griechischen Bevölkerung die wirklichen Ursachen des Anstiegs der Verschuldung aufzuzeigen. Ein damaliger Antrag von Syriza wurde mit 169 Stimmenmehrheit im Parlament abgelehnt.

Zum Bündel der dringenden Maßnahmen gehört auch ein neues Polizeirecht, das den Einsatz gegen streikende und protestierende Belegschaften ausschließt und der Willkür des Polizeiapparats Schranken setzt.

Auf dem gesamten europäischen Kontinent ist bei Millionen Menschen mit dem Wahlsieg die Hoffnung verbunden, dass nun endlich Schluss sein wird mit dem ständigen Sozial- und Demokratieabbau. Eine griechische Regierung, die dem Diktat der Troika mit einem „Nein“ entgegentritt, handelt im Interesse aller EuropäerInnen. Das starke positive Echo auf den Wahlsieg von Portugal bis zur Ukraine bestätigt dies eindrücklich.
 
Aber wenn …

Die Verantwortung für die Entwicklung einer mobilisierenden Perspektive des Wechsels mit der Unterstützung und Bestärkung der Massenbewegung liegt einzig bei jenen Kräften, die innerhalb und außerhalb der Partei Syriza einen wirklichen ernsthaften Bruch mit dem Kurs der Banken und Konzerne auf diesem Kontinent anstreben. Ob Syriza als Ganzes diesen Bruch verkörpert, ist fraglich: Vergleicht man das 40 Punkte Programm zur Europawahl mit dem vorgelegten 12 Punkte Programm zur jetzigen Wahl, so wurden bereits sehr viele wichtigen Punkte fallen gelassen.

In den Beschlüssen des ersten Syriza-Parteitages 2013 wird der Austritt aus der NATO zu einer „Richtlinie der Außenpolitik“ erklärt. Als ein Abgeordneter sich für diesen Programmteil in einer Parlamentsrede ausspricht, wird er von einem Funktionär seiner Partei sofort korrigiert: „Wir haben nie gesagt, dass wir vorhaben, aus der NATO auszutreten. Was wir gesagt haben, ist, dass wir kämpfen sollten, damit die NATO von selbst zerbricht.“ (Tageszeitung Kathimerini.)

Sollte diese Verfälschung von Willensbekundungen zum Politstil der neuen Regierung werden, so hätte der Wahlsieg lediglich einigen Bürokraten und Mitläufern mit roten Westen einen neuen Job eingebracht, während Millionen sich von den Linken betrogen sehen werden. Das Szenario von Volksaufständen, Anschlägen und Regierungskrisen mit Neuwahlen könnte dann von den aufstrebenden Strahlen der faschistischen „Morgenröte“ erhellt sein. Weil sich dann „rechts“ und „links“ bekämpfen und alle endlich wieder Sicherheit und Ruhe herbeisehnen, könnte das Gespenst aus der griechischen Geschichte von 1967 bis 1974 wieder auftauchen: die Militärdiktatur von NATOs Gnaden.

Die Troika, die EU und die Merkel-Regierung werden mit Drohungen, Erpressungen und anderen Mitteln versuchen, jede positive Veränderung für die verarmte Bevölkerung zu verhindern. Wir halten es daher für dringend notwendig, eine breite Solidaritätsbewegung in Deutschland und ganz Europa voranzubringen, die das EU Projekt des Merkelismus zu Fall bringt.
 

Editorische Hinweise

Wir spiegelten den Artikel am 28.1.15 von: http://www.rsb4.de/content/view/5412/85/