Eine qualifizierte
Stellungnahme zu Althussers Werk, die seinen theoretischen
Leistungen – bspw. in „Für Marx“ oder in „Das Kapital lesen“
(erscheint am Ende des Jahres neu und vollständig übersetzt im
Verlag „Westfälisches Dampfboot“) – gewachsen ist, kann
inhaltlich verschieden ausfallen.
W. F. Haug nun bezeichnet Althusser als „Nietzsche des
Marxismus“ oder „sein eigener Herostrat“ (in „Das Argument“ Nr.
304/2013, S. 18 bzw. 17). Der Vortrag „Ist es einfach, im
Marxismus Philosoph zu sein“ findet sich auch auf Haugs
Internetseite.
Einen Einspruch gegen Haugs
Abfertigung von Althusser hat bisher m. W. einzig Christoph
Lieber formuliert – in der Ausgabe 7/8 2014 der Hamburger
Zeitschrift „Sozialismus“ (VSA-Verlag).
Die beiden erlesen klingenden Paradoxa („Nietzsche des
Marxismus“, „Herostrat seiner selbst“) dürften beim Leser den
Eindruck erwecken, hier werde über etwas Negatives bzw.
Befremdliches gesprochen. Welchen bestimmten Inhalt aber
bezeichnen sie?
Bei „Nietzsche des Marxismus“ bleibt der Inhalt unklar. Anders
der Effekt: Bei der Erwähnung des Namens „Nietzsche“ assoziieren
die meisten Linken aller Erfahrung nach ein ihnen pauschal als
in besonderem Maße tadelnswert (weil „präfastischisch“ und
„frauenfeindlich“) erscheinendes Denken. Um ein ebenso schweres
wie negatives Zeichen handelt es sich auch bei „Herostrat“. So
wird gemeinhin jemand bezeichnet, der nichts geringeres
anstellt, als aus Geltungssucht Kulturgüter zu zerstören.
Zum Begriff des „Herostraten“ gehört die Trennung zwischen
Subjekt (der, der zerstört) und Objekt (dasjenige, das zerstört
wird). Haug bezeichnet nun Althusser als „sein eigener
Herostrat“. Meint Haug, Althusser sei das Kulturgut, das
Althusser zerstört? Faktisch wendet sich Haug gegen eine
Stellungnahme von Althusser zu seinem eigenen Werk am Ende
seines Schaffens. Ein Herostrat ist aber nicht jemand, der ein
Kulturgut bloß kritisiert oder ihm seinen Wert abspricht. Ein
Herostrat
z e r s t ö r t das Kulturgut. Inwiefern v e r m a g aber das
Selbstverständnis oder
Selbstmissverständnis eines Autors zum Zeitpunkt x es überhaupt,
seine tatsächlichen Leistungen bzw. sein Werk aus der Zeit y zu
zerstören? Beim Ausdruck „sein eigener Herostrat“ handelt es
sich um einen Knalleffekt. Er soll Aufmerksamkeit erregen, löst
sich aber als undurchdachter Gedanke in Luft auf. Die negative
Etikettierung jedoch bleibt.
W. F. Haug findet in Bezug auf Althusser anscheinend keine
Grenze. Der Begriff „Psychose“ gehört in den Horizont
psychiatrischer Diagnose. Haug verwendet diesen Begriff in Bezug
auf Althussers späte Äußerungen zu seinem Werk. Haug spielt
damit auf Althussers psychische Problematik an. Sachlich ist
selbstverständlich zwischen der Beurteilung der geistigen
Leistung einer Person und der Beurteilung ihrer psychischen
Verfassung strikt zu unterscheiden. Wir treffen die Vermischung
dieser beiden Ebenen für gewöhnlich überall dort an, wo es darum
geht, gegen den Betroffenen Stimmung zu machen, durch den
Hinweis auf eine vermeintliche oder wirkliche psychische
Problematik die von ihm geäußerten Gedanken zu diskreditieren.
Eines ist sicher: Haug kennt den Unterschied zwischen Genesis
und Geltung. Althussers letztes Buch „am Rande der Psychose“ zu
verorten ist schon psychiatrisch Unfug: Im Zustand der Psychose
oder „am Rande der Psychose“ schreibt niemand Bücher, die für
den Leser verständlich sind.
Wenn W.F. Haug zufolge Althussers Bewertung seines Werks in
seiner Autobiographie so massive Kritik verdient, warum
konzentriert sich Haug auf d i e s e Äußerungen und nicht auf
Althussers früheres Werk? W. F. Haugs Text benutzt Althusser
bzw. das von ihm präsentierte (Zerr-)Bild, um in Absetzung davon
die Bedeutung seines eigenen Schaffens zu verdeutlichen:
„Er (Althusser – Verf.) kommt vom Leninismus her, den Stalin als
Fassade seines Regimes … kodifiziert und kanonisiert hat. Mehr
aufs Argument und auf Einsicht bauend, komme ich von dem her,
was der schwedisch-deutsche Schriftsteller Peter Weiss die Linie
Luxemburg-Gramsci genannt hat … . Er hat der Passion des Denkens
Monumente gesetzt, ich habe versucht, künftiger Praxis Wege ins
Wirkliche zu bahnen, und werde in den Wegen aufgegangen sein,
von denen ich erwarte, dass sie als begehbar erfahren oder
vergessen werden“ (S. 18).
„Doch wo er verkündet, erkunde ich. Er möchte überwältigen, ich
überzeugen, aber nicht durch Rhetorik, sondern indem ich
Argumente und Belege anbiete, aufgrund derer sich meine
Adressaten selbst überzeugen können. Daher wirke ich
vorbereitend, er im Ton der Endgültigkeit, wirke langsam, wo er
schnell und durchdringend wirkt“ (S. 17).
Althusser wird für Haug zum Thema in Bezug auf das Verhältnis
zwischen Marxismus und Philosophie. Über Althussers Position
erfährt man von Haug wenig. Warum die bei vielen Denkern
anzutreffende Tatsache, ihre Position verworfen und neue
Positionen entwickelt zu haben, gegen Althusser sprechen soll,
bleibt Haugs Geheimnis. Haug hätte sich dann eben mit mehreren
Positionen und den Gründen für die inhaltlichen Veränderungen
auseinanderzusetzen. Die explizite Veränderung von Inhalten und
deren deutliche Unterscheidung von früheren eigenen Positionen
durch den Autor selbst ist das gerade Gegenteil zur
stalinistischen Kodifizierung des „Leninismus“, in dessen Nähe
Haug Althusser zu stellen versucht. Haug bleibt auch die
Argumente dafür schuldig, Althussers Vorgehen, Thesen zu
formulieren, um sie zur Diskussion zu stellen, mit apodiktischer
und autoritativer Verkündung zu identifizieren.
Haugs Vortrag enthält in Bezug auf Althusser zwei Botschaften,
die in ihrer Massivität alle sonstigen im Text enthaltenen
Feinsinnigkeiten an den Rand drängen(1):
Erstens: Die Akte Althusser kann nach der Hinzufügung von Haugs
Gutachten endlich geschlossen werden. Althusser-Rezeption und
Althusser-Diskussion bekommen einen KW-Vermerk: Kann wegfallen.
Zweitens: Definitive Klarstellung zur Geistesgeschichte:
Althusser kann nicht als Vorstufe zu Haug gelten.
W.F. Haug hat in seinen Arbeiten oft gute Argumentationen
vorgelegt. Man konnte von ihm immer mal wieder lernen. Mit
seiner Althusser-Eskapade aber tut Haug sich keinen Gefallen.
Sein freigiebiges Hantieren mit Negativklischees, Raunen
(„Nietzsche … !!!“) und Ressentiments („Praxis“ vs. „Theorie“)
in seinem o. g. Artikel trägt zu einer Verwahrlosung der
Diskussion und zur Senkung von Rationalitätsstandards bei.
WAS LERNEN WIR DARAUS ?
Haugs Althusser-Eskapade ist in dreifacher Hinsicht
aufschlussreich. Sie reiht sich erstens ein in das Verhalten in
der Konkurrenz. Anbieter übertreiben gern die positive Differenz
ihres Angebots zu anderen Offerten. Auch Geistesarbeiter sehen
sich dann bemüßigt, „jeden Gedanken nicht zu prägen, was sehr
nützlich wäre, sondern ihn überscharf zu profilieren ... , (so)
dass der Gedanke von all seinen unendlich vielen Brüdern von
vornherein sich mehr abhebt, als es von Haus aus in seinem Wesen
steckt“ (Bry 1924).
W.F. Haug setzt zweitens faktisch in seinen Anwürfen gegen
Althusser die in der Linken grassierende unselige Tradition der
vernichtenden Kritik oder unbestimmt-pauschalen Negation fort.
Alliiert ist diese Mentalität mit den Praxen des Zerfledderns
und des Verrrisses.(2)
W.F. Haug begegnet drittens der Angst vor der Vergeblichkeit und
Folgenlosigkeit des eigenen Tuns in besonders ausgeprägtem Maße
mit Selbstaufwertung und Selbstanpreisung. Er traut der Mit- und
Nachwelt anscheinend nicht zu, seinen Beitrag gut aufnehmen und
fortsetzen zu können.(3)
Bei W.F. Haugs Vortrag handelt es sich um einen ideomagischen
Versuch der Überredung. Er möchte nicht nur die Hauptrede bei
seiner Beerdigung selbst vor-schreiben, sondern auch den Eintrag
in die Geistesgeschichte der Menschheit. Alles muss man selbst
machen! Aus seinem Umfeld vermochte offenbar niemand mit der
Botschaft zu W.F.Haug durchzudringen, WFH sei auch dann gut,
wenn er n i c h t „besser“ als Althusser wäre. Bemerkenswert ist
die Selbstverständlichkeit bzw. Unbewusstheit, mit der sich W.F.
Haug in den Denk- und Subjektivitätsformen des Vergleichs und
der Überbietung bewegt.
Dabei handelt es sich nicht in erster Linie um ein Phänomen von
psychologischem Interesse (Eitelkeit als Produktiv- und
Destruktivkraft). Die Totalisierung oder das Überziehen der
jeweiligen Erkenntnisse geht damit einher, dass ihr
anerkennenswerter Impuls „ebenso schnell vergessen wird und die
Frucht verloren geht, die er tragen würde, wenn er in seine
Grenze eingeschränkt worden wäre. Dadurch würde er in seinem
Maße anerkannt und soviel geschätzt und gebraucht, als ihm
gehört, dahingegen er auf die andere Weise mit seiner
ungebührlichen Aufblähung zugleich ganz zusammenschrumpft“
(Hegel).
ANMERKUNGEN
1) Wer seiner Vorliebe für schwere
Zeichen („Nietzsche!“, „Herostrat“, „Psychose“) frönt, wird sie
nicht wieder los.
2) Rezensionen missraten zum Schauplatz
eines „finsteren, jämmerlichen, schamlosen, beschämenden
Geschiebes, Gedränges und Gerempels von Machthaberei,
Schlagworten in jedem Sinn, Begrifferücken, Spiegelfechterei,
Spitzfindelei. ... Fast täglich nimmt es sich in der Zeitung,
welche sich so viel darauf einbildet, der Literatur einen
besonderen Raum zu geben, ein junger oder alter Wicht ...
heraus, mit ein paar vollkommen vordergründigen, Satz für Satz
durchschau- und vorhersehbaren Standardkniffen ein Buch, wie es
auch sei, in ein Nicht-Buch zu zerkrümeln, vergleichbar mit
einem Kerl, der, ohne zu wissen, was er tut, ein Stück Brot
zerkrümelt, bis er nicht mehr Brot ist, und dafür auch noch
bezahlt und dafür vielleicht auch noch in seiner Abendkneipe
belobigt wird: ‚Den hast du aber prachtvoll fertiggemacht!’ ...
Kritiker zu sein könnte ein guter, lehrreicher, Vergnügen
bescherender Beruf sein; eine genaue, erzählende,
aufschlüsselnde und wiederum verschlüsselnde Besprechung eines
Buches, ob mit Liebe oder mit Zorn verfasst, zu lesen, hat mir
schon oft Freude gemacht, oft das Hirn zum Glühen gebracht, ja
mich sogar gerührt und begeistert. Aber es gibt schon lange kaum
Kritiker mehr – nur noch gutbezahlte Angestellte, die sich
aufspielen, und immer für sich selber, und immer gegen jemand
anderen; und die hellen Streitspiele sind zum bloßen
Gegeneinander-Ausspielen verkümmert. … In fast jedem Fall wird
da weder ein Buch sichtbar, noch wird eine Besprechung zur
Lehre, sondern, Satz um Satz, das Ausspielen, dieses gegen
jenen, jenes gegen diesen“ (Peter Handke).
3) Auch hier zeigt sich – wie in der
Konkurrenz – eine allgemeine Problematik der bürgerlichen
Gesellschaft. Erich Wulff hat zu Recht geltend gemacht, e i n e
Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft fokussiere gerade den
Mangel für die Individuen, erfahren zu können, dass sie „?das
Ihre? und damit genug … getan haben“ (1994). Dass dies nicht
bzw. selbst ‚nicht genug? erfahrbar sei, liege an der
spezifischen Verfasstheit des gesellschaftlichen
‚Lebensgewinnungsprozess?. In ihm ist es – eben aus den
vielfältigen Indifferenzen und Gegensätze – nur sehr bedingt und
unsicher möglich, sich über den eigenen begrenzten Anteil an der
Daseinsvorsorge und -gestaltung zu beruhigen. Diese Ruhe und
Gelassenheit kommt in dem Maße zustande (oder eben nicht), wie
es möglich erscheint, anderen dahingehend zu vertrauen, sie
würden dem gemeinsamen Werk zuarbeiten und es fortsetzen in
einem gemeinsamen Sinn. Dieses Vertrauen wird umso mehr
gefordert, desto unbekannter die anderen sind, denen ich etwas
überlasse, ohne genau zu wissen, was sie wann damit machen. „Zur
Eröffnung der eigenen Passivität – die die subjektbildenden
Voraussetzungen für jedes bewusste aktive Handeln überhaupt erst
schafft – gehört aber auch, trotz dieser Gefahren, dem anderen
gegenüber offen zu sein, auf sein Dasein zu vertrauen, und zwar
nicht nur dem Dasein einzelner anderer Individuen, sondern dem
weiter nicht mehr identifizierbaren, verfolgbaren Produkt ihrer
aller Arbeit, das im gesellschaftlichen Erbe, das wir
übernehmen und an dem wir Anteil haben, in Form von
notwendigerweise immer auch randunscharfen Bedeutungen
niedergelegt ist“ (Ebd.).
Editorische
Hinweise
Wir erhielten
den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.
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