Saudi-Arabien
Die Oberen der kapitalistischen Welt heucheln Anteilnahme für das Ableben des Königs. Unterdessen beginnt es im Gebälk des Petrodollar- & Inquisitions-Staats zu krachen

von Bernard Schmid

02-2015

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Pecunia non olet (Geld stinkt nicht), wussten die alten Römer, der Ausspruch wird dem Erfinder der städtischen Kanalisation zugeschrieben. Auch Petrodollars stinken nicht, fügen die Vertreter moderner Mächte hinzu, auch wenn Rohöl keinen Rosengeruch besitzt, wenn es aus der Erde quillt.

Da regiert in Saudi-Arabien seit 1744 ein auf die wahhabitische Sekte gestütztes Kopfabtrenner-, Peitschenschwinger- und Inquisitionsregime, das jedoch zugleich weltgrößter Rohölproduzent ist. Und nun starb sein bisheriger König 'Abdallah im Alter von neunzig Jahren, seine Nachfolge trat mit nur 79 Jahren der Jungspund Salman – einer seiner Brüder – an. Es ist beinahe lustig anzusehen, zu welchen Verrenkungen das Ableben des alten Monarchen und die Thronfolge in Ar-Ryad einige der Mächtigen dieser kapitalistischen Welt bewegte.

Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos kündigte etwa der französische Präsident François Hollande öffentlich an, er werde sich zum Staatsbegräbnis nach Ar-Ryad begeben. // Vgl. http://assawra.blogspot.fr// Und schon ins Fettnäpfchen getappt: Als er dies verkündete, war die Beerdigung bereits vorbei, denn nach wahhabitischer Saudi-Sitten erfolgt diese nur wenige Stunden nach dem Ableben einer Person.

Eine Landsmännin Hollandes, die amtierende IWF-Direktorin Christine Lagarde, sah sich ihrerseits zu einer unfreiwillig amüsanten Äußerung beflügelt und behauptete, der Verstorbene 'Abdallah sein „ein großer Verteidiger der Rechte“ der Frauen gewesen. // Vgl. http://actu.orange.fr/ // Frauenrechte? Saudi-Arabien? Da war doch was? Ach ja, das Königreich zwischen Rotem Meer und Arabisch-Persischem Golf, das ist der Staat, wo Frauen verzweifelt um ihr Recht kämpfen, am Steuer eines Autos sitzen zu dürfen, was ihnen bis heute in Saudi-Arabien – als einzigem Land der Erde – strikt verboten ist, weil es „unzüchtige“ Auswirkungen haben könnte. // Vgl. http://www.24heures.ch/  // Aber vielleicht meinte die IWF-Chefin ja, dass es ein irrsinnig bedeutender Fortschritt sei, dass der den König beratende „Konsultativrat“ inzwischen auch weibliche Mitglieder hat. In dem nach Feudalprinzipien aufgebauten Saudi-Staat ersetzt dieser Rat ein Parlament, hat jedoch nur beratende Funktionen – die Entscheidungen bleiben letztlich dem König vorbehalten -, ist also faktisch einflusslos. Gut gut, die alten Römer sagten ebenfalls: De mortuis nihil nise bene („Über die Toten nur Gutes“), aber übertreiben mit der Lügerei braucht man es ja vielleicht auch nicht.

Als Letzte trafen nun diese Woche US-Präsident Barack Obama – der die Beerdigung verpasst hatte – und sein Gefolge in Ar-Ryad ein. Wenigstens nutzte Ehefrau Michelle Obama die Gelegenheit zu einer kleinen Manifestation, indem sie an der Seite der Prinzen und „Glaubenshüter“ ohne Kopfbedeckung auftrat // vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com // , was in Saudi-Arabien ein geradezu revolutionärer Akt ist. Dessen Tagen ist in dem Land keinesfalls ein Ausdruck persönlicher Wertvorstellungen, sondern eine vom Staat unter Androhung drakonischer Züchtigungsstrafen aufgezwungene Pflicht.(Im Januar 2002 verbrannten in Mekka fünfzehn Mädchen bei lebendigem Leib: Ihre Schule hatte früh am Morgen Feuer gefangen, doch weil die Mädchen um diese quasi-nächtliche Uhrzeit noch nicht „züchtig islamisch gekleidet“ und ihre Haare nicht bedeckt waren, griff die Terrormiliz der Muttawa'in ein. Also die „Religionspolizei“, respektive das „Komitee für die Förderung des Erlaubten und die Unterdrückung des Verbotenen“. Und ihre Mitglieder stießen die Mädchen in das brennende Gebäude zurück, um zu verhindern, dass sie durch die Männer vom „Zivilschutz“ gesehen werden könnten; daraufhin kam es ihren Reihen zu 15 Toten und 50 Verletzten – leider nicht in denen der „Religionspolizei“, sondern in denen der Mädchen. Vgl, dazu bspw. http://fr.wikipedia.org/wiki  Inzwischen ist angeblich eine solche Praxis im Prinzip verboten, weil es nunmehr in vergleichbaren Ausnahmesituationen – in absoluten Notfällen – Frauen und Mädchen erlaubt wird, zur Abwehr einer akuten Lebensgefahr von den Regeln des staatlich verordneten Tugendterrors abzusehen.)

Staatstrauer vom Golf bis nach Algerien

Der geopolitische Einfluss Saudi-Arabiens deutete sich an, als bekannt wurde, dass nicht nur im eigenen Land Staatstrauer für den toten Hund, pardon: wegen des Ablebens von 'Abdallah angeordnet worden war – sondern auch in Jordanien, Ägypten und Algerien. Und aus Tunesien reiste der frisch gewählte Präsident Béji Caïd Essebsi („BCE“), der im eigenen Land Ende 2014 als Anti-Islamist und „Verteidiger der Modernität“ gegen die vormalige islamistische Regierungspartei En-Nahdha gewählt worden war, zur Beerdigung des Anführers der fundamentalistischen Monarchie. Was in Tunesien zu Unmutsbekundungen führte. // Vgl. http://www.businessnews.com.tn/  //

Saudi-Arabiens Politik ist in derRegion regelmäßig ein Zankapfel, und besonders in jüngster Zeit umstritten. Es ist inzwischen Gegenstand vieler Darstellungen und Debatten // vgl. http://blogs.reuters.com/  und http://jungle-world.com oder http://www.heise.de // : Seit Ende 2014 ist es erklärte Politik des Königreichs, den Ölpreis auf ein Niveau absinken zu lassen, das geopolitischen Rivalen des Golfstaats und/ oder Konkurrenten der USA – Russland, Venezuela, dem Iran -, aber auch anderen Ölförderstaaten Schaden zufügt. Das dahinter stehende Kalkül, das auch ganz offen ausgesprochen wird, lautet: Wir verlieren zwar wie andere Ölförderstaat durch einen Preis, der bis auf 20 Dollar pro Fass absinken könnte, vgl. http://www.tagesanzeiger.ch– gewinnen aber dadurch Marktanteile, indem wir Konkurrenten abtöten oder an die Wand drücken, deren Ölförderung wirtschaftlich unrentabel wird. // Vgl. http://www.courrierinternational.com/  // Zugleich wird geopolitischen Kontrahenten Schaden zugefügt. Ein wahrer Kalter Krieg ist entbrannt, in welchem die Golfmonarchie und ein Teil des US-Establishments (minus jene Sektoren, die in Ölschieferförderung und ähnliche relativ kostspielige Unternehmungen investiert) haben auf der einen Seite, Staaten wie Venezuela, Algerien und der Iran auf der anderen Seite stehen.

Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, wie riskant dieses Vorgehen auch für das Saudi-System selbst ist. So sollen dem Königreich für das Jahr 2015, je nach Angaben, dreißig respektive vierzig Milliarden Dollar zur Haushaltsdeckung fehlen; das Königreich selbst hat für das Budget 2015 einen Deckungslücke von 38,6 Milliarden Dollar vorausberechnet. Im abgelaufenen Jahr 2014 betrug sie vierzehn Milliarden Dollar. http://www.lemonde.fr

Vierzig Milliarden Haushaltslücke, das entspräche gut fünf Prozent des saudischen Bruttoinlandsprodukts. Doch der Internationale Währungsfonds (IWF) seinerseits prognostiziert eher eine Lücke von 10,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. // Vgl. http://prixdubaril.com// Deswegen sieht etwa die Wirtschaftsberaterin Margarat Bogenrief das Risiko – oder müsste man nicht sagen: die Chance? – für soziale Unruhe im Wahhabiten-Staat. // Vgl. http://oumma.com //

Den Golfmonarchien insgesamt sollen im laufenden Jahr rund 300 Milliarden Dollar an Einnahmen fehlen, wenn der Rohölpreis bei durchschnittlich fünfzig Dollar pro Barrel verbleibt. // Vgl. http://www.lefigaro.fr // Hauptleidtragender wäre dabei Saudi-Arabien selbst. Allerdings lässt das Königreich sich nicht von seinem Kurs abbringen. Einstweilen kann die Monarchie sich dies auch leisten, denn ihre Devisenrücklagen werden auf rund 750 Milliarden Dollar geschätzt. Aus ihnen kann das Herrscherhaus vorläufig schöpfen, um die Einnahmenverluste zu kompensieren und die Staatsausgaben konstant zu halten, ja sogar leicht zu erhöhen – für das Jahr 2015 ist ihre Anhebung von 855 Milliarden auf 860 Milliarden Rial (man erhält rund 3,5 Rial für einen Dollar) geplant.

Als Reaktion auf die Umbrüche in mehreren arabischen Ländern – Tunesien, Libyen, Ägypten – im Jahr 2011 hatte das Herrscherhaus damals tief in die Kasse der Devisenreserven gegriffen und 130 Milliarden Dollar etwa für Infrastrukturprojekte, Krankenhäuser, Schulen und Lohnerhöhungen für die Staatsbediensteten ausgegeben. Dadurch sollte die „Gefahr“ einer Ausbreitung des revolutionären Bazillus eingedämmt werden.

Wie oft und wie lange noch das Königreich der grausamen alten Männer sich den sozialen Frieden buchstäblich kaufen wird können, muss einstweilen dahingestellt bleiben. Gerade auch dann, wenn die durch den (relativen) Ölpreis ausgelösten makroökonomischen Prozesse den Machern der saudi-arabischen Erdöl- und Wirtschaftspolitik aus dem Ruder laufen sollten.

Atheistische „Bedrohung“

Eine „Bedrohung“ anderer Zeit, die jedoch mit der sozialen (und demographischen) Zeitbombe mindestens mittelbar zusammenhängt, ist auf ideologischem Gebiet angesiedelt. Je höher der Druck der wahhabitischen Hüter der Intoleranz und der Inquisition auf die geplagte Bevölkerung wird, um ihr einzubläuen, nur ja kein Jota von der offiziellen Ideologie abzuweichen, desto stärker wird die Dissidenz in den Köpfen. Die mit aller Gewalt aufgedrückten Werte werden, vor allem in der jüngeren Generation, immer stärker in Frage gestellt und finden immer geringere Akzeptanz.

Anfang Oktober 2014 warnte die saudi-arabische Webseite Sabq.org davor, dass „unsere Jugend sich zunehmend vom Islam abwendet“. // Vgl. http://www.courrierinternational.com // Zuvor hatte im Spätsommer vergangenen Jahres die staatsoffizielle Kommission „für die Förderung des Erlaubten (halal) und die Unterdrückung des Verbotenen (haram)“ den Innenminister mit Nachdruck dazu aufgefordert, gegen den wachsenden Ausdruck atheistischen Gedankenguts im Internet und in den social media vorzugehen. Im Ebenfalls Anfang Oktober 2014 konstatierte parallel dazu ein Artikel auf der libanesischen Webseite Raseef22.com „eine Welle des Atheismus“ in der arabischsprachigen Welt. // Vgl. http://www.courrierinternational.com/// Konfrontiert mit den Dogmen der Terrorsekte „Islamischer Staat“ und ähnlichen Erscheinungen, wendeten Teile der jungen Generation sich von den proklamierten Idealen der Religion schlechthin ab und stellten nunmehr alles in Frage.

Im Jahr 2012 konnte das Meinungsforschungsinstitut Win/Gallup eine Studie durchführen, bei welcher sie 502 saudi-arabischen Bürger, pardon: Untertanen befragte. Und kam zu dem Ergebnis, fünf von ihnen seien offene Atheisten und weitere 19 Prozent auf manifeste Weise „nicht religiös“. Zusammengefasst lautete der Befund: „Fast ein Viertel der rund 29 Millionen Saudis ist latent oder akut religionsmüde.“ Vgl. // http://www.nzz.ch/

Für einen Staat, der ganz offiziell Aufgaben der Inquisition für die wahhabitische Sekte – die wohl intoleranteste aller Glaubensrichtungen im Spektrum des Islam – übernimmt, ist dies ein alarmierender Befund. Wohl auch deswegen sollte unbedingt ein drastisches Exempel statuiert werden, in Gestalt der Verurteilung des Bloggers Raif Badawi zu 1.000 Peitschen- oder Stockhieben, nachdem dieser seine Auffassungen im Internet kundgetan und Meinungsfreiheit eben auch für Atheisten gefordert hatte. // Vgl. http://www.heise.de/ Die Zweifel in einem wachsenden Teil der Gesellschaft wird dies nicht aufhalten können, vielleicht sogar eher im Gegenteil.

Sicherlich werden auch in Saudi-Arabien nicht alle Menschen zu Atheisten werden. Auch in Europa verschwanden die politische Macht der katholischen Kirche – jedenfalls zu einem Gutteil – und Einrichtungen wie die Inquisition, ohne dass unbedingt alle Menschen areligiös geworden wären. Aber erst wenn auch atheistische Menschen sich frei ausdrücken können, wird Religion als eventueller intimer Glaubensausdruck, und nicht als Ausdruck erzwungenen sozialen Konformismus, überhaupt möglich. Landen Institutionen wie die des saudischen Feudal- und Sektenstaats auf dem Müllhaufen der Geschichte (und wird die Terrormiliz alias „Religionspolizei“ endlich zerschlagen oder im Blut ihrer wichtigsten Träger ertränkt), so ist ein wichtiger Schritt dazu unternommen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.