Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Ein Monat nach den Terroranschlägen
Zwischen Pädagogik und Repression – Sympathisantenhatz & Sicherheits-Hysterie

02-2015

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Vor düsterem Hintergrund sieht man eine Kolonne von Kämpfern heraufziehen. Dazu sagt eine Stimme aus dem Off: „Sie sagen zu Euch: ,Opfert Euch an unserer Seite für eine gerechte Sache’. Aber Du wirst die Hölle auf Erden entdecken und allein sterben, fern von Deiner Heimat.’“ Dies ist ein Auszug aus einem Video zur Bekämpfung jihadistischer Neigungen, das derzeit vom französischen Innenministerium verbreitet wird. Es bezieht sich vor allem auf Aspiranten für den vorgeblichen Glaubenskrieg in Syrien und im Irak. Man sieht Bilder von Kombattanten, die Leichen in eine Grube werfen oder hinter einem LKW herziehen.

Den einen oder anderen Jugendlichen, der sich bislang eher vom vermeintlichen Abenteuer angelockt fühlte, wird es vielleicht doch zum Nachdenken bringen. Aber alles in allem leidet es an derselben Bemühtheit wie andere vergleichbare staatliche Versuche, junge Menschen vom falschen Weg abzubringen, wie etwa Comics vom nordhein-westfälischen Verfassungsschutz und andere Erfahrungen der Vergangenheit. Oberschülerinnen und Oberschüler, die am Montag, den 02. Februar 15 in Le Monde zu Wort kommen, monieren etwa, den harten Kern der vom Jihad Verlockten werde man wohl kaum erreichen. Denn diese müssten ja erst einmal akzeptieren, ein von der Regierung gemachtes Video anzusehen.

Es mangelt nach den Morden dreier in Frankreich sozialisierter Jihadisten vom 07. und 09. Januar d.J. nicht an Versuchen, der Nachwuchsrekrutierung für oft sektenartige salafistische Gruppen entgegen zu wirken. Einige sind pädagogischer, andere repressiver Natur, wieder andere – wie der Vorschlag von rechts zur Wiedereinführung anachronistischer Schuluniformen – gehen gründlich am Thema vorbei. Einige erscheinen kreativ, andere hingegen eher einfallslose. Wie dies auch allgemein auf die politischen Reaktionen auf die Attentate vom Januar zutrifft. In Umfragen zeigen sich drei Viertel der Französinnen und Franzosen unter Bedingungen zur Einschränkung von Grundrechten bereit.

Zu den einfallslosesten, und übelsten, Reaktionen zählt sicherlich die des iranischen Regimes. Auf die Veröffentlichung der bisher letzten Nummer von Charlie Hebdo, der „Ausgabe der Überlebenden“ vom 14. Januar 15 – zum nächsten Mal wird die attackierte Wochenzeitung erst wieder am 25. Februar 15 erscheinen – reagierte die iranischen Diktatur mit der Ausschreibung eines Karikaturenwettbewerbs zum Holocaust. Holocaust- versus Mohammed-Karikaturen: Das Ganze ist auch nur eine Wiederholung dessen, was in Teheran bereits 2006 nach den ersten Mohammed-Karikaturen in der dänischen, französischen und sonstigen internationalen Presse veranstaltet wurde. Dieses Mal richtet die Propagandaverstaltung sich gegen die Zeichnung auf der jüngsten Ausgabe von Charlie Hebdo mit einem weinenden Propheten, der bekundet: „Ich bin Charlie.“

Das französische Bildungsministerium legte am 22. Januar 15 einen Plan auf, welcher die Rolle des staatlichen Erziehungswesen in der Verbreitung laizistischer, säkularistischer Werte stärken soll. So sollen 1.000 Laizismus-Referenten, also speziell ausgebildete Konferenziers, durch die Lande und die Schulen geschickt werden. Bei der Bewertung der Fachkomptenz von Lehrkräften soll künftig ihre Verbundenheit mit „den Werten der Republik“ gestestet und benotet werden. Und alljährlich am 09. Dezember, dem Jahrestag der Verabschiedung des Gesetzes von 1905 zur Trennung von Kirche(n) und Staat, soll ein Gedenktag an den Lehranstalten absolviert werden.

Dies ist sicherlich alles gut gemeint, droht aber bei manchen wohl eher den Eindruck zu erwecken, der Laizismus sei weniger ein Grundwert – der das Zusammenleben in der Gesellschaft jenseits konfessionneller und „kultureller“ Unterschiede garantiert – sondern eine von oben staatlich verordnete Ideologie. Eine solche Rolle spielte der Laizismus tatsächlich auch zumindest unter der Dritten Republik zwischen 1870 und 1940, unter der er erstmals eingeführte wurde. Damals wurde er auch stark mit Patriotismus und einer paramilitärischen geistigen Vorbereitung darauf, „der Repulik zu dienen“, verknüpft. Und der damalige Bildungsminister Luc Ferry machte den staatlichen Laizismus ferner zum Vehikel für die französische Kolonialpolitik, mittels des Auftrags, „den niederen Rassen die Zivilisation zu bringen“.

Wesentlich repressiver fallen andere Vorschläge aus. Am 12. Januar 15 hatte die Leiterin der Politikredaktion des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders France 2, Nathalie Saint-Cricq, die Parole aus, man müsse „diejenigen aufspüren, die nicht ,Charlie’ sind“. Damit rief sie durchaus zu einer Form der vermeintlichen Sympathisantenhatz auf.

Inzwischen diskutiert die öffentliche Meinung auch viel über die Exzesse rund um signalisierte „Vorfälle“ vom 08. Januar d.J., also am Tag nach den Morden bei Charlie Hebdo. So spricht das Erziehungsministerium von landesweit rund 200 „Vorfällen“ rund um die Schweigeminuten für die Opfer bei Charlie Hebdo, die am 8. Januar unter anderem in allen Schulen und Behörden eingehalten wurde. Darunter befinden sich aber extrem unterschiedlich zu bewertende Phänomene. Das reicht von üblen Sprüchen, die minderjährige Schüler bei Familienmitgliedern, Gleichaltrigen oder im Internet aufgeschnappt haben mögen, bis zu bloßen Fragen oder einer Infragestellung der anordnenden Autorität. Loïc, Lehrer in Marseille und Mitglied des Bildungsgewerkschaftsverbands FSU, erklärte etwa gegenüber dem Verf. dieser Zeilen: „Bei mir fragten etwa Schüler: Warum machen wir jetzt für diese Opfer eine Schweigeminute – und keine für 2.000 Menschen in Nigeria, die am selben Tag in Nigeria durch Boko Haram abgeschlachtet wurden?“ Eine Haltung, die jedenfalls nicht auf jihadistische Sympathien schließen lässt. Negativer zu bewerten ist es da sicherlich, wenn die Absetzhaltung von Lehrkräften kommt und mit eindeutigen, propagandistischen Aussagen verknüpft wird. In Bobigny wurde eine Lehrerin, Ende zwanzig, vom Dienst suspendiert, weil sie ihre Berufsschulklasse agitiert hatte. Sie mokierte sich darüber, sie habe „die Leichen der Journalisten nicht gesehen“, und sprach von einem „angeblich toten Bullen“, um eine Verschwörung zu suggieren. Umgekehrt provozierte ein Lehrer in Mulhouse, der Charlie Hebdo zu unterstützen vorgibt, seine heranwachenden Schüler mit Sprüchen. Er zwang die zum Teil widerwilligen Teenager, sexuell deutliche Karikaturen zu betrachten, rief aus: „Ich bin hier der Chef!“ und „Holt ruhig Eure Kalaschnikow raus!“

Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem packte jedoch all diese sehr unterschiedlich zu bewertenden „Vorfälle“ in einen Topf und tabuisierte noch dazu eventuelle Fragen und Unsicherheiten, indem sie es pauschal als „unerträglich“ bezeichnete, dass Schüler in diesem Zusammenhang Fragen aufwarfen. In Nizza wurde ein achtjähriger Schüler, der die Teilnahme an der Schweigeminute verweigert hatte, auf der Polizeiwache verhört, und dem zuckerkranken Kind wurde seine Insulinspritze verweigert. Seit ihrem öffentlichen Bekanntwerden, Ende Januar dieses Jahres, rief diese Affäre einen Skandal hervor.

Mindestens vierzig Strafverfahren wegen „Terrorismus-Apologie“ – ein Strafbestand, welcher just zwei Monate vor den Attentaten im November 14 frisch eingeführt worden war – sind eingeleitet, es drohen Haftstrafen z.T. ohne Bewährung. Es trifft in der Regel alkoholisierte Personen, psychisch gestörte Individuen und auffällige Jugendliche. Die wahren Kader pro-„terroristischer“ politisch-ideologischer Bewegungen wird es mit Sicherheit nicht treffen, denn wer in dieser Richtung etwas vor hat, wird nicht dumm genug sein, es hinaus zu posaunen. Der derzeit aus anderen Gründen (versuchte Gefangenenbefreiung) in Haft sitzende Jihadisten-Kader Jamel Beghal spielte möglicherweise eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung der Terroranschläge vom Januar 2015, er war 2010 mit allen wesentlichen Protagnosten (Chérif Kouachi, Amedy Coulibaly, Hayat Boumedienne...) zusammengetroffen. Ihm dürfte jedoch in dieser Hinsicht, wie sich andeutet, überhaupt nichts nachzuweisen sein, er ging zweifellos geschickt genug vor. Und der frühere „Guru“ der Kouachi-Brüder (der beiden Mörder in der ,Charlie’-Redaktion), Farid Benyettou, gibt sich heute als Aussteiger und trifft Zeitungsredaktionen mit einem „Ich bin Charlie“-Button am Revers...

Apartheid in Frankreich

Noch ein anderes Herangehen schlug Premierminister Manuel Valls ein, als er am 20. Januar 15 kritisch anmerkte, manche Spaltungslinien der französischen Gesellschaft erklärten sich auch so: „Ja, es gibt eine Form der sozialen, ethnischen, territorialen Apartheid in diesem Land.“ Eine Anspielung, die in Anbetracht der massiven räumlichen Segregation zwischen sozialen Gruppen – die oft, aber nicht immer auch an eine ethnisierte Zusammensetzung der Einwohnerschaft gekoppelt ist – nachvollziehbar ist. Dafür wurde er vom konservativen Oppositionsführer Nicolas Sarkozy heftig und massiv angegriffen, doch in Umfragen gaben 54 Prozent Valls gegen Sarkozy Recht. Nur, Konsequenzen dürften dies voraussichtlich keine haben. Ähnliche Erkenntnisse trug auch der damalige Präsident Jaques Chirac im Winter 2005/06 nach den damaligen Unruhen in den Trabantenstädten vor. Es blieb beim verbalen Schockbekenntnis.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.