Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Calais: Demonstration zur Solidarität mit den Migranten & Nazigewalt

02/2016

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Ausgelassene Stimmung, Trommelwirbel und dazwischen improvisierte Musik aus selbstgebastelten Tröten: Trübsal war nicht angesagt, als an diesem Samstag Nachmittag (23. Januar 16) mehrere Tausend Menschen in der nordfranzösischen Küstenstadt Calais zur Unterstützung der Migranten und Flüchtlinge demonstrierten. Sechs Reisebusse waren dazu am frühen Morgen allein aus der Hauptstadt Paris aufgebrochen, weitere Busse und Mitfahrgelegenheiten wurden aus der Regionalhauptstadt Lille organisiert. Delegationen kamen auch aus Hamburg und aus Großbritannien. Von dort ließ sich sogar der zum linken Parteiflügel zählende Chef der Labour Party, Jeremy Corbin, vor Ort blicken(1). Ansonsten gehörten die französischen Demonstrantinnen und Demonstranten überwiegend libertären Gruppen, der „Neuen Antikapitalistischen Partei“ (NPA) oder sozialen Aktionsgruppen wie Droits devant! an. Aus migrantischen Kreisen hatten die Koordinationen der illegalisierten Einwanderer („Sans papiers“) mehrere Dutzend westafrikanische Eingewanderte aus dem Raum Paris sowie aus Lille mobilisiert. Auch nahmen zahlreiche afghanische Zuwanderer, aus dem Raum Paris wie auch von vor Ort – aus dem Migrantencamp in Calais – an der Demonstration teil.

Nicht alle allerdings nahmen den Marsch von rund 3.000 Menschen (Polizei: 2.000, manche Veranstalter sprachen von 5.000) freundlich auf. Der fünf Kilometer langen Weg vom „Jungle“ genannten Flüchtlingscamp außerhalb der Stadt bis zum Zentrum führte auch durch ein Viertel in Hafennähe, in dem es mehrere rechtsextreme Provokationen gab. In einem Hauseingang provozierten zwei Männer um die fünfzig – einer davon war über weite Teile des Oberkörpers bis auf den Handrücken tätowiert - die Vorbeiziehenden und versuchten Zwischenfälle hervorzurufen: „Hast Du Dich gesehen, Du Affe?“ „Kanacke, zieh Leine!“ Einige Dutzend Meter weiter sammelten sich mehrere junge Männer vor einem Haus. Ein untersetzter Mann mit Kurzhaarschnitt schwang einen Schlagstock. Ein anderer neben ihm, Anfang zwanzig, holte ein Gewehr aus dem Haus und zeigte es kurzzeitig vor(2). Baseballschläger.

Die sichtlich nervöse Polizei ging mit schwarze Kapuzen und Gewehre tragenden Beamten dazwischen und suchte nach der Waffe. Kurz darauf präsentierte deren Egentümer, ein stämmiger junger Mann mit Bürstenhaarschnitt und in kurzen Hosen, auch ein Gewehr – doch es war nicht das richtige, das er hatte blicken lassen, und es war auch keine echte Waffe. Daraufhin wurde über die Presse bekannt, dass er nicht mit Strafverfolgungen zu rechnen habe. Allerdings flog der Schwindel auf, und es stellte sich heraus, dass er im Besitz eines scharfen (Jagd-)Gewehr ist, das nicht polizeilich angemeldet wurde. Daraufhin verlautbarte nun, es werde doch ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren geben(3). Der Betreffende ist polizeibekannt – als Minderjähriger wurde er wegen eines gewalttätigen Angriffs (mit Waffe) auf einen Migranten aus dem September 2010 in Polizeigewahrsam genommen -; und antifaschistischen Gruppen ist er seit längerem als rechtsextremer Aktivist bekannt, der etwa auch 2013 an einem stiefelfaschistischen Aufmarsch im 800 Kilometer entfernten Lyon teilnahm(4). Das Sch..., pardon, der junge Mann heißt Gael Rougement, genannt „Steinar“, und ist demnach 21 Jahre alt. In der örtlichen und überregionalen Presse wird er allerdings durchweg als „überforderter Anwohner“ (riverain excédé) dargestellt, und weitaus weniger als politischer Aktivist bezeichnet; immer mit der Vorstellung verknüpft, das wahre Problem in der Stadt sei des Migranten-Camp? Der frühere Staatspräsident und Vorsitzender der konservativen Rechtspartei LR (Les Républicains, ehemals UMP), Nicolas Sarkozy, kommentierte das Ganze – nachdem er ein Video über das Gerangel vor dem fraglichen Haus gesehen hatte - übrigens mit den Worten: „Ich werde nicht hinnehmen, dass Personen, die sich illegal in Frankreich aufhalten, auf seinem Boden die Gesetze verletzen.“(5)

Auch einige AnwohnerInnen aus der Bevölkerung ließen sich anstecken und zeigten sich feindselig. „Ich bin allein mit meinen Kindern, und wer kümmert sich um mich?“ rief eine Frau mit Verband um den Arm auf die Vorbeigehenden herab, und fügte hinzu: „Die sind Tausende da drüben! Und wir, wie viele sind wir hier?“ Eine ältere Dame polterte vor ihrem Haus herum: „Nehmt sie doch alle mit, und bringt sie nach England! Hauptsache, sie belästigen uns hier nicht mehr!“ Andernorts wiederum standen Menschen auf den Balkonen, applaudierten dem Zug und filmten mit ihren Handys. Auch die Polizei ihrerseits hatte an dem Tag sehr stark mobilisiert und stand etwa vor der Unterpräfektur (örtliche Vertretung des Zentralstaats, die die Befehlsgewalt über die Polizeikräfte innehat) massenhaft Spalier. In Sichtweite von dort lungerte ein sichtlich erfahrener Neonazikader in Bomberjacke bis zum Ende der Demonstration vor seinem Auto herum und musterte deren Teilnehmer/innen. Örtliche Demo-Beteiligten, denen es gelungen ist, sein Nummernschild zu photographieren, vermuten in ihm einen Beteiligten an den gewalttätigen Übergriffen auf Calais, die sich in Migranten häufen. In der Nacht vom 20. auf den 21. Januar 16 etwa wurden drei Syrer dort, mutmaßlich mittels Eisenstangen, angegriffen(6). Unterdessen häufen sich auch Zwischenfälle zwischen der Polizei und den Einwohnern des Migranten-Camps [wie zuletzt am Sonntag, den 31. Januar 16(7)]..

Brennpunkt

Calais bildet seinen Jahren einen Brennpunkt der europäischen Flüchtlingspolitik. Denn dort sammeln sich Migrantinnen und Migranten, die auf die britischen Inseln übersetzen möchten – sei es, dass dort Menschen aus ihrer Familie oder Community leben, sei es aus sprachlichen Gründen. Oder weil der neoliberal entregulierte britische Arbeitsmarkt auch „illegalisierten“ Menschen zumindest die Chance lässt, überhaupt Arbeit zu finden, wenngleich zu üblen Bedingungen. Auch wollen die sich am Ärmelkanal „stauenden“ MigrantInnen nicht in Frankreich bleiben, weil sich herumgesprochen hat, dass das französische Asylsystem unter denen der Kernländer in der EU zu den miesesten zählt und die Anerkennungsquote beim französischen Flüchtlingsamt OFPRA zu den niedrigsten; vor der Ankunft der syrischen Flüchtlinge im Sommer 2015 lag sie unter 25 Prozent, jetzt liegt sie bei 30 Prozent.

Doch die britische Regierung bezahlt seit nunmehr fünfzehn Jahren ihr französisches Pendant und stellt Polizisten nach Calais ab, um zu verhindern, dass unerwünschten MigrantInnen die Überfahrt gelingt. Ein humanitäres Auffanglager des Roten Kreuzes in Sangatte – einige Kilometer westlich von Calais -, das sanitäre Einrichtungen und hygienische Mindestbedingungen bot, wurde 2002 auf britischen Druck hin geschlossen. In der Folgezeit irrten Geflüchtete im Stadtgebiet von Calais herum oder in den nahen Wäldern, wo sich informelle Camps bildeten, die als „Jungles“ bezeichnet wurden. Seit nunmehr anderthalb Jahren hat sich aus vielen kleineren Einrichtungen ein größerer „Jungle“ gebildet, de facto ein Slum, der derzeit 5.000 bis 6.000 Menschen beherbergt. Viele kommen aus dem Irak, aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea, also aus Ländern, deren EinwohnerInnen selbst in den meisten EU-Ländern hohe Chancen auf Anerkennung als politische Flüchtlinge aufweisen. Die Existenz des relativ großen Barackenlagers wurde zum Anstoß für Teile der örtlichen Bevölkerung.

Unter britischem Druck tut die französische Staatsmacht jedoch alles, um sie von ihrem Wunsch abzuhalten, sich auf LKWs oder Schiffe im Hafen von Calais einzuschmuggeln oder durch den unterirdischen Tunnel für den Schnellzug Eurostar den Fußweg nach England zu versuchen, was manchmal gelingt. Im Oktober vorigen Jahres flog die französische Staatsmacht mehrere Hundert Flüchtlingen aus Calais aus und verteilte sie über Abschiebegefängnisse in ganz Frankreich, bis nach Metz, Nîmes und Toulouse: Hauptsache, sie waren aus Calais verschwunden. Die dann zuständigen Richter zeigten sich sehr verärgert und fragten die Regierung öffentlich, wie sie es sich denn vorstelle, Betroffene etwa nach Syrien abzuschieben – um die Leute umgehend wieder freizulassen. Für das Ausfliegen der Menschen in weit entfernte Landesteile hatte die französische Regierung eigens einen Jet bei einem privater Anbieter angemietet. Die Episode mit dem Charterflug sorgte daraufhin für im Internet weitverbreitete und anhaltende Gerüchte, Flüchtlinge würden in Frankreich dermaßen verhätschelt, dass ihnen sogar „ein Privatjet“ – den dazu gestellte Fotos abbildeten - zur Verfügung gestellt werde.

Im November 15 wurde die französische Staatsmacht von Verwaltungsgerichten wegen Verletzung der Menschenrechte der in Calais Hausierenden verurteilt. Daraufhin ließ sie Duschen und Toilettenwagen aufstellen. Vergangene Woche begann die Zerstörung eines Teils des Zelt- und Barackenlagers, an dessen Stelle die Staatsmacht auf einer Seite des „Jungle“ Container errichten ließ. Diese wirken keineswegs humaner und sollen vor allem Unterstützer/innen abhalten: Dank modernster Technik funktioniert die Türöffnung mittels Erkennung der Handfläche und lässt Unerwünschte draußen bleiben.

Am Samstag Nachmittag (23. Januar 15) gelang es 500, überwiegend afghanischen und meist sehr jungen Migranten sowie Unterstützer/inne/n, im Anschluss an die Demonstration eine Polizeikette zu durchbrechen. Vor allem die jungen Afghanen hatten sich auf dem Platz der Abschlusskundgebung rund um eine auf Paschtunisch gehaltene Rede versammelt und dabei wiederholt skandiert: „Jungle, No no, Jungle, No no – UK, UK!“ Einige von ihnen konnten daraufhin zusammen mit anderen Demonstrant/inn/en eine Fähre im Hafen von Calais besetzen; rund fünfzig Menschen gelangten an Bord, während rund 300 weitere im Hafenareal in einem Polizeikessel standen. Dies war eine Premiere. Im Anschluss wurde der gesamte Hafenbetrieb im Laufe des Abends eingestellt. Nach einigen Stunden war auch das Fährschiff polizeilich geräumt. Im Internet und in Leserkommentarforen französischer Zeitungen ließen sich daraufhin vielerorts Rassisten freien Lauf: Wo sei denn der Ausnahmezustand, der in Frankreich weiterhin gilt, lautete einer ihren empört klingenden rhetorischen Fragen? – Sechs Migranten und mehrere „No Borders“!-Aktivist/inn/en wurden dem Richter vorgeführt. Die sechs jungen Afghanen bleiben bis zu ihrem Prozess in Haft, die französischen Aktivisten wurden bis zum Prozesstermin auf freien Fuß gesetzt. Der Prozess sollte ursprünglich gleich am Montag, den 25. Januar d.J. stattfinden wurde jedoch auf den 22. Februar 16 verschoben(8).

Gegen drei italienische Studentinnen wurde in dem Zusammenhang zudem ein Verfahren zur Abschiebung aus Frankreich eingeleitet, inzwischen jedoch wieder eingestellt.

Etablierte Politik

Auch auf institutioneller politischer Ebene hatte die Sache ein Nachspiel. Der neue konservative Regionalpräsident Xavier Bertrand eilte am Montag, den 25. Januar 16 zu einer „Krisensitzung“ mit Leuten seiner Partei LR (ihr gehört auch die Calaiser Bürgermeisterin Nathalie Bouchart an) in die Stadt(9), und forderte – wie zuvor auch bereits die Letztgenannte seit Oktober 2015 – den Einsatz der Armee in Calais(10). Im Regionalparlament vollführte der Front National, der dort seit den Wahlen vom 06. und 13. Dezember 15 die einzige Opposition gegen die neue konservative Regionalregierung bildet (die Sozialdemokratie hatte ihre Liste zugunsten der bürgerlichen Rechten zurückgezogen, um einen Wahlsieg des FN zu verhindern), einen Aufstand. Die Regionalparlamentarier des FN störten die Sitzung vom 28. Januar d.J., zeigten Schilder mit der Aufschrift „Je suis Calais“ („Ich bin Calais“, unter Anspielung auf „Je suis Charlie“ nach dem Mordanschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo im Januar 15) und pöbelten herum(11). Ein FN-Abgeordneter im Regionalparlament, Jacques Danzin, warf dem Regionalpräsidenten Bertrand in dem Zusammenhang sinngemäß vor, „uns wie schlitzäugige Trottel (im Original: Niakoué) zu behandeln“(12). Vizepräsident Gérald Darmanin (LR) kündigte daraufhin eine Strafanzeige wegen rassistischer Ausfälle an.

Anmerkungen

 

Editorischer Hinweis

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.