Im Oktober 2015 hat sich der
deutsche Bundespräsident Joachim Gauck zur „Woche
der Welthungerhilfe“ an seine
lieben „Mitbürgerinnen und Mitbürger“ gewandt und
uns mitgeteilt, „die Nachrichten, die uns täglich
aus vielen Teilen der Welt erreichen,
zeichnen ein schreckliches Bild des Elends und der
Verzweiflung. Und die Vereinten
Nationen zählen beinah 60 Millionen Menschen, die auf der
Flucht sind, vor Hunger und
Krankheit, vor Krieg, Bürgerkrieg und Verfolgung. Ein
bedrückender Höchststand ist das.
Wie können wir diesen Menschen helfen? Kann eine Spende
etwas ausrichten? Ja, sie kann!(1)“
Kann man da widersprechen?
Ja, man kann. Muss man einer solchen Heuchelei
nicht sogar entgegentreten,
wenn man eine Welt ohne Hunger und Elend für ein
vernünftiges Anliegen hält? Spenden aller Art - ob
Geld, Beifall oder bloße
Aufmerksamkeit - sind offenkundig nicht nur nutzlos gegen
das Elend, sie sind den Verelendeten
sogar schädlich, solange sie dazu dienen, den eitlen
Wichtigtuern und rücksichtslosen
Karrieristen eine Tribüne zu geben, damit sie mit ihren
Auftritten für die Beibehaltung derjenigen Zustände werben
können, die Hilfsorganisationen
überhaupt erst nötig machen. Wie sonst soll man sich die
Erfolgsgeschichten der weltweiten
Hilfsindustrie erklären? Sie wuchern auf natürlichem Wege
mit dem Elend, den Bürgerkriegen,
den Grenz- und den Fluchtopfern und der Ohnmacht der
Elenden. Wer das bejammerte Elend ausräumen will,
der muss an die Ursachen ran, das
sagt der Präsident sogar selber:
„Verfolgung, Krieg und
Bürgerkrieg … treiben Menschen in die Flucht und das
erleben wir gerade. Wir
erleben, dass wir eigentlich viel intensiver Fluchtursachen
bekämpfen müssen und dass wir es doch nicht immer
können“(2).
„Wir“ würden doch so gerne!
Aber da sind ja die Sachzwänge. Und wenn Terroristen die
Fluchtursachen sind, dann schicken „wir“ auch schweren
Herzens mal „unsere“ effizienten
Bomberpiloten vorbei. Gut und schön. Was ist aber, wenn die
„Fluchtursachen“ nicht in den Herkunftsländern der
Elenden zu suchen sind – sondern
überall und vor allem auch hier: in den „Aufnahmeländern“?
Und wenn an diesen Ursachen wir alle
beteiligt sind, die wir uns den
vermeintlichen Sachzwängen unterwerfen
und die wir unter Führung „unserer“ mächtigen
Wirtschaftseinheiten mit unseren
harmlosen Alltagshandlungen einen gesellschaftlichen
Zusammenhang hochziehen, der das
mörderische Elend auch noch in die letzten Winkel der
Erdkugel trägt? In Form von
konkurrenzlosen Billigprodukten und vergifteten
Redensarten. Und wenn daher nichts für uns leichter wäre
als die Bekämpfung der
Fluchtursachen? Fehlte uns nicht der gute Wille. Die
Entscheidung für die Warenproduktion ist vermutlich niemals
stärker ausgebildet gewesen als gerade
heute. So viel zur harmlosen Demokratie.
Ohne außergewöhnliche
Anstrengungen kann man sich davon überzeugen, dass
Menschen überall dort ihre
Heimat verlassen, wo die ihnen so unwirtlich geworden
ist, dass sie lieber die Strapazen und die
unkalkulierbaren Risiken der Auswanderung
auf sich nehmen als auszuharren. Das moderne Elend,
das die Leute wegtreibt, erklärt
sich überwiegend aus überaus gut erforschten Tatsachen, die
sich der heute weltweit
dominierenden Weise verdanken, die Unterhaltsmittel aller
Art zu produzieren: In ihrer
Warenproduktion folgen die Produzenten nicht einem
gesellschaftlichen Gesamtplan, sondern produzieren
sie voneinander unabhängig und
scheren sich nicht um die unbeabsichtigten Ergebnisse und
Kollateralschäden.
Ihr eindimensionaler Zweck
heißt: Kapitalrendite. Jeder weiß es. Ungeachtet dieses
dürftigen Zwecks und ihrer
katastrophalen Wirkungen bleibt die Warenproduktion
aber in der öffentlichen Wahrnehmung unantastbar, so
dass mit dem „wirtschaftlichen
Fortschritt“ eben auch die Hilfswerke gegen den Welthunger
wachsen und die wohlfeilen Gebete für den Frieden in
der Welt immer lauter werden. Man
wird also Zweifel anmelden können, ob die Hilfsindustrie
das weltweite Elend überhaupt
beseitigen will. In den kapitalistisch erfolgreichen
Industrienationen jedenfalls gilt
„Wirtschaftswachstum“ als das Allheilmittel erster Güte
gegen alle möglichen Widrigkeiten
des bürgerlichen Geschäftslebens. Selbst diejenigen
Bevölkerungsgruppen, die nichts haben und nichts zu
verlieren haben, verlangen in der Hoffnung auf Besserung
ihrer Lage die Steigerung der Warenproduktion. Wenn
manche Unternehmen wachsen und ihre Marktanteile
vergrößern, bleibt es nicht aus,
dass manchen Wettbewerbern dabei die Luft ausgeht, so dass
das blinde Wirtschaftswachstum hier
den Produktionsstillstand dort einschließt. Indem die
„Ursachen“ des Elends an dem einen Ort „bekämpft“
werden, werden sie an anderer Stelle
gesteigert. Dieses Phänomen ist unter der Bezeichnung
„Standortwettbewerb“ in der jüngsten Vergangenheit
aufwendig verharmlost worden.
Wenn derselbe Präsident Gauck, der über die „Elenden und
Verzweifelten“ sein billiges
Mitgefühl ausbreitet, seit Jahren auf allen möglichen
Plätzen das Evangelium der Freiheit
predigt, weil die „Freiheit“ nach seiner „tiefen
Überzeugung … das Allerwichtigste im
Zusammenleben ist“(3),
dann meint er durchaus nicht nur die
Abwesenheit politischer Unterdrückung, sondern wirbt er
ausdrücklich „für Markt und für
Wettbewerb“: „Denn Freiheit in der Gesellschaft und
Freiheit in der Wirtschaft, sie gehören zusammen(4)“.
Mit diesem „Freiheitskampf“ verdient er sich den lärmenden
Beifall der bürgerlichen Öffentlichkeit, die beschränkt
genug ist, ihre eigenen Ansprüche
immerfort und überall als Rechte auszusprechen: Was ist
ihre „Freiheit“ sonst als ihr
„Menschenrecht“ auf ungehinderten Warenverkehr und die
unbeschränkte Verfügung über Arbeitskräfte aus allen
Weltteilen zum Zwecke der Produktion
dieser Waren? Ohne ausweglose Armut ist aller bürgerliche
Reichtum nichts. Wer produzierte all
den Plunder für die Angeber, wer putzte ihre Stuben und
servierte ihnen die Mahlzeiten – wenn da nicht die
arbeitsamen Armen wären? Von den
gekauften Fanatikern der
„Wirtschaftsfreiheit“ hört man selten einen Gedanken
über die Zwangsarbeit der anderen – ohne die es
weder Freiheit noch Reichtum im
bürgerlichen Sinne gibt. Die Oberflächlichen wagen sich in
keine Tiefen, und so könnten wir
locker darauf verzichten, ausgerechnet von einem Pfaffen
dialektische
Einsichten zu erwarten. Wären da nicht auch immer mal
wieder Gottesleute unterwegs gewesen, die ein Beispiel
geben können. Vor über zwei Jahrhunderten
war der Sansculottenprediger Jacques Roux einer von
ihnen: „Die Freiheit ist ein leerer
Wahn, solange eine Menschenklasse die andere ungestraft
aushungern kann(5)“.
Der Mann hat bereits damals auf den Punkt formuliert, was
die Freiheit unseres
Präsidenten auch heute noch ist. Strafloses Aushungern!
Kein Wunder, wenn die regierenden
Terroristen ihm damals den Prozess gemacht haben. Einen
aktiven Mitläufer hätten sie gebrauchen können, aber
keinen Kritiker. Gauck muss ein
solches Schicksal nicht befürchten, denn er erzählt doch
nur bereitwillig nach, was
hierzulande das heute maßgebliche Interesse diktiert - was
also jene „Menschenklasse“ behauptet, die andere
„ungestraft aushungern“ kann. Wollte er wirklich die
Ursachen des weltweiten „Elends und der Verzweiflung“
ausräumen, so hätte er zunächst nur
denkend nachzulesen, was die bürgerlichen Ökonomen, zu
deren Ehren er zuweilen seine Sonntagsreden hält,
aufgeschrieben haben. Das ist
zumutbar und sollte auch möglich sein. Die sagen nämlich
selber, dass die kapitalistische
Warenproduktion zugleich eine mustergültige Maschinerie der
Verelendung ist. Wenn auch nur wenige von ihnen wissen,
dass sie es sagen! Seit Jahrzehnten
schwärmt diese Zunft ungeniert vom Kapitalismus mit dem
Argument, er habe gegenüber allen
bisher bekannten Produktionsweisen den unbestreitbaren
Vorzug, auf dem Wege der „schöpferischen Zerstörung“
unaufhörlich Neuerungen aller Art
zur Wohlfahrt des Menschengeschlechts hervorzubringen.
Untersucht haben sie dieses
„kapitalistische Faktum“ eher weniger, denn sie hätten sich
dann ja auch mit den Ergebnissen dieser „Zerstörungen“
auseinandersetzen müssen. Durch erfolgreiche
Warenproduktion ruinierte Existenzen passen aber nun mal
nicht so recht in das Weltbild, das
diese meist akademischen Einsatzkräfte ihrer Herrschaft
auszumalen haben. Vielmehr ist die Ware als Tatwaffe
eines vor unseren Augen
stattfindenden universellen Gewaltverbrechens dem
bürgerlichen Bewusstsein eine
unerträgliche Vorstellung. Das Ding muss verschwinden! Man
kennt das ja aus
anderen Kriminalgeschichten auch. Sonst könnte doch jemand
auf den Einfall kommen, für
die Beseitigung der Warenproduktion durch die Einrichtung
einer vernünftigen
gesellschaftlichen Produktionsplanung zu werben, in der die
Produktion des Notwendigen für alle
eine ebenso selbstverständliche wie auch leichte
Angelegenheit wäre. Allein der Gedanke daran ist
nicht akzeptabel. Wer so etwas auch
nur zum Thema macht, der riskiert es zweifellos, von allen
Warenproduzenten und Warenhändlern –
also praktisch von allen, von seiner ganzen Familie –
verstoßen und geächtet zu
werden. Kafka zeigt in seiner „Verwandlung“, wozu so
etwas führt.
Die Priester des Kapitals werden nicht bezahlt, um
Wahrheiten ans Licht zu bringen, sondern
um Dunkelheit dort herzustellen, wo unbeliebte Wahrheiten
liegen. Während sie seine
produktiven Kräfte zu Recht feiern, bemühen sie sich
zugleich, die Verheerungen des
Kapitals aktiv zu verschweigen, zu leugnen, zuzudecken oder
umzudeuten. Das Kapital als Destruktionskraft? Was
soll das denn sein? Wer für die
„Freiheit der Marktwirtschaft“ zu streiten hat, der darf
sich mit Widersprüchen nicht belasten, der braucht seine
ganze Energie zur Unterdrückung der handgreiflichsten
Indizien des mörderischen
Charakters der industriellen Warenproduktion.
Als vor einigen Jahren die
weltweite Überproduktion von Waren die Weltwirtschaft
dermaßen zerrüttet hatte, dass
bei vielen Zeitgenossen Zweifel darüber aufkamen,
ob wir mit der kapitalistischen Produktionsweise
tatsächlich die beste aller Welten
erwischt haben, da beeilten sich die etlichen Zeichendeuter
der Bourgeoisie unverzüglich, die
industrielle Produktion des Kapitals dem Blickfeld zu
entrücken. Nachdem selbst der
damalige Präsident der Vereinigten Staaten Georg Bush
irritiert eine „Überproduktion“ von
Waren festgestellt haben wollte, da zeigte etwa
Wirtschaftsnobelpreisträger
Joseph Stiglitz sein ganzes Können:
„Der amerikanische Präsident
Bush“, meinte er in einem FAZ – Interview bereits
2008, „hat gesagt: Wir haben
zu viele Häuser gebaut. Das stimmt zwar, aber (!) das
ist keine wirklich gute Antwort, wenn es darum geht,
was wirklich falsch gelaufen ist. Es
gab auch (!) unfassbar viel Gier, aber (!) die gibt es
immer“(6).
Was Bush naiv ausgeplaudert
hatte, das musste der Bourgeois-Ökonom entschieden
zurückweisen. Und wie! Nach Auskunft des Gelehrten war die
Aussage des Präsidenten zwar wahr,
aber nicht gut. Denn es gab da auch noch ein ganz
„unfassbares“ Verhalten, nämlich die „Gier“ – und
die „gibt es immer“! Bedenkenlos
ersetzte der geehrte Ökonom einen wahren Kern durch eine
Blödheit. Der wahre Kern war der: Häuser zu bauen;
Badewannen, Parkettfußböden, Auslegware, Türen,
Fenster, Dachrinnen,
Waschmaschinen, Inneneinrichtungen usw. in die Welt zu
setzen, das ist heutzutage dank der modernen
Produktivkräfte der großen Industrie
vergleichsweise leicht zu bewerkstelligen. Diese Dinge
werden sogar regelmäßig
„überproduziert“, obgleich die meisten Bau- und
Industriearbeiter nur in
bescheidenen Wohnverhältnissen leben – und viele während
der Krise sogar in Zelte umziehen
mussten. Statt nun einen offenkundigen Widerspruch
aufzunehmen, den selbst ein
amerikanischer Präsident hat ahnen können, musste Stiglitz
ihn in Grund und Boden schwafeln.
Wer nun glaubte, er habe nur mal versehentlich
danebengegriffen, wie es ja im Leben immer mal
wieder vorkommt, der wurde im
Fortgang der Dinge belehrt.
Bei ihrer aufwendigen
Fahndung nach den Ursachen der Wirtschaftskrise haben sich
schließlich alle bedeutenden Sachverständigen damals auf
die heute noch gültige Sichtweise
verständigen können, die krisenbedingte Ruinierung so
vieler Existenzen hätte irgendwie
etwas zu tun mit dem Geld, wobei sie nicht sehr klar
darüber waren, dass das Geld, soweit
nicht Falschgeld, nur die verwandelte Form der Ware ist,
deren Dasein sich eben der Produktion verdankt. Aber
nicht die Produzenten, sondern die Banken sollten es
gewesen sein, die vor lauter Gier und Unvermögen
die an und für sich großartige kapitalistische
Produktionsweise souverän an den
Rand der Katastrophe geführt haben, und deshalb hat man das
Desaster dann auch „Finanzkrise“
getauft. Manche Marktbeobachter gaben daneben den
Regierungen noch eine Teilschuld,
weil die den Banken die finanziellen Machenschaften nicht
verboten hatten. Man hat alle möglichen Geschäftsmodelle
der Geldhäuser verdächtigt, alle
ihre Kreditpapiere sowie die Derivate dieser Papiere, aber
niemals die Grundlage des Kredits,
niemals die Warenproduktion. Dabei sind die
wachsenden Risiken der planlosen gesellschaftlichen
Produktion auf höchster Stufenleiter
mit den Händen zu greifen, und es ist auch mühelos
einzusehen, dass die diversen Papiere einerseits zur
Erleichterung dieser Produktion und andrerseits
zur Bändigung der daraus resultierenden
Produktionsrisiken von den Finanzinstituten
entwickelt worden sind; einerseits werden zum
Beispiel Waren gegen
Zahlungsversprechen verkauft, andrerseits werden
anschließend auch die Ausfallrisiken
dieser Zahlungsversprechen zum Handelsartikel. Betrachtet
man aber die abgeleiteten Papiere nicht an ihren
Geburtsstätten, sondern lediglich in dem Auf
und Ab ihrer Kursnotierungen,
dann kommt man leicht zu der verbreiteten Ansicht,
die dem steinreichen Klassenkämpfer Warren Buffett
zugeschrieben wird: Derivate sind
„Massenvernichtungsmittel“! Dieses Urteil kommt den
Verfechtern der Marktwirtschaft sehr
entgegen, weil mit einer solchen Perspektive die
Warenproduktion der großen Industrie als die
mächtige Triebkraft der ganzen Veranstaltung
in den Schatten gestellt werden kann. Mit einem Skandal um
einen irgendwie plausiblen
Sündenbock lässt sich das wirkliche
Massenvernichtungsmittel im
Verborgenen halten und kann weiterhin die vermeintlich
harmlose industrielle
Warenproduktion dazu genutzt werden, den Profit zu machen,
um den sich das ganze Interesse der
vermögenden Klassen dreht.
Was man in der
Wirtschaftskrise nicht wahrhaben wollte, das muss auch
sonst verdunkelt werden: der spezifisch kapitalistische
Zusammenhang von Produktion und
Zerstörung. Wer über den Einsatz der gesellschaftlichen
Produktivkräfte verfügt, der nutzt
sie auch für seine Zwecke, und wenn nicht die Gesellschaft
der Arbeitenden darüber verfügt,
dann muss sich niemand darüber wundern, wenn dieselbe auch
nicht ihr Nutznießer ist. Dagegen nutzen die
kapitalistischen Unternehmen sie im Auftrag ihrer
Eigentümer zur Herstellung „wettbewerbsfähiger Waren“. Je
mehr Waren gegebener Qualität zum
möglichst niedrigen Preis ein Unternehmen erzeugen
kann, desto mehr kann es davon
bei gegebener Handelsfreiheit und sonst gleichen
Umständen absetzen und desto größer ist der Ertrag
für die Eigentümer. Je günstiger die
Waren aber im Vergleich sind, desto schlechter ist es
bestellt um die Konkurrenten, die sich ebenfalls um den
Absatz ihrer Erzeugnisse bemühen, die aber ihre Produktion
einstellen müssen, soweit sie im „Preiswettbewerb“
nichtmithalten können, etwa weil ihnen die nötigen
Produktionsmittel fehlen. Wenn der
“Kampf um die Marktanteile“ regelmäßig mit der
„schöpferischen Zerstörung“ der
gegnerischen Stellungen endet, dann ist das also ein
„kapitalistisches Faktum“, das als solches von den Ökonomen
auch als dauernde Begleitung der kapitalistischen
Entwicklung begeistert
registriert wird. Umso merkwürdiger ist das große Wehklagen
der bürgerlichen Öffentlichkeit über die aktuellen
Fluchtbewegungen, die sehr leicht
als Konsequenzen der erfolgreichen industriellen
Kampfhandlungen des Kapitals zu
entziffern sind. Nach ihren gelungenen Propagandafeldzügen
für die Handelsfreiheit zerstören
die produktiven Streitkräfte des Kapitals stets und ständig
mit ihren wohlfeilen Waren alles, was sich ihnen
entgegenstellt, und zwar ohne eine Rücksicht auf das
weitere Schicksal der Verlierer. Im Unterschied zu den
gewöhnlichen Kriegshandlungen sind
die des Kapitals auch eher auf die völlige Vernichtung des
Gegners ausgerichtet und enden selten mit
Friedensverhandlungen, so dass die
geschlagenen Rekruten der ehemals konkurrierenden
Unternehmen schließlich oft die
Flucht antreten müssen oder ohnmächtig um sich schlagen.
Wie sonst sollen wir uns „Selbstmordattentäter“ erklären?
Die Ansicht des Präsidenten ist jedenfalls nicht
akzeptabel für Leute, die ihre verordneten
Glaubensgewissheiten durch Zweifel in
Schranken halten. Gauck gibt bedenkenlos seinen
Segen für die Fortsetzung der
ökonomischen Schlachten mit militärischen Mitteln, wenn er
in seiner Weihnachtsansprache 2015
„die Soldatinnen und Soldaten, die im gefährlichen
Kampf gegen die Wurzeln (!)
des Terrors“7 eingesetzt sind, dankbar grüßte und
damit unterstrich, was auch ein moderner Missionar
unter christlicher Nächstenliebe
versteht: die Unterwerfung des Nächsten. Nicht einmal
darauf will er sich verständigen,
dass der Terror gesellschaftliche Ursachen haben könnte,
die mit leistungsbereiten Soldaten
nie und nimmer auszuräumen sind. Für einen christlichen
Fundamentalisten ist das Böse die
„Wurzel“ auch des Terrors – und verkörpert ist es
im Terroristen der anderen
Seite! „Gewalt und Hass“, meint daher der selbstgefällige
Prediger in derselben Predigt weiter, „sind kein
legitimes Mittel der
Auseinandersetzung, Brandstiftung und Angriffe auf wehrlose
Menschen verdienen unsere Verachtung
und verdienen Bestrafung (!)“(8).
Was will man dazu noch sagen?
Ohne Zweifel ist das Diktat
der Überheblichen ein günstiger Nährboden für
Terroristen auf allen Seiten.
Auf diesem Wege verdient man sich auch noch die
Verachtung aller unvoreingenommenen Beobachter.
Gestraft ist Gauck jedenfalls genug.
Wer Hunger und Terror
ernsthaft ausräumen will, wird, sofern er ein verständiger
Mensch ist, nicht die
Hungernden und die Terroristen umbringen wollen, sondern
den ganzen gesellschaftlichen Organismus sich
kritisch vornehmen, der die Saat des
Hungers wie die des Terrors hervortreibt, der aber auch die
bescheuerten Vorstellungen darüber
bewirkt.
Auf Dauer kann niemand Waren
kaufen, wenn er nicht auch etwas produziert, was
die Verkäufer für ihre Waren
entgegennehmen. Die kapitalistische Konzentration der
Produktion und des Eigentums lässt dem in der
Konkurrenz Unterlegenen allerdings
kaum Chancen zur Produktion von solchen Gegenleistungen.
Zum Ausdruck kommt diese
Unterproduktion von Kaufmitteln nicht nur in dem weltweiten
Elend, sondern auch in der weltweit
wachsenden Schuldenlast. Früher oder später muss die
„schöpferische Zerstörung“ der unkontrollierten
Massenproduktion der großen Industrie daher auch
selbstzerstörerisch wirken, denn mit der Zahl der Verkäufer
vermindert sie notwendig auch die Zahl der Käufer,
was bereits in der frühen Phase der
Industrialisierung von klaren Köpfen klar gesehen wurde.
Wenn wir die „schöpferische
Zerstörung“ der Warenproduktion für
die öffentlich bejammerten Massenfluchten verantwortlich
machen, dann sprechen wir also weder ein Geheimnis
aus noch eine Neuigkeit.
Selbst die international tätigen Hilfsorganisationen wissen
heute sehr gut, dass die Erzeugnisse der
europäischen Intensivlandwirtschaft und
Massentierhaltung die bäuerlichen Betriebe in den
entferntesten afrikanischen Regionen
in den Ruin treiben. Auch für sie ist es die freie
Entfaltung der kapitalistischen
Warenproduktion, die den Leuten die Lebensgrundlagen nimmt
und sie aus ihrer Heimat vertreibt, wenn auch die
Oberfläche das bei den Lohnschreibern
des Kapitals so beliebte Bild der
selbstverschuldeten Armut und der
selbstverschuldeten Bürgerkriege zeigen mag. Ist also die
Freiheit, für die unser Präsident
wirbt, verantwortlich für das Elend, das derselbe Präsident
mit Spendengeldern bekämpfen will? Was spricht dagegen, die
Sache so zu sehen? ber welcher
Gerichtshof nimmt die Klage entgegen? Und wie könnte die
Anklageschrift lauten?
Vor mehr als eineinhalb
Jahrhunderten hat Wilhelm Schulz, ein Weggefährte Georg
Büchners, die „unabänderlichen Gesetze der Bewegung der
Produktion“ untersucht, und er
gelangte bereits damals zu einem aufrüttelnden Ergebnis.
Sollte es versäumt werden, so warnte
er, die gesellschaftlichen Verhältnisse mit dem Fortschritt
der gesellschaftlichen
Produktionskräfte in Übereinstimmung zu bringen, so werden
früher oder später „die urkräftigsten Beweger und
Erneuerer der Weltgeschichte das
Ihrige thun: der religiöse Fanatismus und der Hunger“(9).
Die wachsenden
gesellschaftlichen Produktivkräfte verlangten nach seiner
Auffassung mit der Gewalt einer Naturkraft eine ihnen
entsprechende Organisation der
gesellschaftlichen Arbeit. Unserer gegenwärtigen Epoche mit
ihren ebenso rücksichts- wie
gedankenlosen Machern und Mitmachern hätte er nur ein
unterirdisches Zeugnis ausstellen können, weil ihr
die produktiven Potenzen des Menschengeschlechts als
Massenvernichtungsmittel geraten. Nicht einmal in der
Ferne erscheint ein Ende des
Massakers. Solange die christlichen Fanatiker der
Kapitalverwertung im Namen ihrer „westlichen
Wertegemeinschaft“ den religiösen
Fanatismus ihrer ohnmächtigen Opfer mit Bomben bekämpfen,
werden sie nur die Verheerungen
ihrer industriellen Warenproduktion noch ergänzen – und
sich selbst und andere auf diesem
Wege immer tiefer in vielleicht sogar auch unbeabsichtigte
und unkontrollierbare
Handlungen verstricken. Terror und Vertreibungen,
Bombenangriffe und Flüchtlingslager,
Sicherheitsunternehmen und Zäune
bestimmen mehr und mehr unseren Alltag, während die
beauftragten Wichtigtuer einer
ausufernden Hilfsindustrie uns wohltätige Spenden als
Linderungsmittel nahe legen.
Aber Verhältnisse lassen sich
ändern - und sie werden geändert werden! Will man
nicht annehmen, dass die
Menschen auf ihre bereits erworbenen Produktionskräfte
verzichten werden, dann wird früher oder später die
blinde kapitalistische
Arbeitsteilung einem internationalen Produktionsplan
weichen, der alle arbeitsfähigen
Menschen in die Lage versetzt, Äquivalente zu produzieren,
besser: arbeitend teilzuhaben
an einem universellen Produktionsprozess, mit welcher
Teilhabe sie zugleich auch
ihre Unterhaltsmittel erwerben. Sagt man, eine solche
Bändigung der modernen
gesellschaftlichen Produktivkräfte durch ihre planende
Nutzung sei ein Ding der
Unmöglichkeit, dann behauptet man nur, die Bombardierungen
der Weltelendsquartiere und die
Fütterung der Hungernden in allen Weltwinkeln seien
alternativlos - bloß weil die kapitalistische
Anwendung der Produktionsmittel mit einem
besseren Zukunftsprojekt nicht vereinbar ist. Von Sex kann
hier keine Rede sein.
Endnoten
1 Joachim Gauck: zur „Woche der Welthungerhilfe“ im Oktober
2015, Berlin, 11.10.2015
2 Joachim Gauck: zum Auftakt der 40. Interkulturellen Woche
am 27. 09. 2015 in Mainz
3 Joachim Gauck: Freiheit. Ein Plädoyer, München 2012, S.5
4 Joachim Gauck: Rede auf der Festveranstaltung zum
60-jährigen Bestehen des Walter Eucken Instituts am 16.
Januar 2014.
5 Jacques Roux: Das „Manifest der Enragés“, 25.6. 1793; in:
Freiheit wird die Welt erobern, Leipzig 1985, S. 147
6 Im Gespräch, Joseph Stiglitz: „Der amerikanische Staat
ist schuld“, FAZ 22.09.2008.
7 Joachim Gauck: Weihnachtsansprache 2015
8 ebenda
9 Wilhelm Schulz: „Bewegung der Produktion“, Zürich und
Winterthur, 1843, S. 178
Quelle:
Zusendung per Email am 2.2.2016 durch den Autor."Kommentare zum
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