Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Angriffe auf Juden

02/2016

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Der Angreifer wollte töten – und das Opfer sucht bis heute nach Erklärungen dafür, warum jemand „im Alter von fünfzehn Jahren eine Lust zu töten verspürt“. Ein Oberschüler türkisch-kurdischer Abstammung, dessen 16. Geburtstag eine Woche später (in der laufenden Kalenderwoche) anstand, attackierte am Morgen des Montag, den 11. Januar 16 vergangener Woche einen zwanzig Jahre älteren Lehrer auf der Straße.

Benjamin Amsellem, das Opfer, unterrichtet jüdische Religion an einer orthodox geprägten Schule im Marseiller Stadtteil Saint-Troc. Dieses Viertel im Osten von Marseille, in dem es eine sichtbar jüdische Präsenz gibt, gilt normalerweise als ruhig und stelle keinen sozialen Brennpunkt dar. Der 35jährige Lehrer trug eine Kippa und traditionelle Kleidung. Der jugendliche Angreifer führte ein langes Messer, das in den Medien auch als „Machete“ bezeichnet wurde, bei sich und schlug Amsellem zuerst mit de flachen Klinge auf den Rücken. Amsellem konnte sich mit seinen Füßen wehren und dank des religiösen Lehrbuches, das er bei sich trug, gegen ihn geführte Messerstiche abwehren – das Buch fing sie auf. Er trug glücklicherweise nur relativ geringfügige Verletzungen am Rücken davon.

Der Jugendliche sprach kein Wort während seiner Attacke und ergriff die Flucht, nachdem Passanten und Anwohner eingegriffen hatten. Augenzeugen verfolgten ihn jedoch auf Mofas, während sie zugleich mit der Polizei telefonierten. Einsatzkräfte konnten den Teenager deswegen an der Metrostation Sainte-Marguerite-Dromel ergreifen. Nunmehr bekannte er sich lautstark dazu, im Namen des so genannten Islamischen Staates (IS) gehandelt zu haben. Dieselbe Terrororganisation hatte auch die Verantwortung für die Pariser Mordanschläge vom 13. November 15 übernommen. Am selben Tag noch übernahm die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft in Paris die Untersuchungen und zog die Ermittlungen an sich. Im Polizeigewahrsam sprach der Jugendliche auch davon, sobald er später aus der Haft wieder herauskomme, werde er sich eine Waffe besorgen, um auf Polizisten zu schießen. Diese Selbstdarstellung dürfte nicht eben dazu beitragen, die zu erwartende Haft zu verkürzen. Der Jugendliche ist jedoch weder im engeren Sinne psychisch krank, noch war er bislang für anderweitige Straftaten oder offensichtliche Kontakte in der jihadistischen Szene polizeibekannt. Er gilt auch als guter Schüler. Derzeit wird vermutet, er habe sich vor allem über das Internet mit jihadistischer Ideologie vollgesogen.

Das brutale Verbrechen hat aber auch über den Umgang mit „Jihad“-Sympathisanten hinausgehende Diskussionen ausgelöst. In Reaktion auf den Angriff forderte Zvi Ammar, der Leiter des religiösen jüdischen Dachverbands – des Consistoire israélite – in Marseille die dort lebenden männlichen Juden dazu auf, sich nicht mehr durch das Tragen einer Kippa in der Öffentlichkeit zu erkennen zu geben. Seitdem sind tatsächlich viele gläubige und praktizierende Juden dazu übergegangen, ihre Kippa etwa unter einer Baseball- oder Schildmütze oder unter einem Hut zu verstecken. Benjamin Amsellem selbst, der sich von den Folgen des Überfalls erholt und dafür von seinem Arbeitgeber beurlaubt ist, trägt seit Mitte Januar d.J. eine Golfspielermütze über seiner Kippa.

Ähnliche Aufrufe von jüdischen religiösen Einrichtungen hatte es auch bereits in früheren Perioden gegeben, etwa 2003 vom damaligen Pariser Großrabbiner Joseph Sitruk. In jenen Jahren fanden vor allem in großstädtischen sozialen Brennpunkten zahlreiche Übergriffe auf jüdische Symbole oder Personen statt, deren Häufigkeit sich in Verbindung mit der Medienpräsenz des israelisch-palästinensischen Konflikts entwickelte und die etwa von manchen jungen Franzosen mit Migrationshintergrund als angebliche Racheakte für die israelische Militärpolitik dargestellt wurden. Der Kontext hat sich seitdem, durch den Aufstieg des organisierten Jihadismus und vor allem der Terrorbewegung IS, gewandelt: Letzterer bildet heute den organisatorischen Bezugspunkt für eine Reihe von Tätern und Tatwilligen, von denen manche psychisch gestört sind, was für den Jugendlichen von Marseille nicht zutrifft.

Die Reaktionen fielen dieses Mal jedoch anders aus als 2003, als Sitruk mit seiner damaligen Aufforderung auf die Brandstiftung an einer jüdischen Schule in Gagny im Pariser Umland reagiert hatte. Viele Prominente – Sportler, Künstler, Politiker – erklärten, es sei unerträglich, wenn jüdische Menschen ihr Glaubensbekenntnis aus Furcht vor Angriffen verstecken müssten, und forderten Juden wie Nichtjuden zum symbolischen Kippatragen aus Solidarität auf. Auch Staatspräsident François Hollande und Premierminister Manuel Valls erklärten, es gehe nicht an, dass Menschen ihre religiöse Überzeugung nur „gesenkten Hauptes“ leben könnten. Und in einem Leitartikel der linksliberalen Tageszeitung Libération erinnerte Redaktionsleiter Laurent Joffrin an „den zweihundertjährigen Pakt der Republik mit den französischen Juden“: Deren Emanzipation, also die Erlangung voller Bürgerrechte, wurde 1791 abgeschlossen und war eine der ersten Handlungen der Französischen Revolution.

Am 20. Januar 16 gingen nun Fußballfans des Marseiller Clubs OM (Olympique de Marseille) mit Kippas auf dem Kopf ins Stadion ihrer Stadt, anlässlich einer Begegnung mit Montpellier. Der englische Fußballer David Beckham zog sich ebenfalls symbolisch eine Kippa auf, während andere VIPs im Internet mit der Kopfbedeckung verziert wurden. Auch zwei Abgeordnete der französischen Nationalversammlung, der Liberalkonservative Meyer Habib (Abgeordneter der Auslandsfranzosen in einem Wahlkreis, der neben anderen Mittelmeerländern auch Israel umfasst) und der in Paris gewählte Konservative Claude Goasguen, ein Jude und ein Nichtjude, zogen sich in der Eingangshalle des Parlaments eine Kippa auf. Im Plenarsaal legten sie diese allerdings ab, um Kritik vorzubeugen, die eine Verletzung der laizistischen, d.h. auf der Trennung von Staat und Religionen beruhenden, französischen Staatsdoktrin moniert hätte.

Es gibt dennoch auch Kritik, darunter auch in jüdischen Kreisen, hinter vorgehaltener Hand und auch offen. So meint der bekannte jüdischstämmige Journalist Claude Askolovitch, Judesein dürfe nicht auf eine Kippa reduziert werden – denn viele nicht orthodoxe Juden trügen keine -; er selbst fühle sich vor allem „als seit 200 Jahren gleichwertiger Bürger dieser Republik“ und nicht zuerst als Teil einer durch sichtbare Religionsausübung definierten Gemeinschaft. Denn die Beziehung oder Nichtbeziehung zu Gott gehe zuerst den Einzelnen an. Er warnt vor diesem Hintergrund gar vor einer „Verkitschung“ von Solidarität.

Jüngste Zahlen belegen, dass im Jahr 2015 insgesamt 719 verbale und körperliche Angriffe auf jüdische Menschen in Frankreich stattfanden. Das waren etwas weniger als 2014 (743), doch machten sie 51 Prozent der Gesamtheit aller als rassistisch eingestuften Straftaten in Frankreich aus. Ob bei Übergriffen auf Juden, Muslime oder Roma gibt es jedoch allgemeine eine hohe Dunkelziffer. Zugleich betrachtet eine Mehrheit der Bevölkerung die französischen Juden als gleichwertigen, normalen Bestandteil der Gesellschaft – laut einer Studie für die Menschenrechtskommission CNCDH betrachteten 27,4 % der Befragten bei einer Erhebung sie im Jahr 2014 als gesonderte Gruppe (2003 waren es noch 38,3 %), Roma dagegen 81,9 %. Im September 2015 erklärten jedoch 43 Prozent der durch das Institut IFOP befragten männlichen Juden, mindestens einmal wegen ihres Jude-Seins (verbal oder körperlich?) angegriffen worden zu sein. Diese Zahl wächst bei Kippa tragenden und dadurch relativ leicht zu identifizieren Juden auf 77 Prozent, unter den Nichtträgern liegt sie bei 21 Prozent.

Editorischer Hinweis

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.