Der Angreifer wollte töten – und das
Opfer sucht bis heute nach Erklärungen dafür, warum
jemand „im Alter von fünfzehn Jahren eine Lust zu
töten verspürt“. Ein Oberschüler
türkisch-kurdischer Abstammung, dessen 16. Geburtstag
eine Woche später (in der laufenden Kalenderwoche)
anstand, attackierte am Morgen des Montag, den 11. Januar
16 vergangener Woche einen zwanzig Jahre älteren Lehrer
auf der Straße.
Benjamin Amsellem, das Opfer,
unterrichtet jüdische Religion an einer orthodox
geprägten Schule im Marseiller Stadtteil Saint-Troc.
Dieses Viertel im Osten von Marseille, in dem es eine
sichtbar jüdische Präsenz gibt, gilt normalerweise als
ruhig und stelle keinen sozialen Brennpunkt dar. Der
35jährige Lehrer trug eine Kippa und traditionelle
Kleidung. Der jugendliche Angreifer führte ein langes
Messer, das in den Medien auch als „Machete“ bezeichnet
wurde, bei sich und schlug Amsellem zuerst mit de flachen
Klinge auf den Rücken. Amsellem konnte sich mit seinen Füßen
wehren und dank des religiösen Lehrbuches, das er bei
sich trug, gegen ihn geführte Messerstiche abwehren – das
Buch fing sie auf. Er trug glücklicherweise nur relativ
geringfügige Verletzungen am Rücken davon.
Der Jugendliche sprach kein Wort
während seiner Attacke und ergriff die Flucht, nachdem
Passanten und Anwohner eingegriffen hatten. Augenzeugen
verfolgten ihn jedoch auf Mofas, während sie zugleich mit
der Polizei telefonierten. Einsatzkräfte konnten den
Teenager deswegen an der Metrostation
Sainte-Marguerite-Dromel ergreifen. Nunmehr bekannte er
sich lautstark dazu, im Namen des so genannten
Islamischen Staates (IS) gehandelt zu haben. Dieselbe
Terrororganisation hatte auch die Verantwortung für die
Pariser Mordanschläge vom 13. November 15 übernommen. Am
selben Tag noch übernahm die
Anti-Terror-Staatsanwaltschaft in Paris die
Untersuchungen und zog die Ermittlungen an sich. Im
Polizeigewahrsam sprach der Jugendliche auch davon,
sobald er später aus der Haft wieder herauskomme, werde
er sich eine Waffe besorgen, um auf Polizisten zu schießen.
Diese Selbstdarstellung dürfte nicht eben dazu beitragen,
die zu erwartende Haft zu verkürzen. Der Jugendliche ist
jedoch weder im engeren Sinne psychisch krank, noch war
er bislang für anderweitige Straftaten oder
offensichtliche Kontakte in der jihadistischen Szene
polizeibekannt. Er gilt auch als guter Schüler. Derzeit
wird vermutet, er habe sich vor allem über das Internet
mit jihadistischer Ideologie vollgesogen.
Das brutale Verbrechen hat aber auch
über den Umgang mit „Jihad“-Sympathisanten hinausgehende
Diskussionen ausgelöst. In Reaktion auf den Angriff
forderte Zvi Ammar, der Leiter des religiösen jüdischen
Dachverbands – des Consistoire israélite – in Marseille
die dort lebenden männlichen Juden dazu auf, sich nicht
mehr durch das Tragen einer Kippa in der Öffentlichkeit
zu erkennen zu geben. Seitdem sind tatsächlich viele
gläubige und praktizierende Juden dazu übergegangen, ihre
Kippa etwa unter einer Baseball- oder Schildmütze oder
unter einem Hut zu verstecken. Benjamin Amsellem selbst,
der sich von den Folgen des Überfalls erholt und dafür
von seinem Arbeitgeber beurlaubt ist,
trägt seit Mitte Januar d.J. eine Golfspielermütze über
seiner Kippa.
Ähnliche Aufrufe von jüdischen
religiösen Einrichtungen hatte es auch bereits in
früheren Perioden gegeben, etwa 2003 vom damaligen
Pariser Großrabbiner Joseph
Sitruk. In jenen Jahren fanden vor allem in großstädtischen
sozialen Brennpunkten zahlreiche Übergriffe auf jüdische
Symbole oder Personen statt, deren Häufigkeit sich in
Verbindung mit der Medienpräsenz des
israelisch-palästinensischen Konflikts entwickelte und
die etwa von manchen jungen Franzosen mit
Migrationshintergrund als angebliche Racheakte für die
israelische Militärpolitik dargestellt wurden. Der
Kontext hat sich seitdem, durch den Aufstieg des
organisierten Jihadismus und vor allem der Terrorbewegung
IS, gewandelt: Letzterer bildet heute den
organisatorischen Bezugspunkt für eine Reihe von Tätern
und Tatwilligen, von denen manche psychisch gestört sind,
was für den Jugendlichen von Marseille nicht zutrifft.
Die Reaktionen fielen dieses Mal
jedoch anders aus als 2003, als Sitruk mit seiner
damaligen Aufforderung auf die Brandstiftung an einer
jüdischen Schule in Gagny im Pariser Umland reagiert
hatte. Viele Prominente – Sportler, Künstler, Politiker –
erklärten, es sei unerträglich, wenn jüdische Menschen
ihr Glaubensbekenntnis aus Furcht vor Angriffen
verstecken müssten, und forderten Juden wie Nichtjuden
zum symbolischen Kippatragen aus Solidarität auf. Auch
Staatspräsident François Hollande und Premierminister
Manuel Valls erklärten, es gehe nicht an, dass Menschen
ihre religiöse Überzeugung nur „gesenkten Hauptes“ leben
könnten. Und in einem Leitartikel der linksliberalen
Tageszeitung Libération
erinnerte Redaktionsleiter Laurent Joffrin an „den
zweihundertjährigen Pakt der Republik mit den
französischen Juden“: Deren Emanzipation, also die
Erlangung voller Bürgerrechte, wurde 1791 abgeschlossen
und war eine der ersten Handlungen der Französischen
Revolution.
Am 20. Januar 16 gingen nun Fußballfans
des Marseiller Clubs OM (Olympique de Marseille) mit
Kippas auf dem Kopf ins Stadion ihrer Stadt, anlässlich
einer Begegnung mit Montpellier. Der englische Fußballer
David Beckham zog sich ebenfalls symbolisch eine Kippa
auf, während andere VIPs im Internet mit der
Kopfbedeckung verziert wurden. Auch zwei Abgeordnete der
französischen Nationalversammlung, der
Liberalkonservative Meyer Habib (Abgeordneter der
Auslandsfranzosen in einem Wahlkreis, der neben anderen
Mittelmeerländern auch Israel umfasst) und der in Paris
gewählte Konservative Claude Goasguen, ein Jude und
ein Nichtjude, zogen sich
in der Eingangshalle des Parlaments eine Kippa auf. Im
Plenarsaal legten sie diese allerdings ab, um Kritik
vorzubeugen, die eine Verletzung der laizistischen, d.h.
auf der Trennung von Staat und Religionen beruhenden,
französischen Staatsdoktrin moniert hätte.
Es gibt dennoch auch Kritik, darunter
auch in jüdischen Kreisen, hinter vorgehaltener Hand und
auch offen. So meint der bekannte jüdischstämmige
Journalist Claude Askolovitch, Judesein dürfe nicht auf
eine Kippa reduziert werden – denn viele nicht orthodoxe
Juden trügen keine -; er selbst fühle sich vor allem
„als seit 200 Jahren gleichwertiger Bürger dieser
Republik“ und nicht zuerst als Teil einer durch
sichtbare Religionsausübung definierten Gemeinschaft.
Denn die Beziehung oder Nichtbeziehung zu Gott gehe
zuerst den Einzelnen an. Er warnt vor diesem Hintergrund
gar vor einer „Verkitschung“
von Solidarität.
Jüngste Zahlen belegen, dass im Jahr
2015 insgesamt 719 verbale und körperliche Angriffe auf
jüdische Menschen in Frankreich stattfanden. Das waren
etwas weniger als 2014 (743), doch machten sie 51 Prozent
der Gesamtheit aller als rassistisch eingestuften
Straftaten in Frankreich aus. Ob bei Übergriffen auf
Juden, Muslime oder Roma gibt es jedoch allgemeine eine
hohe Dunkelziffer. Zugleich betrachtet eine Mehrheit der
Bevölkerung die französischen Juden als gleichwertigen,
normalen Bestandteil der Gesellschaft – laut einer Studie
für die Menschenrechtskommission CNCDH betrachteten
27,4 % der Befragten bei einer Erhebung sie im Jahr 2014
als gesonderte Gruppe (2003 waren es noch 38,3 %), Roma
dagegen 81,9 %. Im September 2015 erklärten jedoch 43
Prozent der durch das Institut IFOP befragten männlichen
Juden, mindestens einmal wegen ihres Jude-Seins
(verbal oder körperlich?) angegriffen worden zu sein.
Diese Zahl wächst bei Kippa tragenden und dadurch relativ
leicht zu identifizieren Juden auf 77 Prozent, unter den
Nichtträgern liegt sie bei 21 Prozent.
Editorischer Hinweis
Den Artikel
erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.
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