Gilles Kepel und Antoine Jardin
Wie der Jihad (oder was manche dafür ausgeben) nach Frankreich kam

Buchbesprechung von
Bernard Schmid

02/2016

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Nach außen hin wirkt es sensationslüstern, das Buch, das zwei französische Autoren zu Anfang dieses Jahres 2016 auf den Markt brachten, wenige Wochen nach den mörderischen Attentaten vom 13. November 15. Den Haupttitel, „Terror im Hexagon“ – der letztgenannte Begriff, gleichbedeutend mit „Sechseck“, wird allgemein als Synonym für das französische Staatsgebiet benutzt – hat der Verleger in die Nationalfarben blau, weiß und rot setzen lassen. Begleitet wird er von der Unterüberschrift „Entstehung des französischen Jihad“. Der mit Abstand prominentere der beiden Verfasser ist Gilles Kepel, der als „Islamspezialist“ und als Kenner der zeitgenössischen arabischen Politik gilt – allerdings auch gerne als reisender Dandy auftritt - und an mehreren Pariser Hochschulen unterrichtet; sein Co-Autor, Antoine Jardin, ist Forscher mit einem Schwerpunkt auf politischer Soziologe der Unterklassenviertel und Trabantenstädte.

Der Inhalt, aufgeteilt in sechs Kapitel, ist erheblich weniger marktschreierisch aufbereitet. Er versucht im Kern, darzustellen, wie zwei größere Entwicklungen aufeinander getroffen seien: soziale und politische Veränderungen in den Wohnorten der Unterklassen mit oder Migrationshintergrund innerhalb Frankreichs auf der einen, eine Veränderung – die Autoren nennen sie auch „Mutation(en)“ - des internationalen Jihadismus auf der anderen Seite.

Letztere machen die Verfasser an einem Text fest, der im Januar 2005 auf stattlichen 1.500 Seiten im Internet erschien und den Titel „Aufruf zum weltweiten islamischen Widerstand“ trug. Dessen, inzwischen durch Inhaftierung aus dem Verkehr gezogener, Autor trägt den Kampfnamen Abu Musab Al-Suri (der Syrer), seine bürgerliche Identität lautet Mustafa Setmariam Nasar. Sein von vielen verkannter Text lässt sich ungefähr mit dem ähnlich langen „Manifest“ vergleichen, das der Norweger Anders Behring Breivik im Juli 2011 zur Begleitung der von ihm verübten Mordanschläge ins Netz stellte. Al-Suri allerdings warf weitaus tiefer in kollektive Strukturen eingebunden. Die beiden Verfasser betrachten seine Ergüsse als Dokument von zentraler Bedeutung, da es die Übergänge zu neuen Formen des radikalen Islamismus darstelle, welche sich - ihrer Analyse zufolge - zeitgleich mit der Verbreitung des Internets und dem Aufkommen neuer sozialer Medien als Propagandavektoren vollzogen. Seine Bedeutung werde unterschätzt, obwohl das Dokument sich in den vergangenen Jahren als PDF-Datei auf zahllosen Webseiten und Facebook-Accounts radikaler Islamisten befunden habe.

Der 1958 im syrischen Aleppo geborene kämpfte in den achtziger Jahren im anti-sowjetischen Djihad in Afghanistan mit. Aus diesem Grund kann er die Erfahrungen verschiedener Generation bewaffnet agierender Islamisten miteinander verknüpfen. Er kennt aber auch Europa von innen her sehr gut, da er ein Ingenieursstudium in Frankreich begann und später durch Heirat die spanische Staatsbürgerschaft übernahm. In den neunziger Jahren siedelte er sich in dem als „Londonistan“ bezeichneten Wirkungsgebiet radikaler Islamisten in der britischen Hauptstadt, rund um die berüchtigte Mosche von Finsbury Park, an und versuchte, Jihadisten an neuen Wirkungsorten publizistisch und agitatorisch zu unterstützen. Seine Anstrengungen galten damals den Bürgerkriegsschauplätzen Bosnien und Algerien, wo er im Endeffekt die Niederlage der bewaffneten Islamisten – die im einen Fall gegen Serbien, im anderen gegen das Regime in Algier kämpften – konstatieren muss. Im Rückblick auf den 11. September 2001 zieht er aber auch eine teilweise kritische Bilanz aus der Vorgehensweise von Al-Qaida und attestiert ihr eine gewisse Ineffizienz.

Al-Suri gießt seine strategischen Einschätzungen in eine theoretische Form. Er erklärt, die erste Generation von Jihadisten – zunächst in Afghanistan, in den 1990er Jahren dann unter anderem im Inneren arabischer Länder wie Algerien und Ägypten – habe „den nahen Feind“ (al-’adu al-qarib) angegriffen und bekämpft, sei damit jedoch an ihre Grenzen gestoßen. Daraufhin habe Al-Qaida eine hochgradig zentralisierte – von der Form her „leninistisch“ – Organisationsstruktur geschaffen und versucht, alle Kräfte auf „den fernen Feind“ (al-’adu al-ba’id) zu konzentrieren, in Gestalt der zum Hauptfeind erkorenen USA. Doch sei die Organisation dabei unfähig geblieben, eventuellen Sympathisanten in den muslimischen Bevölkerungen eigene Handlungsperspektiven oder Mobilisierungsmöglichkeiten anzubieten. Der Impuls versandete darum, aus Sicht von Al-Suri, der Ussama Bin Laden seine „Hybris“ (Hochmut) vorwirft: Letztendlich habe er lediglich George W. Bush eine Steilvorlage für dessen militärische Eingriffe geliefert - und über keinerlei soziale Basis verfügt, deren Aufbau vernachhlässigt worden sei. Al-Suri schlägt darum ein neues Aktionsprinzip nach dem Graswurzelprinzip vor. Vor allem im Inneren Europas lebende Sympathisanten sollten rekrutiert werden, um den Krieg auch dorthin zu tragen und den Einfluss der jihadistischen Ideologie wie ein Pilzgeflecht von unten her auszubreiten. Der Jihadist bringt es auf den Punkt: Nizam, la-tanzim („ein System, keine Organisation“).

Dieses neue Organisationsprinzip trifft nun, den beiden Autoren zufolge, auf neuartige Rekrutierungsmöglichkeiten innerhalb Frankreichs, die sich durch soziale und politische Krisenentwicklungen dort eröffnet hätten. Ähnlich wie bei den Jihadisten – aber auf anderen Grundlagen - gibt es ihnen zufolge auch dort Wandel, die sie als Generationswechsel analysieren. Die erste Generation war demnach jene der jungen Franzosen mit Migrationshintergrund und mehrheitlich mit Unterklassenzugehörigkeit, die sich in den frühen 1980er Jahren zunächst nicht für spezifisch muslimische Ziele, sondern im Gegenteil eher für universelle Rechtsgleichheit mobilisierten. Sinnbildlich lässt sich dies am „Marsch für Gleichheit“ vom Herbst 1983 – einem Fußmarsch arabischstämmiger Franzosen von Marseille über Lyon und Roubaix bis nach Paris, wo sie durch eine Demonstration von 100.000 Menschen empfangen wurden – festmachen. Doch diese erste Generation wurde bitterlich enttäuschen. Organisationen wie die damals gegründete Vereinigung SOS Racisme griffen den Impuls scheinbar auf, kulturalisierten und folklorisierten jedoch dessen Erscheinungsformen und appellierten zugleich an die institutionelle Politik. Von Letzter kamen jedoch keine positiven Veränderungen.

Die zwei Generation war demnach jene, die eine gewisse „Reislamisierung“ trug und sich etwa in der konservativ-reaktionären Muslimorganisation UOIF – mit Verbindungen zu den Muslimbrüdern – niederschlug. Deren Kader und Imame waren jedoch in der Regel keine Franzosen mit Migrationshintergrund, sondern in den Ländern Nordafrikas aufgewachsen und als Erwachsene nach Frankreich gekommen, um dort ihre Botschaft zu vermitteln. Kepel und Jardin konstatieren das Scheitern ihres Versuchs, eine ideologische Hegemonie über „ihre“ Community zu behaupten, spätestens ab dem Herbst 2005. Anlässlich der damaligen Riots in zahllosen französischen Trabantenstädten und Einwanderervierteln appellierte die, damals noch mit Innenminister Nicolas Sarkozy verbündete, UOIF an Ruhe und Ordnung und denunzierte Zündeleien in eigens erlassenen Fatwas als gottloses Treiben. Von den Betreffenden wollte jedoch niemand auf sie hören. Sarkozy brach daraufhin seine vormalige Allianz mit der UOIF, kündigte ihr jegliche Loyalität auf und setzte in den darauffolgenden Monaten auf eine oft eher muslimfeindliche Rhetorik.

Wie damals quasi alle Beobachter, stellen auch Kepel und Jardin dieses Scheitern der Hegemonieansprüche von UOIF, konservativen Moschee- und Kulturvereinen und Verbündeten fest. Dennoch, so behaupten sie, habe es eine spezifisch islamische Komponente in den damaligen Unruhen gegeben. Diese leiten sie daraus ab, dass eine Woche nach dem auslösenden Moment – dem Tod der beiden Jugendlichen Bounna Traoré und Zyed Benna – in Clichy-sous-Bois eine Tränengasgranate in die offene Tür einer Moschee gefallen sei, was die Gläubigen über die Stadt hinaus mobilisiert habe. Dieses Element sei zu jener Zeit total unterschätzt worden. Darüber lässt sich sicherlich viel streiten. Über das Ereignis wurde damals in Wirklichkeit viel berichtet, übrigens auch vom Verf. dieser Zeilen (vgl. u.a.: http://jungle-world.com/artikel/2005/45/16321.html ). Ob es wirklich ausschlaggebend für die Ausbreitung der Unruhen war, ist jedoch zweifelhaft und wurde in vielen Reaktionen, auch von Sozialwissenschaftlern, auf das Buch tendenziell bestritten. In einem Bericht der französischen politischen Polizei – Renseignements généraux – vom Dezember 2005 wird jedenfalls die damals viel diskutierte Rolle von Islamisten bei den Riots tendenziell bestritten und vorwiegend auf ökonomische Ursachen abgestellt.

Kepel und Jardin sind einerseits feine Beobachter, die für den Zeitraum von 2005 bis Ende vergangenen Jahres zahlreiche politische Einzelheiten zusammentragen und zu einem Bild zusammenfügen. Auf der anderen Seite lieben sie es jedoch auch, Schemata zu erschaffen, in denen die Dinge eine Form einnehmen, die einer sauberen Stufenfolge in Form von behaupteten Generationssprüngen. An manchen Stellen scheint ihre Liebe zur Schematisierung ein wenig mit ihnen durchgegangen zu sein, denn die beiden Verfasser bezeichnen den Herbst 2005 als den Moment einer „Begegnung der dritten Art“ zwischen einer „dritten Generation“ unter französischen Muslimen und einer „dritten Generation“ im internationalen Jihadismus (vgl. Seite 49 ihres Buches). Dies ergibt ein tolles Sprachbild, aber bei der Analyse wurde dabei wohl ein wenig im Hau-Ruck-Verfahren nachgeholfen.

Für die weiteren Jahre nach 2005 bleiben die Verfasser hingegen überwiegend bei einer nüchternen und an Fakten orientierten Darstellung. Sie zeigen auf, wie unter der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys etwa die damals staatsoffiziell losgetretene „Debatte zur nationalen Identität“ – drei Jahre lang war diese mit einem eigenen „Ministerium für Einwanderung und nationalen Identität“ ausgestattet – kulturalisierende und identitätsheischende Orientierungen befördert habe.

Für das Jahr 2012 konstatieren sie das Aufkommen eines „muslimischen Votums“, da die Wählerschaft nordafrikanischer Herkunft und mal mehr, mal weniger stabiler muslimischer Ausrichtung in überwältigender Mehrheit gegen Amtsinhaber Sarkozy und für seinen Herausforderer François Hollande gestimmt habe: Sarkozy wurde als Ex-Innenminister mit den Ereignissen in den Banlieues von 2005 identifiziert. Dieses Stimmbündnis mit der Linken habe das frühere Klassenbündnis, das die migrantische Arbeiterschaft mit der französischen KP eingegangen sei, das jedoch durch deren Niedergang aufgelöst worden sei, zeitweilig abgelöst. Aufgrund vor allem von zwei Faktoren sei es jedoch seinerseits zerfallen. Einerseits durch die Annahme des Gesetzes zur Homosexuellen-Ehe, das konservative Muslime von der etablierten Linke entfernt habe. Die Verfasser sprechen hier von einem alternativen Bündnis zwischen Katholiken und Muslimen – allerdings waren Zweitere bei den damaligen Demonstrationen erheblich weniger vertreten als Erstere. Zum Andere habe die Wirtschaftspolitik und die anhaltende soziale Krise in den Banlieues und anderswo zur Abkehr Angehöriger der Unterklassen, zu denen Migranten und ihre Nachfahren mehrheitlich zählen, von Hollande geführt. Dieses Vakuum, so lauten ihre zentrale These, versuchten Kräfte des politischen Islam aufzufüllen.

Beide Verfasser verweigern jedoch eine essentialisierende Sichtweise, die alle Muslime zu einer Einheit verschmelzen würde. In ihrem Nachwort stellen sie zu ihre Methodik klar, sie betrachteten die muslimische Bevölkerung in Frankreich als „von Spannungen durchzogen“ – aufgrund von Akteuren, die sich „um die Hegemonie in seiner Vertretung“ stritten – und „nicht als ihrer sozialen Konstruktion vorausgehende religiöse Gemeinschaft“. Als positive Gegenkräfte gegen das Vordringen reaktionärer Erscheinungen setzen sie dabei vor allem auf die Kraft der Bildung, so lange, schreiben sie zum Schluss, das Bildungswesen noch nicht kaputtrefomiert worden sei.

Zu guter Letzt und weil ein bisschen Mäkelei auch sein muss: Das Buch enthält ansonsten auch einige – OK OK, durchaus verzeihliche – Flüchtigkeitsfehler So werden die Anschläge von Madrid auf 2003 (statt März 2004) datiert und der Wiederaufstieg des zeitweilig angeschlagenen Front National bei Wahlen an einer Stelle auf 2013 (statt richtig: 2010).

 

Gilles Kepel
Avec la collaboration d'Antoine Jardin
Terreur dans l'Hexagone. Genèse du djihad français

Hors série Connaissance, Gallimard
Parution : 15-12-2015