Texte vom "Vietnam-Kongress" in Westberlin 1968

Rudi Dutschke - Kongress-Referat
Die geschichtlichen Bedingungen
für den internationalen Emanzipationskampf

02/2018

trend
onlinezeitung

Jede radikale Opposition gegen das bestehende System, das uns mit allen Mitteln daran hindern will, Verhält­nisse einzuführen, unter denen die Menschen ein schöpfe­risches Leben ohne Krieg, Hunger und repressive Arbeit führen können, muß heute notwendigerweise global sein. Diese Globalisierung der revolutionären Kräfte ist die wichtigste Aufgabe der ganzen historischen Periode, in der wir heute leben und in der wir an der menschlichen Emanzipation arbeiten.

Die Unterprivilegierten in der ganzen Welt stellen die realgeschichtliche Massenbasis der Befreiungsbewegungen dar; darin allein liegt der subversiv-sprengende Charak­ter der internationalen Revolution.

Die Dritte Welt als die Gesamtheit der unter dem Terrorismus des von den „giant-corporations" bestimm­ten Weltmarktmechanismus leidenden Völker, deren Ent­wicklung vom Imperialismus verhindert wurde, hat in den 40er Jahren mit diesem Kampf begonnen, schon ganz unter dem Eindruck und der Erfahrung der ersten „ver­ratenen" (Trotzki) „proletarischen Revolution" in der Sowjetunion. Entscheidender Unterschied: Die Massen-haftigkeit und die Dauer des revolutionären Prozesses, der auch in der Theorie schon als ein permanenter be­griffen wurde.
In den 50er Jahren erkämpften wirkliche sozial-öko­nomische Unabhängigkeit allein die chinesischen Massen, die den Sprung vom Reich der imperialistischen Exploita­tion ins Reich der sozialistischen Armut durchsetzen konnten. Die sozialistische Armut wurde der Ausgangs­punkt einer wirklichen Bedürfnisbefriedigung der Massen Chinas.

In den anderen Ländern aber füllte sich die Formel der Unabhängigkeit der kolonialen Gebiete jedoch sehr bald mit dem unveränderten Inhalt von politischer Abhängig­keit und ökonomischer Ausbeutung.

Der durch den Krieg geschwächte Kapitalismus be­nötigte für seine Rekonstruktionsperiode große Kapital­massen: „In den Jahren 1945 bis 1951 wurden die engli­schen Kolonien unter unzähligen Vorwänden gezwungen, nicht weniger als eine Milliarde Pfund als Sterling-Balance zu akkumulieren ... diese Milliarde konstituierte den kolonialen Kapitalexport nach England" (P. Baran, Political Economy of Growth, New York 1957, S. 231). Die Kolonien bzw. die neuen unabhängigen Länder der Dritten Welt, die Milliardensummen für den Aufbau, den kurzfristigen Aufbau einer die Bedürfnisse der Mas­sen befriedigenden Industrie benötigt hätten, blieben aus­gebeutet unter den von den „giant-corporations" wesent­lich mitbestimmten „Naturgesetzen" des Weltmarktes, der die Preise für die meisten Rohstoffe fallen ließ. Die durch starken Bevölkerungszuwachs in diesen Ländern forcierte Elendssituation führte immer häufiger zu ge­waltsamen Aufständen: „Die USA sind heute unentrinn­bar in diese schweren Kämpfe - China, Korea, Japan, Malaysia (Philippinen, Holländisch-Indonesien, Britisch-Malaya, Französisch-Indochina), in Siam, Burma und Indien - verstrickt und werden in naher Zukunft noch tiefer in sie verstrickt sein. Zweifellos werden sie auch Positionen beziehen und ihre eigene charakteristische Variante dieser neuen Form des Imperialismus entwik-keln müssen" (K. Korsch, in: Alternative, April 1965, Seite 88).

Die neue Form des Imperialismus zeichnet sich dadurch aus, daß sie sich auf „befreundete Regierungen, Marionet­ten, Quislinge und alle möglichen Arten von Kollabora­teuren einschließlich gewisser Sorten sogenannter Wider­standsbewegungen stützt" (K. Korsch, ibd., S. 88).

Das Besondere dieser neuen Form des Imperialismus ist, daß er nicht mehr primär ökonomisch zu verstehen ist. Sicherlich, die billigen Rohstoffe sind auch heute noch wichtig und lohnend, sie stellen aber nicht mehr den Mittelpunkt der Erscheinung des Imperialismus dar.

Das Herrschaftsinteresse bestimmt immer deutlicher das Profitinteresse; der Primat der Politik über die Öko­nomie wird integraler Bestandteil der Globalstrategie der Konterrevolution.

Im niedergehenden Kapitalismus, seit dem Ende des 1. Weltkrieges, seit der Errichtung der Diktatur des Pro­letariats in der Gestalt der Diktatur der Avantgarde in der SU, beginnt die Bedeutung des Kapitalexports we­sentlich zu sinken. In dieser Zeit schwerster ökonomischer und politischer Krisen wurde Geldkapital nur mit größ­ter Vorsicht ausgeliehen und angelegt. Insbesondere konn­ten die Länder, die die Rüstungsausgaben schon maximal gesteigert hatten, die Kapitalüberschüsse immer weniger zum Kapitalexport verwenden, weil diese gerade durch den Wiederaufbau und durch die Vorbereitungen für einen modernen Krieg aufgezehrt wurden. Neben den Kapitalexport trat daher in den 20er und 30er Jahren erneut die systematische Ausbeutung fremder Rohstoff-und Kraftstoffquellen auf erweiterter Stufe. Die moderne Kriegsindustrie verschlang riesige Rohstoffbestände, ver­schärft noch durch die wachsende Kriegsgefahr.

Außenpolitische Friktionen zwischen den Staaten ver­langten „strategische Vorkehrungen", um dem potentiel­len Feind zuvorzukommen, neue Territorien zu gewin­nen, strategisch wichtige Punkte zu besetzen, um im Falle des Krieges eine bessere Ausgangslage zu haben. Hier herrschte die Logik der Kriegsmaschine. Wettrüsten und militärische Auseinandersetzungen waren die ganz „nor­malen Folgen" einer solchen Entwicklung, die sich in ähn­licher Form nach dem 2. Weltkrieg wiederholte. Insofern haben wir nach dem 2. Weltkrieg schon auf der Grund­lage der permanenten Krise des Systems begonnen, sie war bei uns weder aufgehoben noch schon als solche sicht­bar.

Sinnlich sichtbar war sie nur für die Dritte Welt: „Allein in den letzten acht Jahren gab es nicht weniger als 164 international relevante Ausbrüche von Gewalt... Das außerordentliche daran ist, daß es sich nur bei 15 von diesen 164 ernsten Gewaltausbrüchen um militärische Konflikte zwischen zwei Staaten handelte. Und bei kei­nem der 164 Konflikte ist formell der Krieg erklärt worden . . .

Zu Beginn des Jahres 1958 waren 23 Aufstände in der Welt im Gange. Am 1. Februar 1966 gab es 40. Weiter: Die Gesamtzahl der Aufstände ist Jahr für Jahr ge­stiegen. 1958 waren es 34, 196$ waren es 58. Aber das Entscheidenste von allem ist, daß immer eine direkte und konstante Beziehung zwischen den Ereignissen der Gewalt und dem ökonomischen Status der davon be­troffenen Länder bestand. Der ökonomische Abstand zwi­schen den armen und reichen Ländern wird immer größer. Um 1970 wird ... diese hungernde Hälfte der Mensch­heit nur über ein Sechstel aller Dienstleistungen und Güter verfügen" (McNamara 1966).

Hier müssen wir begreifen, worum es geht: Es geht um die Aufrechterhaltung der amerikanischen Einflußsphären in bestimmten Teilen der Welt, es geht um die Weltvor­machtstellung der Vereinigten Staaten in diesem Gebiet.

Der Imperialismus als Gesamtsystem ist total auf dem Rückzug. Er organisiert weltweite Rückzugsgefechte, die auf jede Legitimationsbasis, und sei es die des Antikom-munismus, verzichten. Ihre einzige Legitimation - und die hat in der Tat Realitätscharakter - ist die blanke und brutale Macht, die der US-Imperialismus Tag für Tag an allen Ecken der Welt anwenden muß, um die Sozialrevolutionären Bewegungen zu zerschlagen oder sie in Gren­zen zu halten.

Der deutsche Imperialismus hat durch seine Nieder­lagen im 1. und 2. Weltkrieg entscheidenden ökonomi-sdien, politischen und ideologischen Boden verloren. Dem entsprach in widersprüchlicher Form der Zersetzungs­prozeß der revolutionären Tendenzen der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. In der falschen Alter­native Kapitalismus (freie Welt) und „Stalinismus" (die die Sozialdemokraten in der BRD nicht als falsche er­kannten) erfolgte die systematische und langanhaltende Integration der lohnabhängigen Massen in das System von Konzessionen, welches gerade den Spätkapitalismus auszeichnet.

Die langandauernde Hochkonjunktur wurde - sogar von Sozialisten - als Zeichen der mehr oder weniger widerspruchslosen Qualität des stabilisierten Kapitalis­mus falsch verstanden.

Der revolutionäre deutsche Sozialismus verschwand historisch von der politischen Bühne, um erst nach ca. 20 Jahren in einzelnen Abteilungen der Studentenschaft, einzelnen Fraktionen der Lohnabhängigen in Industrie und Verwaltung und in Gruppen von Schülern wieder geschichtliche Realität zu werden.

Die marxistische Theorie individualisierte sich, verlor damit ihren praktisch-kritischen, ihren wirklich subver-. siven Kern. Die Konzeption der Parteiorganisation als Instituts-Akademie, in der die universellen Revolutionäre sich allseitig schöpferisch ausbilden und in permanenter Wechselbeziehung zur revolutionären Praxis stehen, ver­flüchtigte sich ins Reich der utopischen Nebelbildungen.

Die Bundesrepublik am Ende des sogenannten Wirt­schaftswunders, d. h. nach der vollen Ausschöpfung der vorhandenen quantitativen und qualitativen Arbeits­kräfte- und Berufsstruktur, zeichnet sich dadurch aus, daß die hohen unproduktiven Staatsausgaben, die Sub­ventionen etc., die die sich etablierende Staatsmaschine im Laufe der Prosperitätsperiode an die Vertreter der In­teressentenbörse relativ leicht geben konnte, am Ende der Rekonstruktionsperiode des westdeutschen Kapitalismus „plötzlich" als zusätzliche, zumeist unproduktive Aus­gaben, als für die Weiterentwicklung der Ökonomie ge­fährliche Totgewichte, als „faux frais" der kapitalisti­schen Produktion erscheinen.

Die Milliarden „unrentabler Investitionen" in die Aus­bildungssphäre (Bau neuer Universitäten, Schulen, Be­rufsschulen, Ingenieursschulen etc.), die für die Schaffung einer qualitativ und quantitativ neuen Berufs- und Aus­bildungsstruktur nötig wären, sind in der jetzigen Phase des westdeutschen Kapitalismus nicht ohne inflationäre Verschärfung disponibel. Hinzu kommt die Tatsache, daß die widersprüchliche Einheit des Gesamtapparats von Oligopolen, staatlich-gesellschaftlicher Bürokratie, Par­teien, Interessenverbänden usw. durch keinen „beherr­schenden Willen" wirklich gesamtgesellschaftlich geleitet wird.

An die Stelle der Konkurrenz der privaten Eigentümer sind im Spätkapitalismus die Marktabsprachen der kor-porierten Eigentümer getreten. Dahinter liegt die Ten­denz zur Vergesellschaftung im Kapitalismus, drückt sich aber auch eine bewußtere Form des gesellschaftlichen Zu­sammenhanges der Produzenten aus. Steigende Mehr­wertraten, absolute Zunahme der beschäftigten Bevölke­rung nach der Weltwirtschaftskrise lassen auch die Mehr­wertmasse steigen.

Diese Mehrwertmasse wird für den Akkumulationsprozeß bereitgestellt. Konkrete Schranken der Akkumu­lation sind Produktionskapazität und -Proportionalität. Das akkumulationsbereite Kapital gerät in Widerspruch mit diesen Bedingungen, versucht durch technischen Fort­schritt, künstlich geschaffene Bedürfnisse, Export von Kapital etc. die Schranken zu überwinden. Der perma­nente Hunger nach Verwertungsmöglichkeiten ist der Motor der kapitalistischen Entwicklung. Insofern die Ausdehnung des äußeren Feldes der kapitalistischen Pro­duktion immer schwerer wird - die Aufteilung der Welt ist beendet, und die Dritte Welt kämpft -, wird der tech­nische Fortschritt immer mehr zum entscheidenden Ak­kumulationsfaktor. Allerdings gibt es auch hier imma­nente Schranken. Immer weniger Produktionszweige sind noch nicht voll durchindustrialisiert (Landwirtschaft!). Gewissermaßen werden immer mehr nur noch ganz neue Industrien zum bestimmenden Träger des Akkumula­tionsprozesses.

Diese neuen Industrien stehen in zunehmendem Maße Industrien gegenüber, die kapitalgesättigt sind bzw. ak­kumulationsunfähig geworden sind. Der zumeist hohe Anteil des fixen Kapitals macht akkumulationsunfähige Produktionszweige für die Dauer ihres Abbauprozesses stützungsbedürftig. Der Anstoß zu etatistischen Maß­nahmen kommt gerade von diesen bedrohten Produk­tionszweigen. Die akkumulationsunfähigen Wirtschafts­zweige drücken die ökonomischen Totgewichte der kapi­talistischen Gesellschaft aus, zeigen die objektiven Schran­ken der Akkumulation an, hemmen andererseits die „un­gestörte" ökonomische Gesamtentwicklung. Die Entfal­tung einer immer höheren Produktivität der Arbeit auf der Grundlage des technischen Fortschritts läßt den Akkumulationsfonds ständig wachsen. Die begrenzte Ver­wertungsmöglichkeit des Kapitals und die nur immer schwerer überwindbaren Schranken der Akkumulation haben notwendigerweise die verschiedensten Formen der Kapitalvernichtung zur Folge. Das Wachstum der physi­schen (Stillegungen, Vorratsvernichtung, Krieg) und funktionalen (jede Kapitalausgabe für unproduktive Zwecke, Anwachsen der unproduktiven Staatsausgaben u. a. m.) Kapitalvernichtung zeigt die „Überfälligkeit" des Systems an. Die ungeheure Steigerung der faux frais (toten Kosten) der kapitalistischen Produktion drückt die Gesamtheit der Kapitalvernichtung aus.

Die Differenz zwischen der technologisch möglichen und der faktischen Entfaltung der gesellschaftlichen Pro­duktivkräfte wird immer größer. Damit wird auch die Spannung zwischen dem möglichen Lebensstandard bei einer vollen Beseitigung der kapitalistischen Fesseln und dem faktischen Lebensstandard immer mehr vergrößert. Der kapitalistische Staat muß immer deutlicher als Regu­lator und ökonomische Potenz eingreifen, um die System­interessen systematisch durchzusetzen. „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Kon­sumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähig­keit der Gesellschaft ihre Grenze bilde" (Kapital III, S. 528).

Die Existenz stagnierender, akkumulationsunfähiger Produktionszweige (Bergbau, Landwirtschaft z. B.), die „auf Krücken gehen", subventioniert werden müssen, und der unterentwickelte Status der entscheidenden Träger des Akkumulationsprozesses in den 70er Jahren, der neuen Industriezweige Elektronik, Weltraumforschung, Flugzeugbau, Atomenergie etc. deuten auf eine lang­fristige Stagnationsperiode des westdeutschen Kapitalis­mus hin.

Die allgemeine Einschätzung der sozial-ökonomischen Situation der BRD und West-Berlins bildet die Voraus­setzung für eine politisch-strategische Diskussion über den Prozeß der bundesrepublikanischen Umwälzung im Kon­text der internationalen Auseinandersetzung zwischen Revolution und Konterrevolution.

Die „Große Koalition" als der hoffnungslose Versuch der herrschenden Oligarchien, die strukturellen Schwierig­keiten des Systems zu „lösen", stößt immer deutlicher auf objektive Schranken, muß die Strukturkrise subventio-nistisch verschleppen (siehe Subventionsbericht), bereitet damit in einem langfristigen Sinne tiefere Widersprüche vor.

Wir können sie begreifen als die neue Ordnungspartei, deren direktes Geschäft es ist, die lohnabhängigen Mas­sen in Unmündigkeit zu halten, auf sie die Kosten der Strukturkrise abzuwälzen. Marx spricht in den Ent­würfen zum „Bürgerkrieg in Frankreich" von den Auf­gaben einer solchen Form der Klassenherrschaft, daß „ihr einziger raison d'etre die Verhinderung der Emanzipa­tion der produzierenden Massen" wäre. Für Marx ist diese Form die „abscheulichste aller politischen Regimes". In ihr vereinigen sich zum Zwecke der gemeinsamen Niederhaltung der Massen heute alle Fraktionen des Ge­samtapparats, die ehemaligen Faschisten und bestimmte Sorten von Widerstandskämpfern, die staatlich-gesell­schaftliche Bürokratie, umarmen sich die liberale Bour­geoisie, die Vertreter der Monopole, die Arbeiterverräter aus den Gewerkschaften, die Sickert und Co., richten sich die Manipulationszentren, die Augstein und Springer, ein.

Zusammen bilden sie die „anonyme Aktienkompanie", den subtilen und - wenn nötig - manifesten Terrorismus der Klassenherrschaft des Spätkapitalismus. Die ver­schiedenen Fraktionen des Apparats, der Regierungs­maschine, feiern in der Großen Koalition eine „Orgie des Renegatentums". Sogenannte Widerstandskämpfer, wie Gerstenmaier, ehemalige Vertreter der verschiedenen Ar­beiterparteien, wie Brandt (SAPD), Wehner (KPD), zy­nisch gewordene Sozialdemokraten und Alt-Faschisten, wie Kiesinger & Co., steigen in das gemeinsame Bett, bis die bewußtgewordenen Massen sie für immer vertreiben werden.

Diese spätkapitalistische Grundstruktur ist integraler Bestandteil des heutigen Imperialismus.

Der heutige Imperialismus als konkrete Totalität der internationalen kapitalistischen Interessensphären bildet - stärker als früher - eine widersprüchliche Einheit, in der eindeutig die US-Interessen dominieren. Der west­deutsche Imperialismus hat wichtige Hilfsfunktionen übernommen! Er stützt seit Jahren durch den Devisen­ausgleich den US-Dollar, leistet in Taiwan und Süd­vietnam z. B. intensive ökonomische und paramilitärische Hilfe in der Form von landwirtschaftlichen Experten in Taiwan und dem sogenannten „humanitären" Dienst in Südvietnam etc.

Daneben tritt - wohl als Vehikel für eine stärkere eigene imperialistische Politik gedacht - die Zusammen­arbeit mit den afrikanischen Regierungen, deren Völker um ihre sozial-ökonomische Emanzipation zu kämpfen anfangen, mit Südafrika, Portugal und Rhodesien.

An dem Versuch der Zerschlagung der Sozialrevolutionären Bewegung in Portugiesisch-Angola, Mozambique, Sao Thome, Portugiesisch-Guinea und in Rhodesien ist der westdeutsche Imperialismus direkt beteiligt: Im März 1966 vereinbarten Lissabon und Bonn eine „bilaterale militärische Zusammenarbeit", hinzu kommt die NATO-Zusammenarbeit. Es ist bekannt, daß die Bonner Regierung im vergangenen Jahr 70 teuer gekaufte F 86 sehr billig an Portugal verkaufte, deutsche Piloten die Maschinen nach Afrika flogen, wo sie sofort zur Bekämpfung j der Befreiungsbewegungen in Angola und Mozambique eingesetzt wurden. Andere wichtige Kriegsmaterialien gehen permanent nach Afrika.

Für die Strategie des antiimperialistischen Kampfes, für die Vermittlung antiimperialistischer und antikapita­listischer Strategie scheint uns hier jede Möglichkeit ge­geben zu sein. Große Teile der Bevölkerung sind gegen die sinnlose Rüstung zu mobilisieren, besonders weil der BRD-Kapitalismus nicht mit der Rüstungsproduktion steht und fällt.

Diese Praktiken, die die lohnabhängigen Massen in der BRD zu tragen haben, könnten durch eine systematische  Entlarvung politisch verwertet werden.

Seit März 1967 befinden sich ca. 100 Offiziere und Be­rater der Bundeswehr in Rhodesien, um Counter-Guerilla-Taktiken zu vermitteln und Erfahrungen zu sammeln.

In Rhodesien ist permanent ein Aufstand der schwar­zen Massen gegen die kapitalistische weiße Minorität möglich. Uns ist es bisher nicht gelungen, diesen notwen­digen Befreiungskampf und die Bundeswehr-Hilfe agita­torisch und propagandistisch zu verwerten.

Die NATO ist die organisierte Zentrale des Imperialismus in Mittel- und Westeuropa zur Verhinderung der Emanzipation der produzierenden Massen. Innerhalb ' einer Anti-NATO-Kampagne hätten diese imperialistischen Praktiken ihren politischen Stellenwert.

Diese Kampagne ist nur sinnvoll möglich, wenn es uns überzeugend gelingt, die „nationalen" Kampagnen zu internationalisieren, die Massenaktionen, die systemati­sche Desertion und die subversive Aktion gegen Kriegs­material der NATO-Imperialisten permanent als inter­nationale Aufgabe zu praktizieren.

Der Aufbau eines eigenen revolutionären Informa­tionsnetzes ist unerläßlich und möglich, wenn wir takti­sche Zentralen (Büros) für diese Kampagne in den ver­schiedenen Ländern bilden, in denen Genossen aus den verschiedenen Ländern zusammenarbeiten. Ein prak­tischer Schritt in dieser Richtung wäre der Aufbau einer Dokumentationszentrale, und zwar über den Mißbrauch der Wissenschaften zu Kriegs- und Unterdrückungs­zwecken im Kapitalismus. Diese sollte ergänzt werden durch den Aufbau von revolutionär-wissenschaftlichen Instituten der revolutionären Jugendorganisationen, die die imperialistische Zusammenarbeit untersuchen und publizistisch verbreiten und damit helfen, antiimperiali­stische Aktionen vorzubereiten.

Diese Institute wären ein qualitativer Fortschritt, wären von größter Bedeutung für die Befreiungsbewe­gungen, für die Organisierung konkreter Solidarität (siehe NACLA-Büro für Lateinamerika). Auf gemein­samen Aktions- und Diskussionskonferenzen könnte die theoretische und praktische Kontinuität gewährleistet werden. Dieser praktische Internationalismus findet seine materialistische Begründung im internationalen Charak­ter des Kapitals und seiner Herrschaft.

Die revolutionären Jugendorganisationen haben in der Geschichte der Arbeiterbewegung in den Perioden, in denen die produzierenden Massen ihren Kampf noch nicht als unerbittlichen Klassenkampf aufgenommen hatten, immer als erste diesen notwendigen Internationa­lismus begonnen.

Der Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapi­tal im internationalen Rahmen wird nach unserer Mei­nung in der jetzigen Periode besonders stark durch den internationalen Kampf zwischen Revolution und Konter­revolution bestimmt.

Daraus folgt keine abstrakte Negation der verschiede­nen Widerspruchsebenen - genauer, der verschiedenen Ebenen in Produktion, Konsumtion und Zirkulation, in denen Widersprüche aktualisiert werden können. Es ist uns gelungen, in der Universität primär, aber auch au­ßerhalb der Universität zehntausende gegen den US-Krieg in Vietnam zu mobilisieren. Das war und ist eine Produktivkraft für die Mobilisierung von breiten Min­derheiten. In den weltweiten Demonstrationen liegt in einem antizipatorischen Sinne so etwas wie eine revolu­tionäre Globalstrategie.

Eine ungelöste Frage für die Strategie der Linken in der BRD ist die Verbreiterung des antiautoritären Lagers der Studenten, Schüler und Jugendlichen in die Richtung der die materielle Produktion tragenden Industrie­arbeiterschaft, ist die Frage nach der Revolutionierbar-keit von Gruppen, Schichten, Abteilungen, Fraktionen und Elementen der lohnabhängigen Massen. Daß un­sere Aktionen eine ständige Infragestellung der Macht der Herrschenden darstellen und für die beherrsch­ten Produzenten Beispielcharakter tragen können, scheint uns unbestreitbar. Daß die Arbeiter, Lehr­linge, Angestellten, Schüler etc. in ihren und unseren Aufklärungsveranstaltungen und besonders in den Aktionen gegen die autoritäre staatliche Ge­waltmaschine antiautoritäre Verhaltensweisen lernen, ist eindeutig - auch und gerade für die noch unerkannten und noch nicht politisierten Widersprüche in der eigenen autoritären Institutionstotalität -, ob nun Betrieb oder Verwaltung, ob Kirche oder Wohnblock . . .

Ein wirkliches Kettenglied - und der Streik in Hanau weist darauf hin - sind noch immer besonders die aus­ländischen Arbeiter, die unter unmenschlichen Bedingun­gen Mehrwert produzieren. Diese disponible Reserve­armee des westdeutschen Kapitalismus ist darum sub­versiv, weil sie die lebendige internationale materialisti­sche Basis der Revolution für Europa konkret vermittelt, wenn auch in widersprüchlicher Form. Ihre politische Mobilisierung, Organisierung und Revolutionierung ist auch eine direkte Produktivkraft der Revolution in den anderen Ländern. Und die griechischen, spanischen und portugiesischen Faschisten haben Angst vor der Rückkehr organisierter revolutionärer Massen ihres eigenen Lan­des. Materialistisch vermittelt ist das durch die sozial­ökonomische Situation der Länder, die die Arbeiter nicht mehr absorbieren können. Wir haben zu diesen Arbeitern  zu gehen, zu lernen, zu erklären, zu organisieren und uns als bürgerliche Intellektuelle zu negieren.

Das gilt gleichermaßen für unsere unerläßliche Arbeit besonders unter den durch die Strukturkrise betroffenen Fraktionen der Arbeiterschaft in den stagnierenden Pro­duktionszweigen, wie z. B. im Ruhrgebiet. Der Mythos von der NPD im Ruhrgebiet ist der Mythos der Herr­schenden. Die historische Funktion.des Faschismus war, die proletarische Revolution zu verhindern. Die NPD hat diese Chance nicht mehr.

Der heutige Faschismus steckt in den autoritären In­stitutionen und im Staatsapparat. Den letzteren zu spren­gen ist unsere Aufgabe, und daran arbeiten wir. Dazu gehört die entschlossene und dauerhafte Mobilisierung und Organisierung der Massen an allen Orten, primär jetzt im Ruhrgebiet. Dazu gehört die immer dringender werdende solidarische Zusammenarbeit mit den Einzel­gewerkschaften, die entschlossen sind, einem Lohnstopp mit allen Mitteln politisch und ökonomisch entgegenzu­treten, nicht die Große Koalition der Parasiten und Blut­egel zu vervollständigen. Wir kämpfen für eine antiauto­ritäre und damit antifaschistische Einheitsfront aller Gruppen, Organisationen und Individuen aus allen Sphä­ren der Gesellschaft - mit dem Ziel, eine antiautoritäre, d. h. freie Gesellschaft, direkte Herrschaft der Produzen­ten über die Produktionsmittel zu erkämpfen. Das allein wäre die Auflösung und Vernichtung der Widersprüche des Kapitals, wäre die freie revolutionäre und sozialisti­sche Gesellschaft!

Die historische Aufgabe des Spätkapitalismus ist es, die Massen in ein funktional im Interesse der Herrschen­den reagierendes Kollektiv zu verwandeln, sie jederzeit für militärische und zivile Zwecke verwertbar und ein­setzbar zu halten. Gerade diese entscheidende Aufgabe kann er in der BRD immer weniger erfüllen. Die kultur­revolutionäre Übergangsperiode, die spätestens seit dem 2. Juni 1967 relevante Schichten innerhalb und auch au­ßerhalb der Universität mobilisierte, kann „nur" noch durch brutalsten Repressionseinsatz beendet werden!

Systematisch wichtig für eine Sozialrevolutionäre Stra­tegie müßte sein, zu begreifen, daß das System des Spät­kapitalismus nicht auf eine aktive, selbsttätige Massen­basis zurückgreifen kann. Das System hat zwar eine Massenbasis, aber diese ist passiv und leidend, ist unfähig, politischen und ökonomischen Herausforderungen von sich aus spontan zu begegnen. Der heutige Faschismus ist nicht mehr manifestiert in einer Partei oder in einer Per­son, er liegt in der tagtäglichen Ausbildung der Menschen zu autoritären Persönlichkeiten, er liegt in der Erziehung, kurz, er liegt im bestehenden System der Institutionen.

Das System des Spätkapitalismus ist mehr denn je eine Minderheitsherrschaft, zusammengehalten durch die widersprüchliche Einheit des Gesamtapparats, bestehend aus der staatlich-gesellschaftlichen Bürokratie und den Vertretern der Oligopole. Die tagtägliche Mobilisierung der gesamten Gesellschaft gegen die Idee der sozialen Be­freiung von zusätzlicher und überflüssiger Arbeit und Herrschaft versucht, die Menschen geistig und biologisch zu passiven Signalempfängern zu machen. Unter diesen Verhältnissen wird der Rückgriff auf den traditionellen Massenbegriff der 20er Jahre strategisch und taktisch falsch. Die Herrschenden können nicht von heute auf morgen gegen uns in der BRD Hunderttausende mobili­sieren. Der widersprüchliche Gesamtapparat kann es sich heute nicht einmal mehr leisten, die Massen für sich zu mobilisieren, könnte doch dadurch in letzter Konsequenz auch Hand an die Herrschaft des Apparats gelegt werden.

Ganz im Gegensatz dazu ist es uns revolutionären So­zialisten heute in der Bundesrepublik möglich geworden, durch ein System der systematischen Vermittlung von Aufklärung und Aktion eine durchaus schon massenhafte Mobilisierung zu erreichen.

Die weltgeschichtliche Rolle und Funktion der viet­namesischen Revolution ist dabei evident. Die Aggression der Vereinigten Staaten von Nordamerika war unüber­sehbar. Sie geschah zu einem Zeitpunkt in brutal-offener Form, als die vielfältigsten Mechanismen der „Einfluß­nahme" nicht mehr ausreichten, um den Sieg der revolu­tionären Befreiungskräfte in Südvietnam zu verhindern. Das historische Pech des US-Imperialismus bestand nun gerade darin, daß er seine einzige „Legitimationsbasis", die antikommunistische Ideologie, abbauen mußte, um die Niederschlagung der Sozialrevolutionären Befreiungs­bewegungen überhaupt noch unter antikommunistischer Fahne zu ermöglichen. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn wir begreifen, daß die Anerkennung der Koexistenz-Ideologie der Sowjetunion durch den Impe­rialismus geschah, um wenigstens in Mittel- und West­europa eine „ruhige Zone" des Systems zu erhalten, um einen „freien Rücken" für die kurzfristige und effektive Zerschlagung der revolutionären Bewegung der Dritten Welt zu erhalten.

Die historische „Schuld" der Sowjetunion besteht in dem völligen Versagen, diese Strategie des Imperialismus zu begreifen und subversiv-revolutionär zu beantworten.

Die sich von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr steigernde Aggression des US-Imperialismus in Vietnam materialisierte sich in den hochentwickelten kapitalisti­schen Ländern als „abstrakte Gegenwart der Dritten Welt in den Metropolen" (O. Negt), als geistige Produktiv­kraft im Bewußtwerdungsprozeß über die Antinomien der heutigen Welt.

Die weltgeschichtliche Bedeutung des Kampfes des viet­namesischen Volkes, die exemplarische Bedeutung dieser Auseinandersetzung für die folgenden Kämpfe gegen den Imperialismus standen schon sehr früh im Mittelpunkt der Vietnam-Diskussionen. Daß aber dieser entscheidende Aspekt ins studentische Bewußtsein und nun auch partiell ins Bewußtsein der lohnabhängigen Massen gelangt, scheint uns seine materialistische Begründung in dem spezifischen Produktionsverhältnis der studentischen Pro­duzenten zu haben. Wir haben als Studenten - wenn auch von Fakultät zu Fakultät verschieden - innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion soziologisch eine Zwischenlage. Auf der einen Seite sind wir eine geistig und ausbildungsmäßig privilegierte Fraktion des Volkes, aktuell bedeutet dieses Privileg im Grunde aber nur Frustration. Frustration darum, weil der sich ausbildende Student, besonders der politisch engagierte, tagtäglich den Idiotismus der Politikaster-Cliquen der irrationalen Autoritäten kritisch und manchmal auch sinnlich mit­erlebt. Hinzu kommt, daß diese antiautoritären Studen­ten noch keine materiell gesicherten Positionen der Ge­sellschaft übernommen haben, sie von Machtinteressen und Machtpositionen noch relativ weit entfernt sind. Diese temporäre Subversiv-Stellung der Studenten bringt eine dialektische Identität der unmittelbaren und histori­schen Interessen der Produzenten hervor. Die vitalen Be­dürfnisse und Interessen nach Frieden, Gerechtigkeit und Emanzipation können sich daher in diesen soziologischen Positionen am ehesten materialisieren. Wirkliche Virulenz entfalteten sie aber erst, als die Studenten durch den anti­autoritären Kampf im eigenen Institutsmilieu Universi­tät gegen die dortige Bürokratie sich politisierten, ent­schlossener in der politischen Auseinandersetzung um ihre Interessen und Bedürfnisse kämpften. Die unmittelbare Beziehung des studentischen Produzenten zu seinem Aus­bildungsmilieu darf nicht vergessen werden. Seine Lern­situation an der Universität ist bestimmt von der Dikta­tur der inflationär ansteigenden Prüfungen und von der Diktatur der Ordinarien. Die Professoren wiederum sind Diener des Staates. Die heutige Verstaatlichung der gan­zen Gesellschaft bildet die Basis für ein Verständnis des antistaarlichen und antiinstitutionellen Kampfes der radikalen außerparlamentarischen Opposition.

Dadurch verlor Vietnam viel von seiner scheinbaren Abstraktheit. Die produktive Vermittlung der unmittel­baren und der historisch-emanzipatorischen Interessen der antiautoritären Studenten kann nur in der Auseinander­setzung, im politischen Kampf geschehen. Die Restrik­tionspolitik der universitären Bürokratie, die brutalen Einsätze der Westberliner Bürgerkriegsarmee bei den verschiedenen Demonstrationen, die langandauernde per­manente Aufklärung über die gesellschaftlichen Wider­sprüche, die systematisch die Spielregeln der bürgerlichen Gesellschaft „verletzenden" Aktionsformen und der da­bei stattfindende Lernprozeß schufen die antiautoritäre Einstellung.

Sie entfaltet sich im Kampf um neue radikale Bedürf­nisse, um das Ziel, die Totalität der die Menschen von langer Arbeitszeit, Manipulation und Elend befreienden Produktivkräfte endlich von den Fesseln des Kapitals und der Bürokratie zu befreien, sie mit allen Mitteln end­lich der bewußten Kontrolle zu unterwerfen, einen neuen Menschen zu schaffen.

Geben wir uns aber keinen Illusionen hin.

Das weltweite Netz der organisierten Repression, das Kontinuum der Herrschaft, läßt sich nicht leicht aufsprengen. Der „neue Mensch des 21. Jahrhunderts" (Guevara, Fanon), der die Voraussetzung für die „neue Gesellschaft" darstellt, ist Resultat eines langen und schmerzlichen Kampfes, kennt ein sehr schnelles Auf und Ab der Bewegung; temporäre Aufschwünge werden durch nicht zu umgehende „Niederlagen" abgelöst werden. Unsere kulturrevolutionäre Ubergangsphase ist im „klas­sischen" Verständnis der Revolutionstheorie eine vor­revolutionäre Phase, in der Personen und Gruppen sich noch manchen Illusionen, abstrakten Vorstellungen und utopistischen Projekten hingeben, ist eine Phase, in der der radikale Widerspruch zwischen Revolution und Kon­terrevolution, zwischen der herrschenden Klasse in ihrer neuen Form und dem Lager der Antiautoritären und Unterprivilegierten noch nicht konkret und unmittelbar sich auszutragen beginnt. Was für Amerika schon ein­deutig Realität ist, hat auch schon für uns mit gewissen Modifikationen große Bedeutung: „Es ist keine Zeit nüch­terner Reflexion, sondern eine Zeit der Beschwörung. Die Aufgabe der Intellektuellen ist mit der des Organisators der Straße, mit der des Wehrdienstverweigerers, des Diggers identisch: mit dem Volke zu sprechen und nicht über das Volk. Die prägende Literatur jetzt ist die Underground-Literatur, sind die Reden von Malcolm X, die Schriften Fanons, die Songs der Rolling Stones und von Aretha Franklin. Alles übrige klingt wie der Moynihan-Report oder ein ,Time'-Essay, die alles er­klären, nichts verstehen und niemanden verändern" (A. Kopkind, Von der Gewaltlosigkeit zum Guerilla-Kampf, in: Voltaire-Flugschriften Nr. 14, S. 24/25). Wir haben noch keine breite kontinuierliche Untergrundliteratur, es fehlen noch die Dialoge der Intellektuellen mit dem Volk, und zwar schon auf dem Standpunkt der wirklichen, d. h. der unmittelbaren und historischen Interessen des Volkes.

Es gibt den Beginn einer Desertionskampagne in der amerikanischen Besatzungsarmee, es fehlen aber noch die organisierten Desertionskampagnen in der Bundeswehr. Wir wagen es schon, den amerikanischen Imperialismus politisch anzugreifen, aber wir haben noch nicht den Willen, mit unserem eigenen Herrschaftsapparat zu bre­chen, militante Aktionen gegen die Manipulationszentren, z. B. gegen die unmenschliche Maschinerie des Springer- Konzerns, durchzuführen, unmenschliche Kriegsmaschine­rie zu vernichten.

Genossen! Wir haben nicht mehr viel Zeit.

In Vietnam werden auch wir tagtäglich zerschlagen, und das ist nicht ein Bild und ist keine Phrase. Wenn in Vietnam der US-Imperialismus überzeugend nachweisen kann, daß er befähigt ist, den revolutionären Volkskrieg erfolgreich zu zerschlagen, so beginnt erneut eine lange Periode autoritärer Weltherrschaft von Washington bis Wladiwostok. Wir haben eine historisch offene Möglich­keit. Es hängt primär von unserem Willen ab, wie diese Periode der Geschichte enden wird. „Wenn sich dem Viet-Cong nicht ein amerikanischer, europäischer und asiati­scher Cong zugesellt, wird die vietnamesische Revolution ebenso scheitern wie andere zuvor. Ein hierarchischer Funktionärsstaat wird die Früchte ernten, die er nicht gesät hat" (Partisan Nr. 1, Vietnam, die Dritte Welt und der Selbstbetrug der Linken, Berlin 1967).

Und Frantz Fanon sagt für die Dritte Welt: „Los, meine Kampfgefährten, es ist besser, wenn wir uns sofort entschließen, den Kurs zu ändern. Die große Nacht, in der wir versunken waren, müssen wir abschütteln und hinter uns lassen. Der neue Tag, der sich schon am Hori­zont zeigt, muß uns standhaft, aufgeweckt und entschlos­sen antreffen" (Die Verdammten dieser Erde, Suhrkamp 1966, S. 239).

Laßt uns auch endlich unseren richtigen Kurs beschleu­nigen. Vietnam kommt näher, in Griechenland beginnen die ersten Einheiten der revolutionären Befreiungsfront zu kämpfen. Die Auseinandersetzungen in Spanien spit­zen sich zu. Nach 30 Jahren faschistischer Diktatur ist in der Einheitsfront der Arbeiter und Studenten eine neue revolutionäre Kraft entstanden.

Die Bremer Schüler haben angefangen und gezeigt, wie in der Politisierung unmittelbarer Bedürfnisse des All­tagslebens - Kampf gegen Fahrpreiserhöhungen - sub­versive Sprengkraft entfaltet werden kann. Ihre Solidari­sierung mit den lohnabhängigen Massen, die richtige Be­handlung der Widersprüche und die Auseinandersetzun­gen mit der autoritär-militaristischen Polizei zeigen sehr deutlich, welche großen Möglichkeiten des Kampfes im System des Spätkapitalismus liegen. An jedem Ort der Bundesrepublik ist diese Auseinandersetzung in radikaler Form möglich. Es hängt von unseren schöpferischen Fähigkeiten ab, kühn und entschlossen die sichtbaren und unmittelbaren Widersprüche zu vertiefen und zu politi­sieren, Aktionen zu wagen, kühn und allseitig die Initia­tive der Massen zu entfalten. Die wirkliche revolutionäre Solidarität mit der vietnamesischen Revolution besteht in der aktuellen Schwächung und der prozessualen Um­wälzung der Zentren des Imperialismus. Unsere bisherige Ineffektivität und Resignation lag mit in der Theorie.
Die Revolutionierung der Revolutionäre ist so die ent­scheidende Voraussetzung für die Revolutionierung der Massen.

Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie Gesellschaft freier Individuen!

 

Editorische Hinweise

Internationaler Vietnam-Kongreß 17.18.Februar 1968 Westberlin, Dokumentation, herausgegeben vom SDS Westberlin und dem Internationalen Nachrichten und Forschungs-Institut (INFI) - Redaktion Sybille Plogstedt, Westberlin 1968,  S.107-124

Ursprünglich eingeladen unter der Bezeichnung Vietnam-Konferenz, wurde dieses Meeting fortan an als "Kongress" bezeichnet.