Kant
Der preußische Staat und die klassische Literatur

von Franz Mehring

02/2018

trend
onlinezeitung

Etwas später als unsere klassische Literatur begann sich unsere klas­sische Philosophie zu entwickeln. Ihr erster Vertreter war Immanuel Kant (1724-1804), der als der Sohn eines Sattlers in Königsberg geboren wurde. Von seinem Leben ist wenig zu berichten; es war ein einförmiges und ein­töniges Gelehrtendasein, das sich ganz innerhalb des damaligen deutschen Spießbürgertums abspielte; über das Weichbild seiner Vaterstadt ist Kant nie hinausgekommen, bis auf einige Jahre, die er als Hauslehrer auf ost­preußischen Gütern verlebte.

Kant war durchaus eine unsoziale Natur, unsozial in dem Sinne, daß ihm jede Form des Gemeinschaftslebens zuwider war bis auf die Ehe und Familie. Politische und nationale Interessen lagen ihm völlig fern; er hul­digte seinem angestammten Könige ebenso untertänig wie der Zarin Elisa­beth, nachdem russische Truppen im Siebenjährigen Kriege Königsberg besetzt hatten. Als er am Abend seines Lebens noch von der preußischen Zensur behelligt wurde, focht er diesen Konflikt keineswegs mannhaft aus.

Ein Philister durch und durch in seinem persönlidien Leben, war Kant ein bedeutender Gelehrter, der die Geschichte der Wissenschaften nament­lich durch drei große Leistungen bereichert hat. So hoffnungslos die Ver­suche sind, ihn als einen „zeitlosen" Denker hinzustellen, der heute noch nicht überwunden sei und niemals überwunden werden könne, so töricht wäre es, ihm für seine Zeit eine bahnbrechende Bedeutung abzusprechen. Sein erstes unvergessenes Verdienst erwarb er sich durch seine Allgemeine Naturgeschichte, worin er die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes abzuhandeln unternahm. Er wies darin die Ent­stehung der Sonne und aller Planeten aus einer rotierenden Nebelmasse nach und gab damit einen folgenreichen Anstoß.

Diese erste Schrift Kants erschien bereits im Jahre 1755. Ein Viertel­jahrhundert später, im Jahre 1781, veröffentlichte er seine „Kritik der reinen Vernunft", durch die er eine befreiende Tat vollbrachte. Er zer­trümmerte die dogmatische Philosophie, die an deutschen Universitäten aufgewuchert war, zur Zeit, wo in den westeuropäischen Kulturvölkern mit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise die materiali­stische Weltanschauung neu erwacht war und namentlich in Frankreich glänzende Schlachten gegen den höfischen, feudalen und klerikalen Despo­tismus schlug. Die dogmatische Philosophie war nichts anderes als eine verkappte Theologie, ja sie war noch gemeingefährlicher als die echte und offene Theologie, die einfach verlangte, daß an Gott und Unsterblichkeit geglaubt werden müsse, ohne Prüfung des Verstandes, während die dogma­tische Philosophie durch angeblich vernünftige Gründe beweisen wollte, was außerhalb der menschlichen Erkenntnis liegt. Kant selbst hatte in sei­nen jungen Jahren dieser Philosophie gehuldigt, aber der englische Skep­tizismus, eine Philosophie, die überhaupt an der Erkennbarkeit der Dinge zweifelte, erregte in ihm Bedenken, die ihn dann dazu führten, die Gren­zen des menschlichen Erkenntnisvermögens zu prüfen.

Der Kern seiner neuen Lehre bestand darin, daß die ganze Erschei­nungswelt, wie wir sie mit unseren Sinnen und unserem Verstände auf­fassen, vollständig durch die Einrichtung unserer Sinne und unseres Ver­standes bestimmt werde und daß wir daher das wahre Wesen der Dinge (das „Ding an sich") nicht erkennen könnten, daß aber unsere Erkenntnis deshalb doch keineswegs wertlos und zweideutig, sondern vielmehr durch unabänderliche Gesetze geregelt, notwendig und von unserem Wesen un­zertrennlich sei. Diese empirische Erkenntnis (Erkenntnis durch Erfah­rung) ist die einzige Art, wie wir von den Dingen überhaupt etwas er­fahren, wenn sie uns auch die Dinge nicht so zeigt, wie sie sind, sondern wie der Mensch sie vermöge seiner Organisation notwendig sehen muß. Die Philosophie, die diese Schranken übersteigen will, gerät notwendig in Irrtümer, so namentlich, wenn sie beweisen will, daß unseren Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit eine außerhalb liegende Wirklichkeit entspricht. Die Zertrümmerung der dogmatischen Philosophie, die Kant auf diese Weise vollzog, war ein großer historischer Fortschritt, aber seine Erkennt­nistheorie war an sich keineswegs neu. Ihr Grundgedanke, daß wir die Dinge nicht erkennen, wie sie sind, sondern wie sie unseren Sinnen er­scheinen, war lange vor Kant von anderen Philosophen, ja schon von den Denkern des griechischen Altertums ausgesprochen worden; eigentümlich war nur die Nutzanwendung, die Kant aus dem Gedanken zog, daß wir die Welt nicht unmittelbar erkennen, sondern nur durch unsere unvoll­kommenen Sinne. Er vernichtete dadurch den Anspruch der dogmatischen Philosophie, auf vernünftigem Wege das Dasein Gottes, der Freiheit und der Unsterblichkeit zu beweisen, aber er tat es aus einem Grunde, den er ganz offen mit den Worten aussprach: Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen. Wenn er in seiner „Kritik der rei­nen Vernunft" Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zur Vordertür hinaus­spedierte, so spedierte er sie in seiner „Kritik der praktischen Vernunft" zur Hintertür wieder hinein. Er sagte nämlich: Wenn wir die „Dinge an sich" auch nicht erkennen können, so müssen wir sie uns denken können, und da bringt die praktische Vernunft, die über der reinen Vernunft steht, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als notwendige Forderungen hervor.

Soweit Kant mit seinem „Ding an sich" nur einen Grenzbegriff setzen, soweit er nur sagen wollte: Es gibt eine Grenze der menschlichen Er­kenntnis, der menschliche Geist wird niemals alle Geheimnisse der Natur erschließen, mag er noch so riesige Fortschritte in der Erkenntnis der Na­tur machen, so ist dagegen nichts einzuwenden. Das haben auch viele andere Leute gesagt, zum Beispiel Goethe. Soweit aber Kant mit seinem „Ding an sich" eine allgemeine Begrenztheit alles menschlichen Wissens behaupten wollte, um dem Glauben größeren Platz zu verschaffen, hat seine Erkenntnistheorie nur historische, aber nichts weniger als allgemein­gültige Bedeutung.

Kant schloß an seine Forderung, daß Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, wenn nicht erkannt, so doch gedacht werden könnten, seine Sittenlehre, seine Ethik an. In ihr ist es ihm nach seinem eigenen Worte nicht darum zu tun, Gründe anzugeben von dem, was geschieht, sondern Gesetze von dem, was geschehen solle, ob es gleich niemals geschehe. Diese Gesetze erfindet Kant nun aus freier Faust, wenn auch beeinflußt von der Halb-schlächtigkeit der bürgerlichen Aufklärung, wie sie in Deutschland herrschte.

Mit einem Fuße steht Kants Ethik noch auf dem Boden der christ­lichen Religion: Seine Lehre von dem radikal Bösen der Menschennatur war weiter nichts als das theologische Dogma von der dem Menschen an­geborenen Erbsünde, und ebenso war sein kategorischer Imperativ, das heißt die unbedingte Gültigkeit des Sittengesetzes, dessen Befehlen sich niemand entziehen dürfe, den mosaischen Zehn Geboten entlehnt, mit ihrer imperativen, das heißt befehlenden Form: Du sollst. Kant meinte, eine Handlung des Menschen habe erst dann echten moralischen Wert, wenn sie lediglich aus Pflicht und bloß um der Pflicht willen geschehe, ohne irgendeine Neigung zu ihr. Der Wert eines Charakters hebe erst dann an, wenn jemand ohne Sympathie des Herzens, kalt und gleichgültig gegen die Leiden anderer, und nicht eigentlich zum Menschenfreunde geboren, doch bloß der leidigen Pflicht wegen Wohltaten spende. So daß ein Geiz­hals, der sich einen Pfennig Almosen für einen Bettler abringt, tugendhaft handelt, nicht aber ein Arbeiter, der dem Wohle seiner Klasse in begei­sterter Hingebung Gesundheit und Leben opfert. Diese richtige Philister­schrulle ist denn auch selbst von Kants Bewunderern Schiller und Schopen­hauer weidlich verspottet worden.

Mit dem anderen Fuße steht Kants Ethik allerdings auf dem Boden der Französischen Revolution, zu der er sich auch noch nach ihrer Schrek-kenszeit bekannt hat, wenngleich er auch hier nicht von dem Widerspruche frei ist, grundsätzlich das Recht des Widerstandes gegen den Despotismus zu verwerfen. Gerade der Satz, wegen dessen Kant von seinen unbeding­ten Bewunderern als „der wahre und wirkliche Urheber des deutschen Sozialismus" gepriesen wird, gehört durchaus dem Gedankenkreise der Französischen Revolution an. Dieser Satz lautet: Handele so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person jedes anderen jeder­zeit zugleich als Zweck, nie bloß als Mittel gebrauchst. Für den historischen Blick ergibt sich dieser Satz Kants sofort als der ideologische Ausdruck der ökonomischen Tatsache, daß die Bourgeoisie, um ein für ihre Zwecke taugliches Ausbeutungsobjekt zu erlangen, die Arbeiterklasse nicht bloß als Mittel gebrauchen, sondern auch als Zweck setzen, das heißt sie im Namen der Menschenfreiheit und Menschenwürde von den feudalen Fes­seln der Erbuntertänigkeit und Leibeigenschaft befreien mußte. Anders hat es Kant auch gar nicht gemeint, denn er forderte volle Freiheit und Selbständigkeit nur für die Staatsbürger, aber nicht für die Staatsgenossen, zu denen er die ganze arbeitende Klasse rechnete, die Gesellen bei einem Handwerker oder einem Kaufmann, die privaten Dienstboten und Tage­löhner, auch alle Frauenzimmer, und nicht zuletzt die Bauern, die doch die bürgerliche Revolution befreien mußte und auch befreit hat.

Kants Ethik war schon bei ihrem Erscheinen mehr oder weniger histo­risch überholt. Für die Gegenwart genügt es zu sagen, daß ihre engen und kleinen Maßstäbe nicht entfernt an die großen sittlichen Forderungen des proletarischen Klassenkampfes heranreichen.

Dagegen hat sich Kant noch ein großes Verdienst erworben durch seine Begründung der modernen Ästhetik. Zwischen die Erscheinungswelt, die den menschlichen Willen den Gesetzen der Natur unterwirft, das Reich dessen, was ist, und die moralische Welt, worin der freie Wille des Men­schen herrscht, das Reich dessen, was sein soll, stellte er in seiner Kritik der Urteilskraft als verbindendes Glied das Reich der Kunst.

Hatte die bisherige Ästhetik die Kunst auf die platte Nachahmung der Natur verwiesen oder sie mit der Moral verquickt oder sie als eine ver­hüllende Form der Philosophie betrachtet, so wies sie Kant als ein eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit nach, in einem tief durch­dachten, ebendeshalb auch künstlich konstruierten, aber an freien und weiten Ausblicken reichen System.

Quellen. Eine historisch-kritische Darstellung des preußischen Despotismus in seinem Zusammenhange mit der klassischen Literatur bei Mehring: Die Lessing-Legende, herausgegeben im Stuttgarter Parteiverlage. Eine Darstellung der klassi­schen Literatur und Philosophie vom historisch-materialistischen Standpunkte fehlt leider noch. Mehring: Schiller, im Leipziger Parteiverlage. Aus Mangel an eingehen­derer Darstellung sei auch hingewiesen auf Mehring: Johann Gottfried Herder, Neue Zeit 22, 321 ff., und „Immanuel Kant", ebenda 22, 553 ff. sowie „Kant und Marx", ebenda 22, 658 ff. (Erinnerungsartikel zu den hundertsten Todestagen Herders und Kants.) Eingehend kritisiert das nationale und das soziale Königtum der Hohen-zollern Maurenbrecher: Die Hohenzollern-Legende, im Verlage des Vorwärts. Die beiden Bände enthalten viel Material, namentlich aus den Schriften der Schmoller-schen Schule, doch handhabt der Verfasser die historisch-materialistische Methode noch unsicher.

Editorischer Hinweis

Der Text wurde entnommen aus: Franz Mehring, Gesammelte Werke, Band 5, Zur deutschen Geschichte, Berlin, 1964, S. 70-78