In
Nordafrika ist die soziale Situation derzeit nicht
allein in Tunesien aufgewühlt. Auch wenn Marokko
und Algerien nicht so stark wie Tunesien von den
Umbrüchen betroffen waren, die sich soeben zum
siebten Mal jährten, so waren doch auch diese
Länder damals auf unterschiedliche Weise
einbezogen: In Algerien gab es in der zweiten
Januarwoche 2011 massive Riots infolge der
Preisanhebung für Grundbedarfsgüter. Infolge ihrer
Rücknahme brachen die Unruhen jedoch ab, und
Versuche zur Politisierung des Protests gegen die
Regierung führten nicht zum Erfolg. Ab Februar 2011
fanden auch in Marokko Massenproteste statt, dabei
wurden vor allem demokratische Reformen gefordert.
Diese „Bewegung des 20. Februar“ führte zu einer
neuen, weniger autoritären Verfassung, die am 1.
Juli jenes Jahres per Referendum angenommen wurde,
jedoch nicht zum Regimewechsel. Die Monarchie blieb
intakt, auch wenn auf parlamentarischer Ebene
vormalige Oppositionsparteien in die
Regierungsbildung einbezogen wurden. Die wahre
Macht bleibt beim Königshaus, das mit seinen
Investmentfonds und Beteiligungen auch als
stärkster inländischer Einzelkapitalist agiert.
Auch heute durchziehen gesellschaftliche
Auseinandersetzungen nicht nur Tunesien, wo die
Regierung mit einer Mischung aus Repression und –
am Wochenende des 12./13. Januar 18 verkündeten -
sozialen Zugeständnissen (wie etwa Wohnbeihilfen
für ärmere Familien) reagierte, sondern finden auch
in den beiden westlich gelegenen maghrebinischen
Nachbarländern statt.
Heute wird Marokko seit einem guten halben Jahr
durch eine sehr heterogene Sechs-Parteien-Koalition
regiert. Stärkste Einzelpartei darin ist die
islamistische „Partei für Gerechtigkeit und
Entwicklung“ – der PJD -, die jedoch ihrerseits
tief gespalten ist: Die Anhänger des von 2011 bis
2016 regierenden PJD-Premierministers Abdelilah
Benkirane trachten danach, den wesentlich
moderateren aktuellen Regierungschef und
„Parteifreund“ Saad-Eddine El Othmani zu stürzen.
Auf sozialer und gesellschaftspolitischer Ebene ist
es vor allem das öffentliche Bildungswesen, welches
im Zentrum von Konflikten steht. Am 14. Februar
werden die Beschäftigten dort auch durch die
Gewerkschaftsvereinigung CDT zu einem Streik
aufgerufen. Bei der Confédération démocratique du
travail handelt es sich um einen der bedeutenderen
Dachverbände im Land. Er stand historisch der
Sozialdemokratie in Gestalt der USFP –
Regierungspartei von 1998 bis 2011 – nahe,
unterstützt jedoch seit 2006 eine
linkssozialdemokratische Abspaltung von ihr, der
Kleinpartei Ittihadi.
Das öffentliche Bildungswesen befindet sich im
Umbruch. Grundsätzlich würde dies auch Not tun.
Denn im Schulsystem liegt Vieles im Argen. 400.000
Kinder und Jugendliche brechen alljährlich die
Schule vorzeitig ab, und 2013 erklärte der damalige
Bildungsminister Rachid Belmokhtar, 76 Prozent von
ihnen blieben nach vier Jahren Grundschule
Analphabeten. Die öffentlichen Schulen sind
chronisch unterfinanziert und wurden lange Zeit vom
Staat vernachlässigt. Unter der alten Monarchie von
Hassan II. (Regent von 1961 bis 1999) war ein
miserables Bildungsniveau durchaus politisch
erwünscht - da man an der Spitze befürchtete, seine
Anhebung gefährde Obrigkeitsgläubigkeit und ein
dumpfes Religionsverständnis, die beide aufrecht
erhalten bleiben sollten. Heute sind solche
Zustände jedoch eher kontraproduktiv. Marokko
verzeichnet ein Wirtschaftswachstum von 8 Prozent
pro Jahr. Internationale Unternehmen siedeln dort
Call Centers an, deren Mitarbeiter korrekt
Französisch (oder Englisch) sprechen sollten,
nordamerikanische und andere Banken benutzen
Marokko als Sprungbrett für den afrikanischen
Kontinent. Da braucht es ein leidlich ausgebildetes
Personal.
Die Frage ist nur, wohin die Reise bei der
angekündigten Reform geht. Am 04. Januar
verabschiedete das Kabinett einen Umbauplan, der
bis 2030 laufen soll und derzeit noch vage gehalten
ist, jedoch in ein Gesetz münden soll. Zunächst
verkündete die Regierung einige Aspekte, die in
Wirklichkeit nicht im Zentrum der Umgestaltung
stehen: Allmorgendlich sollen die Schüler die
Nationalhymne singen, und die Lehrer sollen künftig
stärker angehalten sein, „korrekte Kleidung“
tragen. Französisch soll ab der ersten und Englisch
ab der siebten Klasse unterrichtet werden. Die
Einschulung soll in Zukunft mit fünf statt mit
sechs Jahren erfolgen, und es soll bessere
Schulbücher geben. Dies ist jedoch nicht die
Hauptsache.
Im
Zentrum steht nämlich das Vorhaben, den zumindest
theoretisch kostenlosen Schul- und Hochschulzugang
– derzeit gibt es allerdings Einschreibegebühren –
zu kippen, jedenfalls ab der Oberstufe. Dies
sickerte längst durch, auch wenn die Regierung in
der Öffentlichkeit das Gegenteil versichert, wobei
sie verdächtigerweise gleich hinzufügt, für ärmere
Familie solle es einen Ausgleichsfonds geben.
Begründet wird das faktisch auf der Agenda stehende
Vorhaben dadurch, es gelte, die Reichen zur Kasse
zu bitten, die unverdienterweise durch einen
kostenlosen Bildungszugang „von einer nationalen
Solidarität profitieren“. Dieses Argument kam
bereits 2012 vom damaligen Hochschulminister Lahcen
Daoudi (PJD). Es ist allerdings heuchlerisch, denn
reiche Familien schicken ihre Sprösslinge ohnehin
auf Privatschulen und –universitäten, um die
Bildungsmisere zu umgehen. In Wahrheit geht es
darum, die Mittelklassen verstärkt zur Kasse zu
bitten, während Schüler aus ärmeren Schichten vom
Abitur und Studium ausgeschlossen zu werden drohen.
Zugleich sollen verstärkt private
Wirtschaftsinteressen durch public-private
partnerships ins Bildungswesen Einzug
halten, und Schulen oder Hochschulen sollen ihre
eigene Lehrkräfte mit befristeten privatrechtlichen
Arbeitsverträgen rekrutieren können.
Dieses
Vorhaben ist sozialpolitisch explosiv. Ebenso ist
es in Algerien der Regierungsplan,
Krankenhausärzten künftig ihre Freistellung vom
Armeedienst zu entziehen. Diese Entbindung vom
Militärdienst wurde ihnen in den 1990er Jahre
zugestanden, als die Krankenhäuser zahlreiche Opfer
des Bürgerkriegs und islamistischen Terrorismus zu
versorgen hatten. Dagegen richtet sich ein seit
zwei Monaten anhaltender Streik des
Krankenhauspersonals, das etwa am 07. und 09.
Januar auch auf die Straße
ging. Dieser Protest mobilisiert zwar derzeit nur
eine Berufsgruppe, wird jedoch in breiten Kreisen
mit Aufmerksamkeit verfolgt - während das ganze
Land sich fragt, welche Weichen nach dem Ableben
des im Amt dahinsiechenden, schwerkranken
Präsidenten Abdelaziz Bouteflika gestellt werden.
Editorischer
Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese
Ausgabe. Es handelt sich um eine ausführliche
Fassung eines Artikels, welcher in gekürzter
Version am 18. Januar 18 in der Berliner
Wochenzeitung Jungle World publiziert wurde.
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