Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Emmanuel Macron und die Lage der Migranten in Calais

02/2018

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Die Grenze hält, doch die Spannungen aller Art eskalieren: So oder ähnlich ließen sich die französische Grenzsicherungspolitik in Calais – und anderswo am Ärmelkanal – sowie ihre Auswirkungen zusammenfassen. Zu Wochenbeginn (05. Februar 18) schwebten in Calais vier junge eritreische Staatsangehörige laut Krankenhausangaben noch immer „zwischen Leben und Tod“. Am vorigen Donnerstag, den 01. Februar 18 hatten sie bei heftigen Zusammenstößen, an denen vor allem afrikanische Migranten überwiegend aus Eritrea und afghanische Staatsbürger auf der anderen Seite beteiligt waren, lebensgefährliche Schussverletzungen erlitten. Am selben Tag hatten körperliche Auseinandersetzungen zwischen Migrantengruppen an insgesamt drei Orten entlang des Ärmelkanals, in Calais und im Umland, stattgefunden. Dabei wurden 22 Personen verletzt. Ferner erlitten zwei Migranten am Freitag Abend (02. Februar d.J.) Stichverletzungen bei einer Auseinandersetzung in Grande-Synthe, wo sich vor allem Kurden und andere Menschen aus dem Irak aufhalten.

Die zuständige Staatsanwaltschaft in der Küstenstadt Boulogne-sur-Mer vernahm bis zum Wochenende des 03./04. Februar 18 bereits ein Dutzend Zeugen zu dem gefährlichsten der Vorfälle. Die Kampf, in dessen Rahmen mindestens eine Schusswaffe gezogen wurde, fand auf einem Parkplatz in der Nähe eines Krankenhauses in Calais statt. Dort ist normalerweise eher die afghanische Community anwesend, während die afrikanischen Migrantengruppen sich eher in einem Industriegebiet in der Dünenzone von Calais aufhalten. Am vergangenen Donnerstag fand dort jedoch eine Essensausgabe an eritreische Geflüchtete statt. Die Ermittlungsbehörde vermutet, dass der Schütze sich gezielt vor Ort begeben hatte, um seine Schusswaffe zu benutzen, denn ihrem Einsatz scheint keine Schlägerei vorausgegangen zu sein. Im Nachhinein gingen jedoch rund 150 Menschen aus Nordostafrika auf etwa zwanzig afghanische Staatsangehörige los. Nach einem 37jährigen Afghanen als dem mutmaßlichen Schützen wird laut der Nachrichtenagentur AFP derzeit gefahndet, in einem Artikel bei Mediapart ist von einem 27jährigen Afghanen die Rede.

Eine nicht näher bezeichnete polizeiliche Quelle wurde am Freitag, den 02. Februar dieses Jahres durch die Onlinezeitung Mediapart mit den Worten zitiert, im Hintergrund stünden mutmaßlich Territorialkonflikte zwischen so genannten Schlepperbanden. Der zitierte Polizist vergleicht diese mit den oft bewaffnet ausgetragenen Streitigkeiten, mittels derer Dealerbanden in Marseille ihre Claims abstecken. Die Mittelmeerstadt ist berüchtigt für solche Kämpfe im Drogenmilieu, da sie auf den Importrouten konkurrierender Mafiagruppen – über Italien und über Spanien – liegt, und erst vorgegangene Woche wurde aus Marseille erneut über Kopfschüsse in diesem Zusammenhang berichtet. In Calais ist der Hintergrund insofern ein anderer, als dort ebenfalls mafiöse Gruppen zunehmend Fuß fassen, ihr Betätigungsgebiet jedoch fast ausschließlich darin liegt, Möglichkeiten zur Überfahrt auf die britischen Inseln – oder zumindest die Illusion davon – anzubieten. Im einen wie im anderen Falle ist es gewissermaßen die Prohibitionspolitik, die einen Markt für mafiaähnlich agierende Gruppen schafft: Wenn tatsächliche oder, wie im Falle von Drogenhandel, wenigstens vermeintliche Bedürfnisse von Menschen mit legalen Mitteln nicht befriedigt werden können, greift eine Ökonomie mit illegalen Mitteln.

In das so genannte Schlepperwesen sind dabei jedenfalls am Ärmelkanal oft Personen verwickelt, die selbst frühere Geflüchtete sind. Ein Bedürfnis, von Frankreich ins Vereinigte Königreich überzusetzen, sei es im Bauch von Fährschiffen oder an Bord von LKWs, die ihrerseits im Hafen von Calais auf Schiffe verladen werden oder aber - auf Züge verfrachtet – den unterirdischen „Eurotunnel“ durchqueren, besteht bei Migrantengruppen vom Horn von Afrika, aus dem Sudan, aus dem Irak, Afghanistan oder anderen Ländern. Zum Teil erklärt es sich aus Präsenz von Familien oder nahen Angehörigen im Vereinigten Königreich oder aus englischen Sprachkenntnissen, vor allem bei Menschen, die aus früheren britischen Kolonien stammend. Zum Teil resultiert es auch aus der Vermutung, in England oder Schottland sei der so genannte Arbeitsmarkt auch für Illegalisierte offener. In den Augen mancher Migranten wird die Hoffnung auf eine Zukunft in England wohl auch zur fixen Vorstellung jenseits real bestehender Chancen dort. Nicht zuletzt wollen viele einer drohenden Überstellung aus Frankreich in eines der drei Mittelmeerländer Spanien, Italien und Griechenland, durch welches sie zuerst in die EU einreisen, eingehen. Allerdings ist auch das Vereinigte Königreich Mitgliedsstaat der Dublin III-Regelung von 2013.

Anlässlich der Räumung des großen, als „Jungle“ bezeichneten Flüchtlingscamps in Calais im Oktober 2016, bei dem zehntausend Menschen über das übrige Frankreich verteilt wurden, hatte die französische Staatsmacht den Betroffenen versprochen, sie könnten zwischen dem Stellen eines Asylantrags in Frankreich und einer freiwilligen Ausreise – in der Regel in die Herkunftsländer – wählen. Die dabei zum Teil neu erweckten Hoffnungen wurden jedoch schnell dadurch enttäuscht, dass von der Dublin-Regelung betroffene Migranten dann doch schnell ins Rückführungssystem, vor allem zwischen Frankreich und Italien, überstellt wurden. Dies betraf zunächst vor allem sudanesische Staatsangehörige. Derzeit stockt die so genannte Rücküberstellung aus Frankreich nach Italien jedoch. 38 Migranten, vor allem Sudanesen sowie ein Eritreer, stellten am 11. Januar d.J. im südwestfranzösischen Pau eine Strafanzeige gegen Unbekannt aufgrund von Folter- und Misshandlungsvorwürfen, die sich gegen italienische Polizeibedienstete und -behörden richten. Ein Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet. Am 26. Januar 18 verbot daraufhin ein Verwaltungsgericht in derselben Stadt die Rücküberstellung eines Sudanesen in Richtung Italien gemäß der Dublin-Regelung, aufgrund drohender Grundrechtsverletzung des an der Sammelklage Beteiligten.

Einige Monate nach der Evakuierung von 10.000 Migrantinnen und Migranten aus Calais vor knapp anderthalb Jahren füllten sich die informellen Migrantencamps dort allmählich wieder auf. Derzeit leben dort laut Angaben der Präfektur – Vertretung des Zentralstaats auf Bezirksebene – zwischen 550 und 600, in der Solidarität tätigen NGOs zufolge jedoch rund 800 Geflüchtete. Alle streben nach einer Weiterreise in Richtung Großbritannien. Nachdem das fast zwei Jahre bestehende Großcamp zerstört wurde, übernachten sie nun in kleinen Gruppen im Freien, im Unterholz umliegender Wälder. Alle paar Monate kommt es zu schweren Konflikten. Deren Darstellung als „interethnische Auseinandersetzung“ in einem Teil der französischen Medien greift jedoch nicht. Bei dem Kampf Ende voriger Woche kamen etwa afrikanische Migranten den zwanzig afghanischen Flüchtlingen, die nach der Szene mit den Schüssen durch eine Überzahl nordostafrikanischer Widersacher bedroht wurden, zeitweilig zu Hilfe. Bei der letzten größeren Schlägerei im November 2017 standen sich zwei Gruppen von jeweils afghanischen Staatsangehörigen gegenüber. Das Agieren ökonomisch motivierter Mafiagruppen sowie die Nervosität, die für die Migranten aus der Erschöpfung infolge langer Reisewege, der nervlichen Anspannung und der ungewissen Zukunft resultiert, sind dabei begünstigende Faktoren. Daneben gibt es auch rassistische Äußerungen etwa nahöstlicher über afrikanische Flüchtlinge, die jedoch eher wie eine nachträglich gegebene Begründung denn als Ursache für die Konflikt einzustufen sind.

Am 16. Januar 18 hatte Staatspräsident Emmanuel Macron persönlich Calais besucht. Dort besuchte er sowohl eine bei Unterstützung von Geflüchteten tätige NGO als auch dort stationierte Polizisten besucht. Zunächst stellte er sich vor die Beamten, kündigte jedoch zugleich an, im Falle illegaler Übergriffe auf Migranten werde es keine Toleranz geben. Über solche Übergriffe wurde in jüngster Vergangenheit immer wieder berichtet: Am Tag vor Macrons Besuch stellten mehrere Hilfsorganisationen, unter ihnen die katholische Vereinigung Secours catholique sowie L’Auberge des migrants, Strafanzeige wegen systematischer Zerstörung von lebensnotwendigen Gegenständen wie Schlafsäcken und Decken. Weitere NGOs wie Women Center und Help Refugees folgten. Im Dezember hatten die Vereinigungen 700 Schlafsäcke verteilt, auf die ihr Symbol aufgenäht war, und die Migranten „Leihverträge“ unterzeichnen lassen. Dadurch konnten sie sich auf ihr Eigentum berufen und können nun als Kläger auftreten. Die Polizei vor Ort lässt solche Gegenstände oft Beschlagnahmen und zerstören. Ein anonym bleibender Bereitschaftspolizist berichtete Mitte Januar 2018 in der neu gegründeten Zeitschrift L’Ebdo, er sei wiederholt dazu eingesetzt worden, Schlafsäcke mit CS-Gas zu besprühen oder sonst unbrauchbar zu machen. Der Fehler liege nicht bei der Polizei, sondern „im System“, fügte er hinzu. In fünfzehn Jahren vor Ort habe er nicht einmal Gelegenheit gehabt, mit einem Geflüchteten zu sprechen.

Den NGOs schrieb Macron hinter die Ohren, einige von ihnen handelten „unverantwortlich“ und „begünstigten dadurch die illegale Migration“. Bislang hatten Regierungen die humanitären Hilfsorganisationen nicht derart offen kritisiert, sondern sie zumeist ignoriert und de facto gewähren lassen. 48 Stunden nach Macrons Auftritt in Calais hielt er sich (am 18. Januar 18) in London auf und unterzeichnete dort mit Premierministerin Theresa May ein Abkommen, das die „Vereinbarungen von Le Touquet“ von 2004 fortschreibt. Demnach werden die auf die südliche Seite des Ärmelkanals vorgelagerten Grenzkontrollen für das Vereinigte Königreich beibehalten, die britische Regierung zahlt jedoch 50,5 Millionen Euro zusätzlich dafür.

 

Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Es handelt sich um eine ausführliche Fassung eines Artikels, von welchem eine gekürzte Fassung am 8. Februar 18 in der Berliner Wochenzeitung Jungle World publiziert wurde