Die Bedeutung von Lenins Werk "Materialismus und Empiriokritizismus" im Kampf gegen idealistische Entstellungen der materialistischen Geschichtsauffassung

von
Hermann Scheler

02/2019

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Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus" wurde erstmalig im Jahre 1927 in deutscher Sprache als Band XIII seiner „Sämtlichen Werke" im Verlag für Literatur und Politik, Wien/Berlin veröffentlicht. Man kann behaupten, daß diese Kampfschrift zur Verteidigung der philosophisch-theoretischen Grund­lagen des wissenschaftlichen Sozialismus gegen das Eindringen der reaktionären bürgerlichen Philosophie in die marxistische Arbeiterbewegung bis dahin nicht nur den sozialdemokratischen Verfälschern, sondern leider auch den kommu­nistischen Verfechtern des Marxismus unbekannt geblieben war. Schon aus diesem Grunde war die fast 20 Jahre nach der russischen Erstausgabe erfolgende Veröffentlichung des philosophischen Hauptwerkes von Lenin in deutscher Sprache für die gesamte deutsche Arbeiterbewegung ein bedeutendes Ereignis.

Auch in Deutschland hatten das philosophische Kompromißlertum und der Revisionismus auf dem Gebiet der marxistischen Philosophie seit Jahrzehnten unter den Marxisten viel Verwirrung angerichtet, ohne daß ihr konsequent vom Standpunkt des dialektischen Materialismus aus entgegengetreten worden wäre. Darum hatte die deutsche Ausgabe von Lenins „Materialismus und Empirio­kritizismus" für die Arbeiterklasse Deutschlands auch keineswegs bloß philo­sophiegeschichtliche, sondern vor allem große aktuelle politisch-ideologische Bedeutung.

Im damaligen Deutschland, in dem politisch und ökonomisch die Militaristen und Monopolkapitalisten herrschten und das sich unter den Bedingungen der relativen Stabilisierung des Kapitalismus entwickelte, kann man freilich die große Wirkung des Buches von Lenin nicht daran messen, welch lautes oder leis'es Rauschen sein Erscheinen im Blätterwald der deutschen Presse und des deutschen Schrifttums verursachte. Die bürgerliche Presse und die bürger­lichen philosophischen Zeitschriften bedienten sich im Kampf gegen die marxi­stische Philosophie noch der Methode des Totschweigens. Aber auch die spär­lichen Besprechungen in der kommunistischen Tagespresse(1), die wenigen Artikel in kommunistischen(2) und die noch spärlicheren Hinweise in sozialdemokratischen Zeitschriften(3) geben kein richtiges Bild dieser Wirkung. Die ideolo­gisch-politische Wirkung dieser grundlegenden philosophischen Arbeit Lenins auf die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung, die sich damals noch unter der politischen und ideologischen Vorherrschaft des sozialdemokratischen Opportunismus und Revisionismus vollzog, war jedenfalls weitaus tiefer und breiter, als ihr literarisches Echo erkennen läßt. Tatsache ist, daß Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus" die kommunistische Bewegung in Deutschland mit dem theoretischen Rüstzeug ausstattete, das sie dringend brauchte, um den Kampf gegen Kompromißlertum und Revisionismus auf phi­losophischem Gebiet offensiv und ohne Halbheiten und Schwankungen führen zu können. Tatsache ist ferner, daß die fortgeschrittensten kommunistischen Arbeiter dieses Werk auch wirklich lasen, wie es beispielsweise eine Arbeiter­korrespondenz in der „Hamburger Volkszeitung" (4) bestätigt und wie ich es aus eigenen Erfahrungen bezeugen kann, die ich in jener Zeit in zahllosen Diskus­sionen mit Arbeitern gemacht habe. Vor allem aber hat Lenins Kampfschrift in den allmählich immer heftiger werdenden tagtäglichen ideologischen Aus­einandersetzungen in Deutschland eine große Rolle gespielt.

Als die relative Stabilisierung des Kapitalismus zu Ende ging und die Öko­nomisohe wie politische Herrschaft des deutsehen Finanzkapitals durch die Weltwirtschaftskrise bis in die Grundfesten hinein erschüttert wurde, mobili­sierten die herrschenden Kreise Deutschlands alle reaktionären bürgerlichen Ideologien zum Kampf gegen den Marxismus-Leninismus, die Weltanschauung des revolutionären Proletariats. Die bürgerliche Wissenschaft trieb auf einer Welle des Mystizismus dahin und in der bürgerlichen Philosophie machte sich — vor allem über das Wirken der Lebensphilosophie — der Irrationalismus breit, der dem „Mythos des 20. Jahrhunderts", der faschistischen Rassenmystik, den Weg ebnete. Die rechtssozialistischen Ideologen untergruben die Entwicklung des sozialistischen Klassenbewußtseins durch einen schauderhaften weltan­schaulichen Eklektizismus, der den reaktionären Ismen der bürgerlichen Philo­sophie Tor und Tür öffnete. Mit scheinsozialistischen Argumenten und mit einer ihres revolutionären Inhalts entleerten marxistischen Terminologie verwirrten sie die Werktätigen, um sie gegen die revolutionäre kommunistische Bewegung mißbrauchen zu können und um zugleich die fortschreitende Radikalisierung der eigenen proletarischen Mitglieder und Anhänger zu bremsen. Hierbei stützten sie sich auf die Ideen der kleinbürgerlichen Sozialreform, der Wirtschaftsdemo­kratie und der Politik des „kleineren Übels" und leisteten der Ausbreitung des ethischen und religiösen Sozialismus — vor allem in sozialdemokratischen In­tellektuellen-Kreisen — jede erdenkliche Hilfe.

Unter diesen Umständen gewann Lenins philosophische Auseinandersetzung mit den Verfälschern des dialektischen und historischen Materialismus höchste Aktualität. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, daß es nicht wenig links­orientierte Jungarbeiter unter den Sozialdemokraten gab, die Lenins „Materialis­mus und Empiriokritizismus" studierten und auf Schulungsabenden oder Wochenendkursen eifrig darüber diskutierten. Manche von ihnen gelangten über die Lektüre dieses philosophischen Werkes auch zu Lenins anderen theoretischen Schriften, z. B. „Staat und Revolution" und anderen und schließlich zum Marxismus-Leninismus sowie zur kommunistischen Bewegung. Vor allem auch in der von den Sozialdemokraten beherrschten Freidenkerbewegung stützten sich viele ehrliche proletarische Freidenker — auch solche, die der SPD ange­hörten — in ihrem Kampf gegen die Preisgabe der materialistischen Weltan­schauung durch die rechten SPD-Führer und gegen die sich ausbreitende Be­wegung der religiösen Sozialisten auf Lenins Werk, das ihnen scharfe theore­tische Waffen lieferte. Im „Atheist", dem Organ der von den Sozialdemokraten dirigierten Internationalen Freidenker-Union, löste im Jahre 1932 ein Artikel Friedmanns von der Arbeiter-Akademie Frankfurt/Main, in dem die Anschau­ung Lenins gröblich entstellt wurden, sogar eine heftige Kontroverse zur Verteidigung des „Materialismus und Empiriokritizismus" aus(5). In Deutsch­land machte sich in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Jenen Tagen der wachsenden faschistischen Gefahr neben Kautskys philosophischem Eklekti­zismus auch der machistische Empiriokritizismus breit. Da war z. B. der Jenaer Professor Dr. M. H. Baege, der eine empiriokritizistische „Soziologie des Denkens" geschrieben hat, oder Otto Jenssen, der zu den Linkssozialdemokraten um die Zeitschrift „Der Klassenkampf" gehörte und die Auffassungen des österreichischen Machisten Friedrich Adler verfocht. Aber zur gleichen Zeit wirkte auch an der Jenaer Universität der Biologe Prof. Julius Schaxel, der, ob­wohl Sozialdemokrat, Anhänger des dialektischen Materialismus war und sich offen zu Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus" bekannte.

So dienten die von Lenin scharf geschliffenen Argumente des dialektischen Materialismus nicht nur den deutschen Kommunisten, den einzigen wirklichen Marxisten-Leninisten in Deutschland, sondern allen ehrlichen Materialisten ahs Waffe gegen idealistische Unterminrerung der materialistischen Weltanschauung. Sogar in den „Monistischen Monatsheften", dem Organ des bürgerlichen Deut­schen Monistenbundes, erschien eine positive Würdigung des Leninschen Werkes(6). Fast gleichzeitig mit Lenins philosophischer Kampfschrift erschien das zweibändige Machwerk von Karl Kautsky „Die materialistische Geschichts­auffassung", in dem der führende Theoretiker der damaligen deutschen Sozial­demokratie und Renegat des Marxismus die Einheit von dialektischem und historischem Materialismus und damit den Materialismus der von Marx und Engels begründeten Geschichtsauffassung offen preisgab.

Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Kautsky praktisch den neukan­tianischen und machistischen Revisionisten geholfen, indem er ihnen für ihre Angriffe auf den dialektischen Materialismus bereitwillig die Spalten der „Neuen Zeit" zur Verfügung stellte, während er gleichzeitig den Kampf Plecha-nows gegen diese Feinde der marxistischen Philosophie in der „Neuen Zeit" behinderte. Nunmehr aber, im Jahre 1927, dem Erscheinungsjahr der deutschen Ausgabe des „Materialismus und Empiriokritizismus", scheute sich Kautsky nicht mehr, in seinem Buch, das angeblich der Verteidigung der materialisti­schen Geschichtsauffassung dienen sollte, ganz offen zu schreiben, die materia­listische Geschichtsauffassung sei nicht an eine materialistische Philosophie ge­bunden. Sie sei vereinbar mit jeder Weltanschauung, die sich der Methode des dialektischen Materialismus bediene, oder zumindest nicht im unvereinbaren Widerspruch zu ihr stehe(7). „Die Philosophie", heißt es dann wörtlich, „be­schäftigt uns hier nur insoweit, als sie mit der materialistischen Geschichts­auffassung zu tun hat. Und diese scheint uns vereinbar nicht nur mit Mach und Avenarius, sondern auch noch mit mancher anderen Philosophie(8)."

Auf diese Weise trennte Kautsky den dialektischen vom historischen Mate­rialismus und verwandelte den letzteren unterderhand in eine idealistische Geschichtsauffassung. Auch di'e heutigen Theoretiker der westdeutschen Sozial­demokratie — soweit sie die materialistische Geschichtsauffassung nicht ein­fach wie der Superrevisionist Theimer über Bord werfen — eifern diesem Vor­bild Kautskys nach. So erklärte z. B. der an der Westberliner Universität tätige sozialdemokratische Professor Dr. Stammer (8a) in einem Vortrag, den er am 14. März 1953 zum 70. Todestage von Karl Marx in Trier gehalten hat, „die im Marxis­mus angelegte geschichtsphilosophische Konzeption" werde durch die Marxisten-Leninisten „zur Metaphysik des dialektischen Materialismus aufgeblasen...". Lenin habe „vermittels der Metaphysik des dialektischen Materialismus" den historischen Materialismus als wissenschaftliche Methode entwertet.(9) Die phi­losophischen Revisionisten bekämpfen die unlösbare Einheit von dialektischem und historischem Materialismus in dem Bewußtsein, das ganze Gebäude des Marxismus zum Einsturz zu bringen, indem sie den dialektischen Materialismus als den tragenden Eckpfeiler aus ihm herausbrechen. Darum erklärt Prof. Stammer, die Einheit von dialektischem und historischem Materialismus „ent­werte" den historischen Materialismus als einer „wissenschaftlichen Methode". Es geht den rechtssozialdemokratischen Theoretikern um die Austreibung des Materialismus aus der Gesellschaftswissenschaft und damit um deren Liqui­dation als Wissenschaft überhaupt, das heißt als einer Wissenschaft, die es mit der Erforschung objektiver Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun hat. Das bekennt der Superrevisionist Walter Theimer ganz offen, wenn er schreibt: „Ein skeptischer Positivismus, der sich an die Tatsachen hält, ist die einzige zulässige Art der Geschichtsbetrachtung. Auf diese Weise können wenigstens gewisse typische Erscheinungen festgestellt und klassifiziert werden, die zwar nicht allgemeingültige Geschichtsgesetze ausdrücken, aber doch An­haltspunkte für das Studium der Geschichte geben."(10) Abgesehen davon, daß Theimer versucht, uns einzureden, man halte sich an die Tatsachen, wenn man die Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen beschreibt, statt mit Hilfe des theoretischen Denkens in das Wesen dieser Erscheinungen einzudringen, geht es seinem „skeptischen Positivismus" darum, das Wirken objektiver, vom Willen und Bewußtsein der Menschen unabhängiger Gesetze der gesellschaft­lichen Entwicklung zu leugnen. Es gilt die historische Notwendigkeit der Ent­wicklung des Kapitalismus zum Sozialismus zu bestreiten, um der Arbeiter­klasse die revolutionäre Zuversicht, die Gewißheit in den endlichen Sieg des So­zialismus zu nehmen. Aber es war und ist ja gerade die umwälzende Bedeutung des historischen Materialismus, daß er erst eine Gesellschaftswissenschaft er­möglichte, die von der bloßen Beschreibimg der gesellschaftlichen Erscheinun­gen zu ihrer streng wissenschaftlichen Analyse und zur Aufdeckung der immanenten Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung übergehen konnte.

Wie groß aber die Bedeutung des Leninschen Werkes „Materialismus und Empiriokritizismus" für die richtige Auffassung des Verhältnisses von dialek­tischem Materialismus und materialistischer Geschichtsauffassung war, zeigt ganz deutlich die Tatsache, daß auch die revolutionären Verteidiger des Marxis­mus in Deutschland keinen klaren und konsequenten Standpunkt in dieser Frage vertraten. Der hervorragende marxistische Theoretiker der alten deut­schen Sozialdemokratie, Franz Mehring, der Mitbegründer des Spartakusbundes und der Kommunistischen Partei Deutschlands, beispielsweise trat dem Schlacht­ruf der Neukantianer „Zurück zu Kant" und dem Versuch, den historischen Materialismus philosophisch neu zu fundieren, entschieden entgegen, ermangelte aber selbst der völligen philosophischen Klarheit in dieser wichtigen Frage. In seinem Artikel „Kant, Dietzgen, Mach und der historische Materialismus" ver­trat er die irrige Ansicht, der historische Materialismus sei eine in sich ge­schlossene Theorie, die ihr Recht aus sich selbst nähme und keiner weiteren Philosophie bedürfe. Obwohl also Mehring einen entschiedenen Kampf gegen die politischen Ansichten der Revisionisten führte, gab auch er mit seiner Feststellung praktisch den dialektischen Materialismus preis. Das kommt drastisch in der Tatsache zum Ausdruck, daß er in seinem Artikel den Materia­listen Dietzgen mit dem subjektiven Idealisten Mach gleichsetzt und von ihnen behauptet, beide seien Vertreter eines erkenntniskritischen Monismus. Wört­lich sagt er dann: „Insofern stimmt Mach vortrefflich mit Marx zusammen, der aller Philosophie den Laufpaß gab und den geistigen Fortschritt der Menschheit nur noch in der praktischen Arbeit auf dem Gebiete der Geschichte und der Natur sah." (11) Unter solchen Umständen kann natürlich von einer wirklichen Verteidigung der philosophisch-theoretischen Grundlagen des Marxismus, der Einheit von dialektischem und historischem Materialismus bei Mehring nicht die Rede sein.

Die hervorragende Bedeutung von „Materialismus und Empiriokritizismus" besteht also nicht nur darin, daß Lenin den marxistischen philosophischen Materialismus gegen alle Angriffe der neueren idealistischen Philosophie ver­teidigte, indem er ihn zugleich weiterentwickelte und alle Versuche zurückwies, den Materialismus mit dem Idealismus auszusöhnen, sondern auch darin, daß er einen unversöhnlichen Kampf gegen alle Bestrebungen führte, den historischen vom dialektischen Materialismus zu trennen und ihn mit der idealistischen Phi­losophie zu verbinden. Lenin wies die untrennbare Einheit von dialektischem und historischem Materialismus am Zusammenhang der materialistischen These: Das Sein bestimmt das Bewußtsein, mit der These des historischen Materialis­mus: Das gesellschaftliche Sein bestimmt das gesellschaftliche Bewußtsein, nach. „Das Bewußtsein spiegelt überhaupt das Sein wider, — das ist die allgemeine These des gesamten Materialismus. Es geht nicht an, ihren direkten und un­trennbaren Zusammenhang mit der These des historischen Materialismus: das gesellschaftliche Bewußtsein spiegelt das gesellschaftliche Sein wider, nicht zu sehen," (12) schrieb Lenin im Kampf gegen den Versuch Bogdanows, die Grund­frage der Philosophie im historischen Materialismus im Sinne des Empiriomonis-mus zu beantworten und das gesellschaftliche Sein als mit dem gesellschaft­lichen Bewußtsein identisch zu erklären. Lenin vertritt also klar und unmiß­verständlich die Auffassung, daß der dialektische und der historische Materialis­mus aus einem Guß sind und daß man aus der einheitlichen marxistischen Phi­losophie nicht einen einzigen wesentlichen Teil wegnehmen kann, ohne sich von der objektiven Wahrheit zu entfernen und in die Arme der reaktionären bürger­lichen Lüge zu geraten. Trotzdem fahren auch die heutigen Kritiker des Marxis­mus fort, die Einheit des dialektischen und historischen Materialismus zu be­streiten. So erklärt z. B. der westdeutsche Philosoph Iring Fetscher, der an den Marxismusstudien der Evangelischen Akademien Westdeutschlands mitarbeitet, in seiner Auseinandersetzung mit der marxistischen Philosophie: „Hier muß hervorgehoben werden, daß dieser historische Materialismus mit dem dialek­tischen in keiner Weise notwendig verbunden ist. Es handelt sich um eine völlig andere Theorie." (13) Auf die Begründung, warum es sich um eine angeblich völlig andere Theorie handelt, komme ich später noch einmal zurück. Jetzt interessiert uns zunächst nur die Behauptung, daß dialektischer und historischer Materialis­mus in keiner Weise notwendig miteinander verbunden seien. In einem anderen Aufsatz versucht Fetscher, diese seine These damit zu begründen, daß der historische Materialismus aus dem revolutionären Humanismus von Marx her­vorgegangen und erst später durch Engels, im Anti-Dühring, mit dem dialek­tischen Materialismus ergänzt worden sei. Diese Darstellung geht am Kern und Wesen der Sache jedoch vorbei. Iring Fetscher verschweigt seinen Lesern ge­flissentlich, daß Marx und Engels zum historischen Materialismus über den Feuerbachschen Materialismus kamen. Sie überwanden den Idealismus der He­gelsehen Philosophie durch die Rückkehr zum materialistischen Standpunkt, eine Rückkehr, die zugleich ein Vorwärts über den alten mechanischen Mate­rialismus — auch den Feuerbachschen — hinaus war, weil — wie Engels später schrieb — in ihm „zum ersten Mal mit der materialistischen Weltanschauung wirklich ernst gemacht ... sie auf allen in Frage kommenden Gebteten des Wis­sens — wenigstens in den Grundzügen — konsequent durchgeführt wurde" .(14) Die Schranke des bürgerlichen Materialismus, seine Inkonsequenz, seine Ein­seitigkeit und Unvollendetheit bestand vor allem darin, daß er zwar die Natur, nicht aber die Gesellschaft materialistisch zu erklären vermochte. Um den Materialismus in einen konsequenten, nicht einseitigen, vollendeten — kurz, in den dialektischen — Materialismus zu verwandeln, war es notwendig — wie Engels ausdrücklich hervorhob — die „Wissenschaft von der Gesellschaft... mit der materialistischen Grundlage in Einklang zu bringen und auf ihr zu rekonstruieren".(15) Es ist also offensichtlich, daß sehr wohl der historische Mate­rialismus die These Feuerbachs: „Das Denken ist aus dem Sein, aber das Sein nicht aus dem Denken... Sein hat seinen Grund in sich..."(16) in sich ein­schließt, daß aber umgekehrt in dieser richtigen Antwort des bürgerlichen Mate­rialismus auf die Grundfrage der Philosophie noch keineswegs die These des historischen Materialismus: Das gesellschaftliche Sein bestimmt das gesell­schaftliche Bewußtsein, ohne weiteres enthalten ist. Feuerbachs These für sich allein genommen schließt den Idealismus noch keineswegs völlig aus. Diese materialistische These über das Verhältnis von Sein und Bewußtsein wurde zu einer allseitig und konsequent materialistischen These erst, als es gelang, sie adäquat auf das gesellschaftliche Leben auszudehnen, das heißt, im gesell­schaftlichen Sein der wirklichen tätigen Menschen und nicht im bloß natürlichen, physischen Sein des abstrakten Menschen, jene materielle Grundlage zu finden, von der das menschliche Bewußtsein bestimmt wird. Das Bewußtsein konnte erst konsequent materialistisch aus dem Sein erklärt werden, nachdem das ge­sellschaftliche Leben materialistisch erklärt war. Erst mit der Entdeckung der ökonomischen Struktur als realer Grundlage, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der rechtlichen, politischen, moralischen, künstlerischen, philosophischen, religiösen usw. Vorstellungs­weisen zu erklären sind, war der Weg gefunden, das Bewußtsein der Menschen aus ihrem materiellen Sein, statt, wie bisher, ihr materielles Sein aus ihrem Be­wußtsein zu erklären. Die Erkenntnis, daß das Bewußtsein der Menschen der notwendige geistige Niederschlag ihres materiellen gesellschaftlichen Seins, das geistige Abbild ihrer materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse ist, vertrieb den Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, der Geschichtsauffassung. Marx selbst hat schon diesen notwendigen Zusammenhang zwischen der allgemeinen These des Materialismus überhaupt über das Verhältnis von Sein und Bewußt­sein und der besonderen These des historischen Materialismus über das Ver­hältnis von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein in lapi­darer Weise ausgedrückt als er schrieb: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß über­haupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern um­gekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt." (17) Aus alledem ergibt sich, warum der notwendige Zusammenhang des historischen Ma­terialismus mit dem Materialismus überhaupt in keiner Weise mit dem Argument bestritten werden kann, der dialektische sei später als der historische Materialismus ausgearbeitet und entwickelt worden und könne daher nicht die Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung sein. Wir haben gesehen, wie sehr der historische Materialismus auch in seiner Entstehung mit dem Ma­terialismus überhaupt — insbesondere mit dem Feuerbachschen — zusammen­hängt. Die spätere Ausarbeitung des dialektischen Materialismus im einzelnen, die ihre historischen Gründe hat, kann am systematischen Zusammenhang zwi­schen dialektischem und historischem Materialismus nichts ändern. Kein Ge­ringerer als Lenin selbst hat in „Materialismus und Empiriokritizismus" er­klärt, warum Marx und Engels größeres Gewicht auf den historischen als auf den dialektischen Materialismus legten. „Marx und Engels, aus Feuerbach her­vorgewachsen und im Kampf mit den Pfuschern gereift, richteten natürlich die größte Aufmerksamkeit auf den Ausbau der Philosophie des Materialismus nach oben hin, das heißt nicht auf die materialistische Erkenntnistheorie, sondern auf die materialistische Geschichtsauffassung." (18) Marx und Engels mußten also zunächst den Materialismus „oben" auf dem Gebiet der Gesellschaft fortführen und ausbauen, weil er hier bisher fehlte, während er sich „unten" auf dem Ge­biet der Natur nicht nur für sie, sondern auch für die bürgerlichen Materialisten und Naturwisenschaftler von selbst verstand, und weil sie zugleich durch die Ausarbeitung des Materialismus „oben" dem Materialismus „unten" seine neue historische Form gaben.

Demgegenüber sind die bürgerlichen Kritiker der marxistischen Philosophie genötigt, ihre Angriffe auf den Materiaiismus „unten" zu richten, wenn sie den Materialismus „oben" zu Fall bringen wollen. Sie tun das häufig unter dem Vorwand, die marxistische Geschichtsauffassung von der „Metaphysik" des Materialismus befreien zu wollen. Es ist also kein Zufall, wenn sie im Kampf gegen die materialistische Geschichtsauffassung ihre Angriffe vor allem auch auf die Einheit von dialektischem und historischem Materialis­mus richten. Hierbei behaupten sie entweder, Marx sei überhaupt kein philo­sophischer Materialist gewesen — womit ein Zusammenhang zwischen philoso­phischem Materialismus und materialistischer Geschichtsauffassung zumindest von Marx her hinfällig würde —, oder sie behaupten, der Marxismus bestehe unnötigerweise auf einem solchen Zusammenhang, der sachlich weder erforder­lich noch gerechtfertigt sei. In dieser Auseinandersetzung scheuen sich die An­hänger der verschiedenen Richtungen der bürgerlichen Philosophie nicht im geringsten, jeweils auch die Argumente der anderen Richtungen gegen die mar­xistische Philosophie ins Feld zu führen.

Auf dem XII. Internationalen Philosophenkongreß in Venedig hat beispiels­weise der Neuthomist G. A. Wetter behauptet, Marx habe sich die Natur nicht ohne den Menschen denken können. Wetter beruft sich hierbei auf eine Früh­schrift von Marx, in der Marx erklärt, daß die Natur für sich, abstrakt ge­nommen, in der Trennung vom Menschen fixiert, für den Menschen nichts ist(19). Mit dieser Behauptung will Wetter beweisen, daß Marx kein Materialist gewesen sei, da der philosophische Materialismus die Existenz der Natur unabhängig vom Menschen und vor der Existenz des Menschen anerkennt. Diese Behauptung Wetters nimmt sieh wunderlich aus, wenn man weiß, daß er die Philosophie des jungen Marx im allgemeinen hegelianisch interpretiert. Es kann aber Wetter nicht unbekannt sein, daß sich der objektive Idealismus Hegels mit der Existenz der Erde, der Natur vor dem Menschen und ohne den Menschen durchaus ver­trägt. Die Behauptung, Marx habe sich die Natur nicht ohne den Menschen denken können, müßte, wenn sie richtig wäre, Marx also zum subjektiven Ide­alisten machen. Um seinen Zweck zu erreichen, macht es Wetter also gar nichts aus, die Anschauungen von Marx hier im Sinne des subjektiven Idealismus zu interpretieren. Danach hätte Marx den Standpunkt der von Lenin so heftig be­kämpften Prinzipialkoordination des Avenarius vertreten, wonach ein unauf­löslicher Zusammenhang zwischen Ich und Umwelt, zwischen Mensch und Natur in dem Sinne besteht, daß das Eine nicht ohne das Andere, die Umwelt nicht ohne das Ich, die Natur nicht ohne den Menschen existieren kann. In Wahrheit aber geht es Marx in dieser Frühschrift, auch dort, wo er von dem Einfluß der Hegeischen Philosophie noch nicht völlig frei ist, nicht um die Leugnung der Exi­stenz der Natur unabhängig vom Menschen und vor dem Menschen. Es geht ihm vielmehr um die Kritik des mechanischen Materialismus, der die Natur, den Gegenstand, die Sinnlichkeit, nur unter der „Form des Objekts oder der Anschauung... nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, .. ." (20) faßt. In der sinnlichen menschlichen Tätigkeit, im spezifisch menschlichen Ar­beitsprozeß als Stoffwechselprozeß zwischen Mensch und Natur verwirklicht sich die Einheit von Mensch und Natur, verwandelt sich die Natur als bloßer Gegenstand der Anschauung in einen Gegenstand unserer sinnlichen Tätigkeit, verwandelt sich die Natur an sich in 'eine Natur für uns. Diese gegen den ab­strakten, metaphysischen Materialismus Feuerbachs gerichtete Argumentation wendet sich keineswegs gegen die materialistische Auffassung, wonach die Natur vor dem Menschen und unabhängig von ihm existiert. Das haben Marx und Engels selbst ausdrücklich festgestellt, als sie bereits in der „Deutschen Ideologie" im Hinblick auf ihre Kritik am Feuerbachschen Materialimus erklärten: „Aller­dings bleibt dabei die Priorität der äußeren Natur bestehen, und allerdings hat dies alles keine Anwendung auf die ursprünglichen, durch generatio aequivoca erzeugten Menschen." (21) Wetter hat dieses Zitat aus einer frühen Schrift von Marx und Engels seinem Publikum wohlweislich verschwiegen; denn es zeigt nicht nur deutlich, was es mit der Behauptung auf sich hat, Marx habe sich die Natur nicht ohne den Menschen denken können, sondern auch, wie absurd es ist, den jungen gegen den alten Marx auszuspielen. Jedenfalls ist es Wetter nicht ge­lungen, zu beweisen, daß Marx kein Materialist gewesen sei — und es konnte nicht gelingen.

In seinem Buch „Der dialektische Materialismus" versucht Wfctter, den dia­lektischen und historischen Materialismus von einer anderen Ebene aus anzu­greifen. Er untersucht dort den Zusammenhang der Thesen „Das Sein bestimmt das Bewußtsein" und „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das gesellschaftliche Bewußtsein". Wetter erklärt, die marxistische Philosophie setze diese beiden Thesen ohne jede weitere theoretische Rechtfertigung parallel, wobei der schon von Marx stammende Fehler unterlaufe, das soziale Bewußtsein bloß vom so­zialen (materiellen) Sein bestimmt sein zu lassen, während das individuelle Bewußtsein vom materiellen Sein schlechthin bestimmt werde.(22) Diese Argumen­tation „aus dem Parallelismus" zwischen den beiden Thesen bestehe „doch nur dann zu Recht, wenn das individuelle Bewußtsein nicht durch das (materielle) Sein schlechthin bestimmt ist, sondern durch das eigene materielle Sein des er­kennenden Individuums, also konkret nicht durch die (materielle) Außenwelt, sondern durch Entwicklungsstadium und Gesundheitszustand des erkennenden Individuums."(23) Es ist in diesem Zusammenhang notwendig, darauf hinzu­weisen, daß diese von Wetter gebrauchte Argumentation in der bürgerlichen Philosophie häufiger auftritt und nicht nur von den Neothomisten angewandt wird. Der Mitarbeiter der Evangelischen Akademie Iring Fetscher übernimmt sie in seiner Auseinandersetzung mit dem dialektischen und historischen Ma­terialismus fast wörtlich von Wetter. In der „Beweisführung" von Wetter und Fetscher werden beide Thesen des dialektischen Materialismus entstellt. Die erste These „Das materielle Sein bestimmt das Bewußtsein" bedeutet nicht, wie Wetter es darstellt, daß das individuelle Bewußtsein — im Unterschied zum ge­sellschaftlichen Bewußtsein — vom materiellen Sein bestimmt wird. In ihr ist vom individuellen Bewußtsein überhaupt nicht die Rede, und somit wird mit der ersten These auch nicht das individuelle Bewußtsein dem gesellschaftlichen Bewußtsein der zweiten These gegenübergestellt. Sie drückt zunächst nur in der allgemeinsten, umfassendsten Form die Tatsache aus, daß die Materie den Geist, das materielle Sein das Bewußtsein bestimmt, daß die Materie, das materielle Sein das Primäre, der Geist, das Bewußtsein aber das Sekundäre, das Abgeleitete ist. Demgegenüber liegt die Unterscheidung von individuellem und gesellschaft­lichem Bewußtsein auf einer ganz anderen Ebene. Das Bewußtsein der Men­schen — und ein anderes gibt es nicht — hat zwar immer eine individuelle neu-rodynamische physiologische Grundlage, ist an das Gehirn des einzelnen In­dividuums gebunden. Seinem Inhalt nach aber ist es immer ein gesellschaftliches Produkt, nicht das Produkt eines einzelnen, für sich genommenen Individuums, wie das einzelne Individuum selbst ein gesellschaftliches Produkt und das En­semble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Die materialistische These: Das materielle Sein bestimmt das Bewußtsein, besagt also nicht m'ehr, aber auch nicht weniger, als daß das Bewußtsein der Menschen seiner nteurodynamischen physiologischen Grundlage nach an das menschliche Individuum gebunden, seinem Inhalt nach aber durch die Außenwelt, durch das materielle Sein, daß es widerspiegelt, bestimmt ist. Das gesellschaftliche Bewußtsein ist aber nun nichts anderes als eine bestimmte Seite, ein bestimmter Zusammenhang des Be­wußtseins der Menschen überhaupt. Auch das gesellschaftliche Bewußtsein hat seine neurophysiologische Grundlage im einzelnen Individuum und nicht in einem „Kollektivgehirn" der Gesellschaft. Es unterscheidet sich vom Bewußt­sein schlechthin, welches das materielle Sein überhaupt widerspiegelt, dadurch, daß es eine bestimmte Seite des materiellen Seins, eben das materielle gesell­schaftliche Sein, widerspiegelt. Die Begriffe materielles Sein und materielles ge­sellschaftliches Sein stehen also im gleichen Verhältnis wie die Begriffe Bewußt­sein und gesellschaftliches Bewußsein zueinander. Das materielle Sein schließt das gesellschaftliche Sein nicht aus, sondern ein, enthält es in sich. Das materielle gesellschaftliche Sein ist also eine bestimmte Seite, ein bestimmter Zusam­menhang des materiellen Seins überhaupt. Es ist daher völlig irreführend, wenn Wetter das Verhältnis von materiellem Sein und Bewußtsein als ein Verhältnis des gesamten materiellen Seins zum individuellen Bewußtsein des Menschen interpretiert, während er das Verhältnis des materiellen gesellschaftlichen Seins zum gesellschaftlichen Bewußtsein als ein „Leib-Seele-Verhältnis" auffaßt, wo­bei eine Widerspiegelung nur der inneren, dem „Leib" selbst angehörenden, Vorgänge im Bewußtsein stattfinden soll. Die Gesellschaft ist kein Individuum, das in einen organischen Leib und sein Bewußtsein zerfällt. Deshalb ist auch das materielle gesellschaftliche Sein kein „organischer Leib" im Verhältnis zum gesellschaftlichen Bewußtsein. Und das gesellschaftliche Bewußtsein ist nicht das Produkt eines „Kollektivgehirns" und auch kein Kollektivbewußtsein im Sinne der Ganzheitsphilosophie von Othmar Spann. Das gesellschaftliche Bewußtsein existiert als eine bestimmte Seite, als ein bestimmter Zug im Bewußtsein der Men­schen und ist seinen physiologischen Grundlagen nach immer an die Existenz des menschlichen Individuums gebunden. Es ist also völlig absurd, wenn Fetscher und Wetter behaupten, daß die Analogie zwischen den Thesen „Das materielle Sein bestimmt das Bewußtsein" und „Das materielle gesellschaftliche Sein be­stimmt das gesellschaftliche Bewußtsein" „nur dann zu Recht bestünde, wenn das individuelle Bewußtsein nicht die objektive materielle Welt, sondern sein eigenes materielles Sein widerspiegeln würde. Oder aber wenn das geistige Leben der Gesellschaft — analog zum individuellen Bewußtsein — die gesamte objektive Wirklichkeit widerspiegeln würde."(24) Nach marxistischer philosophischer Auf­fassung ist die Widerspiegelung im Bewußtsein überhaupt und im gesellschaft­lichen Bewußtsein im besonderen immer die Widerspiegelung der objektiven Realität und in keinem Falle nur die des eigenen materiellen Seins. Das gesell­schaftliche Bewußtsein, in das das Bewußtsein der Menschen überhaupt nicht völlig aufgeht, das also seiner inhaltlichen Bestimmung nach enger als das Bewußtsein der Menschen überhaupt ist, spiegelt keineswegs ausschließlich die gesellschaft­lichen Verhältnisse wider, sondern auch die Natur, soweit diese in die gesell­schaftliche materielle Praxis einbezogen ist. Der materielle menschliche Lebens­prozeß, das gesellschaftliche Sein der Menschen kann weder von den natürlichen noch von den vom Menschen selbst geschaffenen materiellen Bedingungen los­gelöst werden. Die Argumentation, mit der Wetter und Fetscher versuchen, den Zusammenhang zwischen der allgemeinen These des Materialismus über das Ver­hältnis von materiellem Sein und Bewußtsein und der These der materialistischen Geschichtsauffassung über das Verhältnis von materiellem gesellschaftlichen Sein zum gesellschaftlichen Bewußtsein zu leugnen, hält also einer kritischen Analyse nicht stand.

Die Kritiker der marxistischen Philosophie haben aber diese Gehirnverrenkun­ken nötig, um die materialistische Geschichtsauffassung ihrer philosophischen Grundlage zu berauben, den Materialismus aus ihr auszutreiben, um das Ver­hältnis von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein idealistisch interpretieren zu können. Sie operieren mit der These, die auch der von Lenin scharf kritisierte Bogdanow vertreten hat, wonach gesellschaftliches Sein und gesellschaftliches Bewußtsein im genauen Sinne dieser Worte identisch seien. Fetscher begründet das — und damit zugleich seine Behauptung, der historische Materialismus sei in keiner Weise notwendig mit dem dialektischen verbunden — mit folgenden Worten: „Im dialektischen Materialismus wird die Einheit von Materie und Bewegung, der Primat des materiellen Seins behauptet, im histo­rischen Materialismus der Primat des »gesellschaftlichen Seins* — oder der »Pro­duktionsweise der materiellen Güter'. Zur Produktionsweise gehören aber durch­aus ,geistige Faktoren' — wie Produktionserfahrung und Arbeitsfertigkeiten auf der einen Seite und Eigentumsverhältnisse auf der anderen, Die gemeinsame Tätigkeit der Menschen in der Produktion ist ja nicht als ,materieller Faktor' zu bezeichnen, jedenfalls nicht im gleichen Sinne wie die verschiedenen Formen der Materie, die der dialektische Materialismus anerkennt." (25) Die Argumentation Fetschers ist nicht neu, zwingt uns aber, die Kategorien „gesellschaftliches Sein" und „gesellschaftliches Bewußtsein" etwas näher zu erläutern. Die Kategorien „gesellschaftliches Sein" und „gesellschaftliches Bewußtsein" haben vor allem erkenntnistheoretische Bedeutung. Als gesellschaftliches Sein bezeichnen wir die Gesamtheit der unabhängig und außerhalb vom Bewußtsein der Menschen existie­renden materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse, während wir das gesell­schaftliche Bewußtsein als die Widerspiegelung dieser Verhältnisse im Bewußt­sein der Menschen bezeichnen.

Die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse entstehen unabhängig und außerhalb des Bewußtseins der Menschen in der sinnlichen Tätigkeit ihres un­mittelbaren Lebensprozesses. Diese Tätigkeit ist also die Produktion — auch die ursprüngliche Produktion des Menschen selbst — und die Reproduktion des menschlichen Lebens, ist der Stoffwechselprozeß des Menschen mit der Natur. Da die Begriffe „gesellschaftliches Sein" und „gesellschaftliches Bewußtsein" gebraucht werden, um das Ursprüngliche vom Abgeleiteten, das Widergespiegelte von der Widerspiegelung zu unterscheiden, ist jede Vermengung des Begriffs gesellschaftliches Sein mit geistigen Faktoren und Beziehungen, d. h. die Ein­beziehung solcher geistiger Faktoren und Beziehungen in den Begriff des gesell­schaftlichen Seins, eine unzulässige Vermengung des Materialismus mit dem Idealismus. Nur außerhalb der Grenzen dieses erkenntnistheoretischen Gegen­satzes von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein kann man das gesellschaftliche Leben, die praktische und geistige Lebenstätigkeit der Men­schen als einen einheitlichen Prozeß betrachten, als einen einheitlichen Prozeß, der sich in zwei verschiedenen Formen, der ideellen und der materiellen Form, verwirklicht. Natürlich behauptet kein marxistischer Philosoph, die gesellschaft­lichen Verhältnisse seien ohne die Existenz von bewußten menschlichen Wesen möglich. Die Zwecke, die diese bewußten Wesen in ihrer unmittelbaren Lebens­tätigkeit verfolgen, sind also bewußte Zwecke und insofern ist die menschliche Lebenstätigkeit bewußte Lebenstätigkeit. Aber durch diese Lebenstätigkeit ent­stehen zwischen den Menschen bestimmte Verhältnisse auf Grund von Bedingun­gen, die von diesem zweckmäßigen Handeln der Menschen, diesem Bewußtsein der Menschen in ihrer materiellen Lebenstätigkeit völlig unabhängig sind. In „Materialismus und Empiriokritizismus" schreibt Lenin zu dieser Frage: „Jeder einzelne Produzent in der Weltwirtschaft ist sich dessen bewußt, daß er die und die Änderung in die Produktionstechnik hineinbringt, jeder Warenbesitzer ist sich bewußt, daß er die und die Produkte gegen andere austauscht, doch weder Produzent noch Warenbesitzer sind sich dessen bewußt, daß sie dadurch das gesellschaftliche Sein verändern," (26) Die gesellschaftlichen Verhältnisse entstehen also nicht nur auf der Grundlage von Bedingungen, die von diesem Bewußtsein in der unmittelbaren Lebenstätigkeit der Menschen völlig unabhängig sind, son­dern auch vom Bewußtsein der Menschen über diese Verhältnisse selbst, was sich schon daraus ergibt, daß die Menschen sehr häufig über diese Verhältnisse gar kein Bewußtsein, keine zusammenhängenden Vorstellungen, Ideen usw. haben. Die Behauptung von Fetscher, daß zur Produktionsweise der materiellen Güter und somit zu den materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen, zum materiellen gesellschaftlichen Sein auch geistige Faktoren gehören, ist völlig irrig. Das ge­sellschaftliche Sein ist nicht nur vom Bewußtsein der Menschen über dieses ge­sellschaftliche Sein völlig unabhängig, es ist auch vom Bewußtsein überhaupt unabhängig, da es auf Grund von Bedingungen entsteht, die von den zur unmittelbaren materiellen Tätigkeit gehörenden geistigen Faktoren völlig un­abhängig sind. Geistige Faktoren zum gesellschaftlichen Sein zu zahlen, das ge­sellschaftliche Sein als ein schon bewußtes Sein, als ein bereits geistiges Sein aufzufassen, heißt in den Idealismus verfallen, heißt den Materialismus mit dem Idealismus vermischen. Auch die Behauptung von Fetscher, daß die gemeinsame Tätigkeit der Menschen in der Produktion nicht als materieller Faktor im gleichen Sinne wie die verschiedenen Formen der Materie, die der dialektische Materia­lismus anerkennt, betrachtet werden dürfe, beweist die bei ihm bestehende Kon­fusion. Für den dialektischen Materialismus ist die Materie die außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein existierende objektive Realität. Insofern das gesell­schaftliehe Sein außerhalb und unabhängig vom gesellschaftlichen Bewußtsein existiert, gehört es natürlich zur objektiven Realität, muß es als eine bestimmte — und zwar als die höchste — Bewegungsform der Materie angesehen werden.

In diesem Zusammenhang soll kurz auf bestimmte Auffassungen eingegangen werden, wie sie zur Zeit von marxistischen Philosophen vertreten werden. So wird zum Beispiel erklärt, das menschliche Bewußtsein sei nicht nur seinen neurodynamischen, physiologischen Grundlagen nach, sondern auch als solches selbst objektiv, da das Bewußtsein eines Menschen für einen anderen Menschen zugleich Objekt sei, von außen gesehen in Form von Worten, Handlungen, Mienen­spiel, Gesten usw. in Erscheinung trete und so dem anderen Menschen zugänglich werde.(27) Entweder ist in diesem Falle der Begriff „objektiv" nicht im philo­sophischen Sinne der objektiven, vom Bewußtsein der Menschen unabhängigen Existenz gemeint, dann ist die ausdrückliche Unterscheidung zwischen neuro­dynamischen Prozessen und Bewußtsein selbst überflüssig. Kein dialektischer Materialist bestreitet, daß die Wissenschaft das sozialistische Bewußtsein in den Köpfen der Menschen, wie es in ihren Taten zum Ausdruck kommt, ebenso „ob­jektiv" untersuchen kann, wie die neurodynamischen Prozesse, die sich hierbei im Organismus der Menschen abspielen. Oder aber, objektiv soll im erkenntnis­theoretischen Sinne verstanden werden, dann ist die Behauptung über den ob­jektiven Charakter des Bewußtseins als solchem eine unzulässige Vermischung des Materialismus mit dem Idealismus. Die Behauptung, das Bewußtsein der anderen sei für mein eigenes Bewußtsein objektiv, bloß weil es wirklich außerhalb meines eigenen Bewußtseins existiert, führt notwendigerweise zu der Auf­fassung, daß das materielle Sein, das mein eigenes Bewußtsein bestimmt, nicht nur Materie, sondern auch Geist — nicht nur materieller, sondern auch geistiger Natur ist. Unter diesen Voraussetzungen würde beispielsweise das Bewußtsein der Bourgeoisie für die Arbeiterklasse zum materiellen gesellschaftlichen Sein gehören. Das gesellschaftliche Bewußtsein der Arbeiterklasse wäre die Wider­spiegelung ihres materiellen Seins und des geistigen Seins der Bourgeoisie. Es würde also in letzter Instanz nicht nur durch die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse, nicht mehr durch die Widersprüche und Gesetzmäßigkeiten des materiellen Lebens der Gesellschaft, sondern auch durch die reaktionären Ideen der Bourgeoisie bestimmt. Da umgekehrt für die Bourgeoisie das Bewußtsein der Arbeiterklasse zum materiellen gesellschaftlichen Sein gehören würde, käme am Ende heraus, daß das gesellschaftliche Bewußtsein überhaupt zum materiellen gesellschaftlichen Sein gehört. Das gesellschaftliche Sein würde aufhören, außer­halb und unabhängig vom gesellschaftlichen Bewußtsein zu existieren. Sein und Bewußtsein, gesellschaftliches Sein und gesellschaftliches Bewußtsein wären identisch, womit wir glücklich — oder besser unglücklich — wieder bei der These Bogdanows angelangt wären.

In bezug auf die erkenntnistheoretische Gegenüberstellung von Sein und Be­wußtsein, gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein — und nur in diesem Rahmen ist die Gegenüberstellung überhaupt statthaft, aber auch absolut notwendig — ist zu beachten, daß die Ursprüngiichkeit, die Unabhängig­keit des materiellen Seins keineswegs bloß gegenüber meinem Bewußtsein, son­dern gegenüber dem Bewußtsein der Menschen überhaupt festgestellt wird. Daher ist es unzulässig, das Bewußtsein eines anderen Individuums oder einer anderen Klasse als objektiv im Sinne der Erkenntnistheorie zu betrachten und es auf diese Weise notwendig in den Begriff der objektiven Realität, in den Begriff der Materie miteinzubeziehen. Es ist dies auf andere Art derselbe Fehler, den Dietzgen macht, wenn er schreibt, „der Begriff der Materie ist weiter zu fassen. Es ge­hören dazu alle Erscheinungen der Wirklichkeit, auch unser Begriffs- und Er­klärungsvermögen".(28) Wie bekannt, hat Lenin diese Auffassung als edne Kon­fusion bezeichnet, die geeignet ist, unter dem Schein, den Materialismus weiter zu fassen, Materialismus und Idealismus miteinander zu vermengen. „Der Ma­terialismus überhaupt" — schrieb Lenin — „erkennt das objektiv-reale Sein (die Materie) als unabhängig von dem Bewußtsein, der Empfindung, der Erfahrung usw. der Menschheit an. Der historische Materialismus anerkennt das gesell­schaftliche Sein unabhängig vom gesellschaftlichen Bewußtsein der Mensch­heit."(29)

Natürlich kann man nicht bestreiten, daß das Bewußtsein, sagen wir, der Ar­beiterklasse auch durch die Ideen der herrschenden Bourgeoisie beeinflußt wird. Aber das hebt weder die Ursprünglichkeit des materiellen Seins gegenüber dem Bewußtsein noch den Umstand auf, daß der entscheidende Inhalt bestimmter gesellschaftlicher Ideen auf der Grundlage bestimmter materieller gesellschaft­licher Verhältnisse, als Widerspiegelung dieser Verhältnisse entsteht, und nicht durch die verschiedenartigsten Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Ideen.

Und noch ein weiteres Problem muß hier kurz behandelt werden. In welchem Verhältnis stehen die Begriffe materielle Bedingung des Lebens und gesellschaft­liches Sein zueinander? Es wird gesagt, daß der Begriff der objektiven Be­dingungen, in bezug auf die Gesellschaft als Ganzes betrachtet, mit dem Begriff des gesellschaftlichen Seins zusammenfalle, daß er aber für eine bestimmte Klasse, etwa für die Arbeiterklasse, mit dem Begriff des materiellen gesellschaft­lichen Seins nicht zusammenfalle.(30) Man beruft sich hierbei auf Lenins Dar­legungen über die objektiven Voraussetzungen der Revolution. Lenin erklärte, die Revolution erfordere objektive Veränderungen, die nicht nur vom Willen einzelner Gruppen und Parteien, sondern auch vom Willen einzelner Klassen unabhängig sind. Aber ein Blick auf das von Lenin festgestellte Grundgesetz der Revolution zeigt, daß es sich bei diesen objektiven Faktoren der Revolution keineswegs um objektive Faktoren im Sinne der Erkenntnistheorie handelt, um objektiv im Sinne des materiellen gesellschaftlichen Seins, sondern auch um geistige Faktoren, wie z. B. um den Willen der unteren Schichten, nicht mehr in der alten Weise weiterzuleben, oder um die Krise der Politik der herrschenden Klassen usw. Wenn man diese Bedingungen als objektive Bedingungen bezeichnet, dann muß man sich darüber klar sein, daß in diesem Falle der Begriff objektive Bedingungen mit dem Begriff objektive materielle Bedingungen des Lebens der Gesellschaft nur dem Wort, nicht dem Inhalt nach, übereinstimmt. Ohne das klar auseinanderzuhalten, würden wir sonst auch diesmal den Fehler begehen, materielle Bedingungen, die unabhängig und außerhalb vom Bewußtsein der Menschen überhaupt existieren, zu verwechseln mit objektiven Bedingungen, die nur außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein einzelner Menschen, Gruppen oder Klassen existieren und daher keineswegs Bedingungen materieller Natur sein müssen. Der Begriff materielle Bedingungen des Lebens, der Gesellschaft ist eine grundlegende Kategorie des historischen Materialismus, die man nicht mit anderen Begriffen vermengen darf. Ich glaube auch nicht, daß es völlig richtig ist, diese Kategorie mit der Kategorie gesellschaftliches Sein völlig zusammen­fallen zu lassen. Die materiellen Bedingungen des Lebens der Gesellschaft er­fassen den materiellen Lebensprozeß der Gesellschaft unter dem Aspekt seiner materiellen Bedingtheit, unter dem Aspekt der materiellen Elemente selbst, die diesen Prozeß ausmachen. Der Begriff des gesellschaftlichen Seins jedoch faßt denselben materiellen Lebensprozeß der Menschen unter dem Aspekt der ge­sellschaftlichen Form, unter dem Aspekt der materiellen Beziehungen und Ver­hältnisse, die in diesem Prozeß unter den Menschen entstehen. Lenin schreibt in seinem Werk „Was sind die Volksfreunde...?", der Grundgedanke der materia­listischen Geschichtsauffassung sei, daß die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen in materielle und ideologische zerfallen und daß die materiellen „sich unabhängig vom Willen und Bewußtsein des Menschen gestalten, als die Form (das Ergebnis) der auf den Lebensunterhalt gerichteten Tätigkeit des Menschen".(31) Beide Begriffe erfassen also die gleiche objektive, das heißt außerhalb und un­abhängig von unserem Bewußtsein existierende gesellschaftliche Wirklichkeit, aber verschiedene Seiten dieser Wirklichkeit. Sie als völlig synonyme Begriffe betrachten, würde bedeuten, die materiellen Bedingungen des Lebens der Gesell­schaft mit den materiellen Verhältnissen, das heißt mit der materiellen Form des gesellschaftlichen Lebens zu verwechseln.

Aus einem undeutlichen Begreifen der Kategorien „Gesellschaftliches Sein" und „Gesellschaftliches Bewußtsein", aus der ungenügenden Beachtimg der in dieser Gegenüberstellung enhaltenen Gegenüberstellung von Materie und Geist erwachsen zuweilen auch bei marxistischen Philosophen Irrtümer in bezug auf die materialistische Geschichtsauffassung. Das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zum Beispiel, oder von materiellem Inhalt und materieller Form drückt auch ein Verhältnis von Ursprünglichem und Ab­geleitetem, aber natürlich nicht von Materie und Geist aus. Gerade das Verhältnis von Materie und Geist wird aber in dem Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein ausgedrückt. Es ist nicht uninteressant, in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß Wetter in seinem Kampf gegen die Philosophie des Marxismus das Verhältnis von Sein und Bewußtsein als ein Verhältnis von Ursprünglichem und Abgeleitetem anerkennt, indem er es „realistisch", d. h. vom Standpunkt eines theologisierten objektiven Idealismus aus interpretiert, zugleich aber gegen die Gleichsetzung dieses Verhältnisses mit dem Verhältnis von Materie und Geist „wettert".(32)

Vom Standpunkt des historischen Materialismus aus ist es daher unzulässig — wie es zuweilen geschieht(33) —, das ganze wirkliche praktische Leben und die Tätigkeit der Menschen, darunter auch ideologische Verhältnisse — wie etwa die politischen — zum gesellschaftlichen Sein zu rechnen. Eine solche Auffassung steht offensichtlich mit Lenins These über das Verhältnis der materiellen und ideologischen Beziehungen der Menschen untereinander in Widerspruch. Lenin stellt die materiellen Verhältnisse den ideologischen Verhältnissen im gleichen erkenntnistheoretischen Sinne gegenüber wie das gesellschaftliche Sein und das gesellschaftliche Bewußtsein. Die politischen Verhältnisse aber sind ideologische Verhältnisse, die auf der Grundlage der Widerspiegelung der materiellen gesell­schaftlichen Verhältnisse im Bewußtsein der Menschen, der sozialen Klassen und der Parteien entstehen. Sie gehören also nicht zu den ursprünglichen, die poli­tischen Anschauungen der Menschen bestimmenden materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern sind gerade ein ideologischer Reflex dieser Verhältnisse. Während die Klassen und die materiellen Verhältnisse dieser Klassen zuein­ander, ihre objektiven Beziehungen und Gegensätze auf der Grundlage einer be­stimmten Produktionsweise entstehen, unabhängig und außerhalb des Bewußt­seins, unabhängig davon, ob es die Menschen wollen oder nicht, gehört der be­wußte, politische Kampf der Klassen gegeneinander zu den ideologischen ge­sellschaftlichen Verhältnissen.

Die politischen, juristischen, moralischen usw. Verhältnisse sind ideologische Formen des gesellschaftlichen Lebens, tragen Widerspiegelungscharakter und dürfen daher nicht zum materiellen gesellschaftlichen Sein, zu den materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen gerechnet werden. Engels erklärt in seiner Schrift über Ludwig Feuerbach: „Im Staat stellt sich uns die erste ideologische Macht über den Menschen dar."(34) Natürlich heißt das nicht, daß sich der Staat nicht auch materieller Mittel bedient, aber ihn deswegen zum materiellen gesellschaft­lichen Sein rechnen, hieße dasselbe, wie die Kunst zum materiellen Sein der Ge­sellschaft rechnen, die sich auch materieller Ausdrucksformen bedient.

Noch von einer anderen Position aus wird die These des historischen Materia­lismus über das Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein zuweilen von den idealistischen Philosophen bekämpft. Entweder unterstellen sie eine metaphysische Auslegung dieses Verhältnisses und behaup­ten, daß wir die Rolfe des gesellschaftlichen Bewußtseins, die Rolle der gesell­schaftlichen Ideen im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß leugnen. Oder sie geben die Anerkennung der aktiven Rolle des gesellschaftlichen Bewußtseins durch den historischen Materialismus zu, bezichtigen uns aber dafür der In­konsequenz oder gar der Preisgabe unseres materialistischen Standpunktes. Die These der materialistischen Geschichtsauffassung über das Verhältnis von ge­sellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein sagt an sich noch nichts über die dialektische Wechselwirkung, die zwischen gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein besteht, aus. Daher wird diese These von unseren bürgerlichen Kritikern gewöhnlich in dem Sinne ausgelegt, als ob das gesell­schaftliche Bewußtsein ausschließlich eine passive Widerspiegelung des mate­riellen gesellschaftlichen Seins verkörpere, ohne die Fähigkeit zu besitzen, auf dieses zurückzuwirken. Die Hervorhebung und theoretische Ausarbeitung der aktiven Rolle des gesellschaftlichen Bewußtseins bei der Gestaltung des mate­riellen sozialistischen gesellschaftlichen Seins durch Lenin wird von unseren Kritikern dazu benutzt, uns der Inkonsequenz, des Eklektizismus und des Volun­tarismus zu bezichtigen. Extrem zugespitzt wird der Vorwurf der Inkonsequenz bei Walter Theimer in dem Satz ausgedrückt: „Die materialistische Geschichts­auffassung sagt einen Tag voraus, von dem an ihre eigenen Gesetze nicht mehr gelten werden. Das ist der Tag, an dem die klassenlose Gesellschaft erreicht ist. Zu diesem Ziel strebt die Dialektik der Geschichte, nur um sich dann selbst auf­zuheben. Dann wird der Mensch nicht mehr gezwungen sein, den wirtschaftlichen Verhältnissen zu gehorchen; er tut den Sprung ,aus dem Reich der Notwendig­keit in das Reich der Freiheit'. Von da ab wird die Geschichte anscheinend nur noch von idealen Faktoren beherrscht werden."(35) Natürlich gibt es keinen solchen Tag, von dem ab die Geschichte nur noch von idealen Faktoren beherrscht wird und die materialistische These in eine idealistische umschlägt, und es wird ihn niemals geben. Es ist nicht erforderlich, die Haltlosigkeit dieses gegnerischen Arguments ausführlich zu widerlegen, da Wechselwirkung bekanntlich immer das Übergreifen einer Seite, eines primären Faktors einschließt und damit das Ver­hältnis von Ursprünglichem und Abgeleitetem keinesfalls aufhebt. Auch im So­zialismus ist selbstverständlich das gesellschaftliche Bewußtsein die Wider­spiegelung des gesellschaftlichen Seins. Auch im Sozialismus werden die Men­schen in bestimmte sozialistische Produktionsverhältnisse hineingeboren, die außerhalb und unabhängig von ihrem Bewußtsein sind, werden ihre Ideen und ihr Wollen von diesen materiellen Verhältnissen bestimmt. Es ist aber not­wendig, unter sozialistischen Entwicklungsbedingungen der Gesellschaft die These zu präzisieren, daß die materiellen Verhältnisse außerhalb und unabhängig vom gesellschaftlichen Bewußtsein der Menschen existieren. Im Unterschied zu den Produktionsverhältnissen der bisherigen Klassengesellschaft werden die sozialistischen Produktionsverhältnisse bewußt geschaffen und entstehen nicht in einem spontanen Selbstlauf der Geschichte. Können wir unter diesen Bedingungen sagen, daß die ökonomischen Verhältnisse im Sozialismus, die ein grundlegender Bestandteil der materiellen Verhältnisse der Gesellschaft überhaupt sind, außer­halb des gesellschaftlichen Bewußtseins und unabhängig von ihm existieren? Für jeden Marxisten ist es einleuchtend, daß die sozialistischen Produktionsverhält­nisse, ebenso wie die kapitalistischen, außerhalb des Bewußtseins der Menschen existieren, denn es sind Verhältnisse, objektive Zusammenhänge zwischen den Mensehen, die in ihrer sinnlichen, auf die Erlangung des Lebensunterhalts gerichteten Tätigkeit entstehen, nicht nur ausgedachte, nicht nur im Bewußtsein der Menschen existierende Verhältnisse. Aber wir können nicht schlechthin sagen, daß es von dem Bewußtsein der Menschen unabhängige Verhältnisse sind, da sie ja zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit mit vollem Bewußt­sein von den Menschen geschaffen werden. Heißt das aber, daß die sozialistischen Produktionsverhältnisse ihren letzten Grund im Bewußtsein der Menschen haben? Nein, das heißt es keineswegs. Wenn die Menschen die sozialistischen Produk­tionsverhältnisse mit Bewußtsein schaffen, so gelangen sie zu dem Bewußtsein der Notwendigkeit der sozialistischen Produktionsverhältnisse doch erst auf der Grundlage der geistigen Widerspiegelung der objektiven Widersprüche zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen im Kapitalismus, auf Grund also der objektiven Notwendigkeit, die außerhalb und unabhängig von ihrem Bewußtsein besteht. Es genügt nicht, sagt Marx, daß der Gedanke zur Wirklichkeit drängt, die Wirklichkeit muß sich auch zum Gedanken drängen. Die Menschen könnten die sozialistischen Produktionsverhältnise gar nicht be­wußt schaffen, wenn nicht schon außerhalb und unabhängig von ihrem Bewußt­sein die materiellen Bedingungen der sozialistischen Produktionsverhältnisse gegeben wären. Wir können also zusammenfassend sagen: Die sozialistischen Produktionsverhältnisse, die außerhalb des Bewußtseins der Menschen objektiv als materielle Verhältnisse der Gesellschaft existieren, sind vom Bewußtsein der Menschen unabhängig ihrer objektiven Notwendigkeit nach und ihrer mate­riellen Möglichkeit nach. Sie sind jedoch vom Bewußtsein der Menschen, im Unterschied zu früheren Produktionsverhältnissen, nicht unabhängig ihrer Ver­wirklichung nach. Es ist bei dieser Problematik scharf zu trennen zwischen der erkenntnistheoretischen Gegenüberstellung des Materiellen und Ideellen, des materiellen gesellschaftlichen Seins und des gesellschaftlichen Bewußtseins auf der einen Seite und der weitergehenden Frage nach der Rolle des gesellschaft­lichen Bewußtseins als Moment des objektiv gesetzmäßigen Entwicklungs­prozesses der Gesellschaft auf der anderen Seite. Die Verwechslung dieser beiden Seiten des Problems ermöglicht den idealistischen Kritikern des historischen Ma­terialismus nicht nur die absurde Behauptung, in der klassenlosen Gesellschaft schlage die materialistische in idealistische Geschichtsauffassung um, sie hat auch bei marxistischen Philosophen Verwirrung hervorgerufen. Die Verwechslung dieser beiden Seiten des Problems führte z. B. bei Auseinandersetzungen unter deutschen Marxisten über das Problem der Spontaneität und Bewußtheit der gesellschaftlichen Entwicklung zur Gleichsetzung der Spontaneität mit dem Be­griff der objektiven, vom Bewußtsein unabhängigen Existenz des gesellschaft­lichen Seins. Benary zum Beispiel vermengte die Frage nach dem Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein mit der Frage nach der Rolle der Bewußtheit im Geschichtsprozeß. Er setzte das spontane Wirken der objektiven Gesetze des gesellschaftlichen Seins mit ihrem objektiven Cha­rakter überhaupt gleich und behauptete daher, daß die Anerkennung des objek­tiven Charakters dieser Gesetze mit der Anerkennung ihres spontanen Wirkens verbunden sei. In Wahrheit aber hören die objektiven Gesetze des objektiv und unabhängig vom Bewußtsein existierenden gesellschaftlichen Seins nicht auf, objektive Gesetze zu sein, wenn die Menschen sie bewußt zu bestimmten Zwecken wirken lassen, sie bewußt ausnutzen. Benary machte sich also jener übertriebenen, überschwenglichen metaphysischen Gegenüberstellung von Sein und Bewußtsein schuldig, vor der Lenin in seinem Werk „Materialismus und Empiriokritizismus" nachdrücklich gewarnt hat: „Die Grenzen der absoluten Notwendigkeit und ab­soluten Wahrhaftigkeit dieser relativen Gegenüberstellung sind eben jene Grenzen, die die Richtung der erkenntnistheoretischen Forschungen bestimmen. Außer­halb dieser Grenzen mit der Gegensätzlichkeit von Materie und Geist, von Phy­sischem und Psychischem als mit einer absoluten Gegensätzlichkeit zu operieren, wäre ein gewaltiger Fehler."(36) Es ist aber ein Fehler, die relative, nur erkenntnis­theoretisch gerechtfertigte Gegenüberstellung von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein, von objektiver gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeit und geistiger Widerspiegelung dieser Gesetzmäßigkeit in den Köpfen der Men­schen zu verabsolutieren und zu vergessen, daß die Materialisten außerhalb dieser Grenzen die widersprüchliche Einheit von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein im objektiven gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß anerkennen, das Bewußtsein als Moment der objektiven Gesetzmäßigkeit selbst, als Moment der objektiven gesellschaftlichen Praxis begreifen. In seinem Werk „Materialis­mus und Empiriokritizismus" hat uns Lenin das theoretische Rüstzeug gegeben, um uns auch in diesen komplizierten Fragen des gesellschaftlichen Lebens zu­rechtzufinden, hat er die Versuche, den Materialismus aus unserer Geschichts­auffassung auszutreiben, ebenso entschieden zurückgewiesen wie die Versuche, den Materialismus durch die reaktionäre idealistische Philosophie der toten Reaktion zu ersetzen. Hierin liegt seine unausschöpfliche Bedeutung auch für die aktuellen Probleme des historischen Materialismus.


Fußnoten

1) Z. B. in der „Roten Fahne" Nr. 289 vom 9. 12. 1927

2) Z.B. „Die Internationale" Jahrgang 1927. S. 196 und S. 239 (Deborin: Lenin und der dialek­tische Materialismus). „Die Internationale" Jahrgang 1928. Heft 1 (A. Fried: Der Kampf gegen den philosophischen Revisionismus) und Heft 9. S. 273 (M. Jablonski: Die Widerlegung des Kantschen „Ding an sich" in Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus") „Internationale Pressekorrespondenz" Jahrgang 1927. Nr. 117 und 119 (Johannes Wertheim: W. I. Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus"). Von den Artikeln in der Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus" wird in diesem Zu­sammenhang abgesehen.

3) Vgl. „Der Klassenkampf" Jahrgang 1928. Nr. 2 (Otto Jenssen: 50 Jahre Anti-Dühring). „Sozialistische Bildung" Jahrgang 1930. Nr. 9 (Leo Friedjung: Das kommunistische Ver­lagswesen in Deutschland). „Die Bücherwarte". Zeitschrift für sozialistische Buchkritik. Jahr­gang 1928. Nr. 10 (Hinweis auf „Materialismus und Empiriokritizismus")

4) Siehe G. Waletzki: Warum wurde eine vollständige Übersetzung der Lenin-Werke in alle aus­ländischen Sprachen notwendig? In: Internationale Pressekorrespondenz. Berlin Jahrgang 1928. Nr. 109

5) Vgl. Friedmaxm: Lenins Kampf gegen die philosophischen Kompromißler. In: Atheist. 1932. Nr. 8
Kurt Kramer: Lenins Kampf und der „kritische Marxismus*4. In: Atheist. 1932. Nr. 11 Hermann Scheler-Titus: Der Kampf der philosophischen Kompromißler gegen Lenin und den Leninismus. In: Atheist. 1932. Nr. 11

6) Vgl. Kurt Kramer: Lenins philosophisches Testament. In: Monistische Monatshefte. Jahrgang 1928

7) Vgl. Karl Kautsky: Die materialistische Geschichtsauffassung. Berlin 1927. Band 1. S. 28

8) Ebenda

8a) Derselbe Stammer hat kürzlich auf dem Studentenkongreß gegen Atomrüstung wieder eine un­rühmliche Rolle gespielt

9)  „Karl Marx von heute". Hannover 1953. S. 29 u. 46

10) Walter Theimer: Der Marxismus. Bern 1950. Seite 49

11) Franz Mehring: Kant, Dietzgen, Mach und der historische Materialismus. In: Neue Zeit.
Jahrgang 1909. Seite 173

12) W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. Berlin 1949. Seite 314

13) Iring Fetscher: Stalin über dialektischen und historischen Materialismus. Frankfurt-Main/ Berlin/Bonn 1956. Seite 78

14) Marx/Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Band II. Berlin 1952. S. 360

15) Marx/Engels: A. a. 0. S. 350

16 Ludwig Feuerbach: Kleine philosophische Schriften. Leipzig 1950. S. 73

17) Marx/Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Bd. I. Berlin 1951. S. 338

18) Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. S. 320

19) Vgl. Karl Marx: Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt. In: Marx/Engels:
Die Heilige Familie und andere philosophische Frühschriften. Berlin 1953. S. 95

20) Marx/Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Band II. S. 376

21) Marx/Engels: Die deutsche Ideologie. Berlin 1953. S, 42

22) G. A. Wetter: Der dialektische Materialismus — seine Geschichte und sein System in der
Sowjetunion. Freiburg 1953. S. 248

23) Ebenda. S. 249

24) Iring Fetscher: Stalin über dialektischen und historischen Materialismus. S. 77

25) Ebenda: S. 78/79

26) W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. S. 315

27) W. P. Tugarinow: Die Kategorien „Gesellschaftliches Sein", und „Gesellschaftliches Bewußt­sein". In: Sowjetwissenschaft — Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge 1958. Nr. 6, S. 653

28) Zitiert nach W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. S. 235

29) W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. S. 316/17

30) G. J. Glesermann: Über den Begriff „Gesellschaftliches Sein". In: Sowjetwissenschaft — Ge­sellschaftswissenschaftliche Beiträge. Nr. 10/1958. S. 1229/30

31) W. I. Lenin: Was sind die „Volksfreunde* und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten? Berlin 1950. S. 32

32) Vgl. G. A. Wetter: A. s. 0. S. 310-315

33) Vgl. W. P. Tugorinow: A. a. 0. S. 656

34) Marx/Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Band II. S. 369

35) Walter Theimer: Der Marxismus. Bern 1950. S. 117

36) W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus« S. 238

 

Quelle: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 7, Heft 1, Berlin 1959, S. 46-64
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