Vormerz
Eine Kolumne

von Richard Albrecht

02/2020

trend
onlinezeitung

10. 02. 2010


Bildquelle: wikimedia.org

I.

"Volksparteien in Minderheitslage: Inzwischen dürfte eine sechzig Jahre andauernde Politikgeschichte zunächst der Alt-BRD und seit 1990 des neuen Gesamtdeutschland ihr Ende gefunden haben. Sie begann mit der Bundestagswahl 1957, die die Unionsparteien mithilfe ihrer Siegerlosung Keine Experimente erfolgreich in Form der absoluten Mehrheit bestritten. Das brachte so aparte Leitideologien wie die von der klassenüberwindenden nivellierten Mittelstandsgesellschaft (des damals prominenten Soziologen Helmut Schelsky) hervor. Diese blieb dominant bis Mitte der 1960er Jahre. Und konnte bis in die 1990er Jahre unter stärkerem Einbezug der zweiten volksparteilichen Säule SPD als sozialpartnerschaftlicher rheinischer Kapitalismus und später noch als - zunehmend auslaufendes - Mo
dell Deutschland wiederbelebt und insofern erhalten werden.

Die seit 2009 beobachtbare und nun mit der letzten Bundestagswahl Ende September 2017 offen sichtbare Minderheitslage der herkömmlichen Volksparteien in Deutschland mag für die Polittriade CSUCDUSPD, ihre Funktionäre und Wähler allerlei Geschlechter so bitter wie unwiederbringlich, unhintergehbar, irreversibel sein. Der Fakt: Volksparteien als politische Minderheit konnte 2017 durch irgendwelche Politupdates mit Konfigurationen wie eine Jamaikakoalition genannte Schwampel oder bei deren Scheitern eine grün erweiterte Parteientriade von CDU, SPD, GRÜNE als schwarzrotgrüne Afghanistan- oder Keniakoalition nicht einmal kosmetisch überpinselt, geschweige denn grundlegend und dauerhaft überwunden werden. [...]

Sozialstrukturell-manifeste Enwicklungen und dauerhafte Prekarisierungsprozesse lassen sich durch irgendwelche taktizistischen Politmätzchen welcher Ausprägung auch immer nicht aus der Welt schaffen. Deren praktisch-politische Wirkungen sind unübersehbar - etwa als wie bisher nicht mehr einfach handhabbare konsensbestimmte, sondern künftig stärker konflikt- und interessensbezogene Formen auch des parlamentarisch-institutionellen Handelns einschließlich Regierungsbildung auf der ganzdeutschen Bundesebene." (FORUM WISSENSCHAFT 2.2018, April 2018)

II.

Autorisches Postscript: bei der letzten Landtagswahl im Freistaat Thüringen am 27. Oktober 2019 gab´s 1.729.942 Wahlberechtigte mit 1.100.040 abgegebenen gültigen Stimmen. Das waren mit 63,6 Prozent Wähler/innen der bisher niedrigste und mit 36,4 Prozent Nichtwählerinnen der bisher höchste Anteil in der (alten und neuen) BRD überhaupt.

Etwa fünfzig Jahre vorher gab´s eine relevante, von frankfurtistischen Soziologen angestoßene öffentliche politische Debatte um Legitimationsprobleme des im Spätkapitalismus. Und nochmal´n paar Jahrzehnte früher, Ende der 1930er Jahre, veröffentlichte Ernst Bloch in einer Exilzeitschrift diese bittere Selbstkritik:

„Die Linke hat das wahre Bewußtsein, aber auch daß es ein falsches, sich sperrendes Bewußtsein gibt, ist wahr. […] Daher schlugen die Erkenntnisse der fortgeschrittensten Klasse in all ihrer Wahrheit hier nicht ein. […] Daher konnte unter den Betrogenen […] die Lüge derart wahr wirken, die Wahrheit blieb derart ungesehen. Daher reüssierten die (höchst gleichzeitigen) Betrüger, hatten die ungeheuerliche Zahl der Betrogenen und Betrügbaren zur Verfügung, die nationalsozialistische Massenbasis aus ungleichzeitigem Widerspruch.“ Und: „Die Nazis haben betrügend gesprochen, aber zu Menschen, die Sozialisten völlig wahr, aber von Sachen; es gilt nun, zu Menschen völlig wahr von ihren Sachen zu sprechen.“ (Ernst Bloch, Sokrates und die Propaganda [1936]; Kritik der Propaganda [1937]; zitiert nach: ders., Vom Hazard zur Katastrophe. Politische Aufsätze 1934-1939 Hg. Oskar Negt. Frankfurt/M. 1972: 291-318; 195-206)

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