Faschismus und Fundamentalismus
Varianten totalitärer Bewegung im Spannungsfeld zwischen „prämodernem“ Traditionalismus und kapitalistischer „Moderne“
von Hartmut Krauss
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I. Kollision und Synthese "prämoderner" und "moderner" Herrschaftskultur
II.
Die kapitalistische „Moderne“ als struktureller Nährboden totalitärer Bewegungen
III.
Massenwirksamkeit und dehumanisierende Potenz der faschistischen Ideologie
IV. Islamischer Fundamentalismus als totalitärer Traditionalismus

Eine zentrale Problematik, die die gesellschaftswissenschaftliche und politische Diskussion des 2o. Jahrhunderts entscheidend bewegt und geprägt hat, liegt in der Frage nach dem Konnex zwischen der Entfaltung der „modernen“ bürgerlich-kapitalistischen Vergesellschaftungsweise und dem Phänomen der Herausbildung und Etablierung totalitärer Bewegungen und Regime. Dabei verweist bereits die kriegerische Kollision des deutschen Faschismus mit dem sowjetischen Stalinismus als dem epochal herausragenden Großereignis auf eine weitere, tieferliegende dialektische Konstellation, nämlich auf die tatsächlich realisierte Möglichkeit der „Faschisierung“ bzw. totalitären Restrukturierung des bürgerlich-kapitalistischen Systems einerseits sowie auf die totalitäre Deformierung einer ursprünglich antikapitalistisch-revolutionären Massenbewegung und Übergangsgesellschaft andererseits.

 Als dritte Säule in der kulturübergreifenden Formierungslogik totalitärer Strömungen haben sich nun - zunächst im Schatten der eben genannten Kollision und dann verstärkt wahrgenommen im Verlauf des Entkolonialisierungsprozesses nach 1945 und der Auflösung der Blockkonfrontation nach 1989- religiös inspirierte fundamentalistische Bewegungen und Regime herausgebildet, die in der westlichen Optik primär unter dem Stichwort „islamischer Fundamentalismus“ thematisiert werden. Auch ohne bislang ein vergleichbares KZ- oder GULAG-System hervorgebracht zu haben, ist das bisher gezeigte alltagsterroristische Dehumanisierungspotential dieses religiösen Fundamentalismus beachtlich.

 Im Zuge einer Wesensanalyse totalitärer Bewegungen drängt sich konsequenterweise die Frage des Vergleichs zwischen den genannten Erscheinungsformen auf bzw. präziser: die Frage nach dem Verhältnis von Übereinstimmung und Differenz. Es geht folglich um die genauere Beleuchtung des polykulturell wirksamen Nährbodens totalitärer Formierungsprozesse. Im Brennpunkt steht hierbei der Zusammenprall zwischen grundlegenden Aspekten „moderner“ gesellschaftlicher Lebensreproduktion und prämodernen bzw. traditionalen Herrschaftsstrukturen, Lebensformen, Bewußtseinsinhalten und Interessen. Dabei geht es mir im folgenden nicht in erster Linie um die politikwissenschaftlich-strukturalistische Erfassung der Eigenschaftsmerkmale etablierter totalitärer Herrschaftssysteme (vgl.Borggräfe/Schmidt-Soltau 1995 und Lozek 1995), sondern um die subjektive Entstehungs- und Wesenslogik (neo-)totalitärer Bewegungen. Damit rücken u.a. folgende Fragen ins Blickfeld: Worin liegen die Mobilisierungs- und Rekrutierungsursachen totalitärer Bewegungen? Welche subjektiven (weltanschaulichen, kognitiven, mentalen, persönlichkeitsstrukturellen etc.) Anknüpfungspunkte ermöglichen eine totalitäre Bewegung mit Massenanhang? Wie erzeugt und reorganisiert das „totalitäre Zentrum“ Massenloyalität? Welche Formen, Strukturen und Wirkungen der totalitären ‚Subjektzurichtung‘ sind feststellbar?

 I. Kollision und Synthese "prämoderner" und "moderner" Herrschaftskultur

 Von elementarer Bedeutung - nicht nur für totalitarimus- und fundamentalismustheoretische, sondern für gesellschaftswissenschaftliche Analysen überhaupt - ist die Konstitution des konzeptionsleitenden ‚Moderne’-Begriffs. Im Anschluß an Max Weber werden als grundlegende Momente der „Moderne“ zumeist folgende Tendenzen/Aspekte angeführt: Herauslösung der Menschen aus traditionellen (ständisch und lokal geprägten) Lebensformen, Gemeinschaften, Bindungen; Lösung von religiösen Weltbildern und Wertorientierungen; die Ausdifferenzierung autonomer Wertesphären mit eigengesetzlichen Rationalitätsstandards und Geltungsansprüchen (Wissenschaftschaft; Moral/Recht; Kunst); Säkularisierung/Rationalisierung der Lebensführung und der gesellschaftlichen Orientierungssysteme; Durchsetzung einer szientistisch-instrumentalistischen Weltsicht mit den korrelativen Prinzipien Machbarkeit, Effizienz, Leistung; stärkere Akzentuierung der Autonomie des Individuums gegenüber der Gemeinschaft sowie der Gattung gegenüber transzendentalen Ordnungsvorstellungen; die Konzeption des modernen (selbstreflexiven) Subjekts als gleichberechtigter Träger von Rechten mit universellem Geltungsanspruch.

 In kritischer Perspektive sind nun aber folgende Unzulänglichkeiten dieses gesellschaftstheoretisch und sozialphilosophisch virulenten „Moderne“"-Konzepts hervorzuheben:

1) Der Begriff der „Moderne“ reflektiert auf „systemabstrakte“ Weise einige qualitative Merkmale im Übergangsprozeß vom mittelalterlichen (europäischen) Feudalismus zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation, ohne diese allerdings mit den tragfähigen Marxschen Einsichten in die „kapitallogischen“ Wesensgrundlagen der „postfeudalen“ Gesellschaftsentwicklung zu vermitteln. Damit wird aber die systemprägende kapitalistische Grundkonstitution der „modernen“ Zivilisation im Sinne einer mechanistisch-additiven („faktorenreihenden“) Sichtweise verfehlt bzw. auf verzerrende Weise marginalisiert. Während nämlich im ökonomistischen Verständnis des traditionellen Parteimarxismus die Eigenlogik des Politischen, Kulturellen, Ideologischen, Subjektiven etc. ausgeblendet blieb bzw. unvermittelt aufs Kapitalverhältnis zurückgeführt wurde, verfällt die „Moderne“-Theorie in einen gegenläufigen „konstruktivistischen“ Mechanizismus: Der gesamtgesellschaftliche Struktur- und Entwicklungszusammenhang wird von seinem „kapitallogischen“ Kern abgetrennt und die Gesellschaft in vorgeblich von einander unabhängige Teilsysteme aufgesplittet, die im nachhinein dann wiederum theoretisch beliebig „vernetzt“ werden. Auf diese Weise wird aber nicht nur die prozessierende Ganzheitlichkeit des Systems verfehlt. Hinzu tritt die weitgehende Ausblendung bis Verrzerrung der intersystemischen Durchdringungs-, Wechselwirkungs- und Widerspruchsverhältnisse.

2) Ausgeblendet bleibt der historisch-gesellschaftlich zentrale Tatbestand, daß sich der Übergang zur „Neuzeit“ im wesentlichen als Prozeß der Modernisierung der antagonistischen Zivilisation vollzieht. Zwar wird die traditionale geburtsrechtlich-personalistische Form unmittelbarer Herrschaftsausübung überwunden; an ihrer Stelle tritt aber de facto eine rationalisierte/versachlichte Form vermittelter Herrschaftspraxis gestützt auf den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse. Die qualitative Unterschiede negierende und somit tendenziell amoralische Quantifizierungslogik des Kapitalverwertungsprozesses avanciert zu einem zentralen Brennpunkt der Moderne, die sukzessive alle Sphären und Dimensionen der „modernen“ Gesellschaft durchdringt und paralysiert sowie die traditionalen Wertorientierungen und Verhaltensmaßstäbe aushöhlt bzw. den neuen „verwertungsrationalen“ Standards subsumiert.

3) Verdrängt wird desweiteren die grundlegende Tendenz der kapitalistischen Selbstnegation der Moderne in Gestalt der strukturell notwendigen Durchbrechung des Universalismus bzw. der Desavouierung der bürgerlichen Gründerideale. Ausdruck hierfür ist die Klassenspaltung in Kapitaleigentümer und „doppelt freie“ Lohnabhängige und die damit gesetzte asymmetrisch-herrschaftförmige Ungleichverteilung von Realitätskontrolle. „Ohne die Durchbrechung von Universalismus und Gleichheitsprinzip, die in der Klassenspaltung liegt, könnte der Kapitalismus weder entstehen noch seine Dynamik von Akkumulation und Revolutionierung der Produktivkräfte entfalten. Der Partikularismus in der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit ist ein Geburtsfehler des Kapitalismus, eines seiner konstitutiven Merkmale von Anfang an, nicht eine späte, durch das Rückschlagen einer verselbständigten Ökonomie auf die Lebenswelt bedingte Deformation (Hauck 1992, S.215). So kommt es schließlich zur Neukonstituierung asymmetrisch-herrschaftsförmiger Positionsstrukturen unter der deklamatorischen Hülle formal-abstrakter Prinzipien, Losungen, Leitideale. Das  betrifft - vor dem Hintergrund der ökonomisch verwurzelten Klassenspaltung - insbesondere

a) die Ungleichverteilung von Partizipations- und  Kommunikationschancen im öffentlich-politischen Konfliktraum;

b) die Disparität von Durchsetzungschancen im monetarisierten (!) Rechtssystem (Abhängigkeit der Geltendmachung von Rechten vom Geldbeutel);

c) die soziostrukturell gesetzten Aneignungsbarrieren im Prozeß der gesellschaftlichen Wissens- und Informationsdistribution;

d) die Ersetzung feudaler Willkürherrschaft und Tyrannei durch bürokratisch-administrative „Sachzwänge“, Vorschriften, Auflagen, Observationen etc.;

e) die klassenstrukturell induzierte Verfestigung asymmetrischer Ressourcenausstattung für kommunikative Verständigungsprozesse in unterschiedlichsten Diskursdimensionen

4) Die rationalistische „Entzauberung der Welt“ (Weber) in Form des Dominantwerdens eines utilitaristisch-zweckrationalen Denk- und Handlungstyps ist faktisch begrenzt auf den individualistisch-einzelkapitalistischen Tätigkeitsrahmen. Bezogen auf den „Totalitätszusammenhang“ des gesamtgesellschaftlichen Lebensprozesses bleibt freilich der „mystische Nebelschleier“ in Gestalt fetischisierender Bewußtseinsformen erhalten. In dem Maße nämlich, wie dem bürgerlichen Bewußtsein in seiner Unmittelbarkeitsfixierung die Ganzheitlichkeit des Marktgeschehens als fatalistisches Chaos bzw. chaotisches Schicksal erscheint, ist hiermit auch eine beständig sprudelnde Quelle für Irrationalismen, Mythen und Regressionen aller Art gegeben. Der im bürgerlichen Weltverhältnis verankerte „okzidentale Rationalitätsstyp“ erweist sich demnach als entscheidend reduzierter bzw. „halbierter“ Rationalismus. 

Mit der historischen Durchsetzung und Entfaltung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation samt ihrer tragenden ökonomischen, politischen, rechtlichen, geistig-moralischen etc. Strukturen und Regulative wird folglich das grundlegende Prinzip der antagonistischen Zivilisation, nämlich die zwischenmenschliche Ausbeutung, Unterdrückung und Herrschaftausübung nicht nur nicht aus der Welt geschafft, sondern auf „systemfunktionale“ Weise rationalisiert, effektiviert, modernisiert. Indem somit einerseits überlieferte Herrschaftsverhältnisse systematisch „umgebaut“, partiell aufgehoben und partiell verschärft werden, andererseits traditionelle Sozialbeziehungen und institutionelle Gefüge zerbersten oder erodieren und die betroffenen Subjekte materiell (z.B: räumlich, existenziell, qualifikatorisch), und ideell (sinn- und orientierungsstrukturell) durcheinandergewirbelt werden, ruft das folgende Gegenkräfte auf den Plan:

1) das neuformierte Spektrum der subalternen Klassen, in deren widerständige Praxis zunächst noch vorkapitalistische bzw. „prämoderne“ Orientierungen, Erlebnisweisen, Mentalitätsformen etc. eingehen;

2) das Spektrum der tendenziell entprivilegierten und in ihrer ehemaligen („angestammten“) Vormachstellung bedrohten traditionellen Herrschaftsschichten samt ihrer „nutznießenden“ Klientel.

Die „kapitalistische Moderne“ sieht sich somit von Beginn an nicht nur mit den (progressiven, auf Substantiierung der „Gründerideale“ ausgerichteten) Ambitionen insbesondere der Arbeiterbewegung konfrontiert, sondern ebenso mit einer reaktionär-antimodernistischen Protestbewegung, die ihren bedrohten bzw. abhanden gekommenen „prämodernen“ Privilegien und Lebenssicherheiten nachtrauert. Bedeutsam ist nun, daß sich diese doppelte Stimulation gegenläufiger „Protestbewegungen“ im globalen Entfaltungsprozeß der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftformation historisch ungleichzeitig vollzieht, d.h. stets dann und dort einsetzt, wo der kapitalistische Durchdringungsprozeß traditionaler bzw. „prämoderner“ Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnisse in Gang kommt bzw. ein bestimmtes Maß der Zersetzung erreicht.

Als eine relevante Dimension in diesem Spektrum der komplex-dialektischen Bewegungs- und Interessendynamik der kapitalistischen Gesellschaftsformierung läßt sich die Kollision und Verknüpfung vonprämodern"“/traditionalen und „modernen“/kapitalistischen Tätigkeitsformen, Handlungsstrategien, Institutionen, Einstellungen, Orientierungen etc. herauslösen. Diese eigentümliche antagonistische Synthese bildet m.E. die konstitutive Möglichkeitsbedingung totalitärer Bewegungen. Sie fungiert als der genetische Ort für diese spezifische Form der „sozialen Pathologien der Moderne“ (Honneth 1994). 

Zygmunt Baumann (1992) hat beispielsweise herausgearbeitet, daß der Holocaust, also die fabrikmäßig durchgeführte und bürokratisch organisierte Judenvernichtung der Nazis, in zentralen Elementen der „modernen Zivilisation“ ihre notwendige Voraussetzung hat. So stützte sich der nazistische Massenmord sowohl auf die technischen Errungenschaften der Industriegesellschaft als auch auf die Effizienz der Bürokratie. „Das ist die erschütternste Lehre aus der Analyse des ‚komplexen Phänomens Auschwitz‘, die Tatsache, daß die Wahl physischer Vernichtung als des richtigen Mittels zur Entfernung der Juden das Ergebnis eines bürokratischen Entscheidungsprozesses war, bei dem Kosten-Nutzen-Überlegungen, Finanzfragen und einheitliche Regelauslegung eine Rolle spielten...In keiner Phase kollidierte die ‚Endlösung‘ mit dem rationalistischen Credo effizienter, optimaler Zielverwirklichung“ (S.30f.). In geistig-motivationaler („antriebsregulatorischer“) Hinsicht allerdings beruht der „Verwaltungsmassenmord“ (Arendt) wie generell der nazistische Vernichtungsterror auf einem radikalen Bruch mit der allgemeinmenschlich-aufklärerischen „Gründungsideologie“ der „Moderne“: An die Stelle der universalistisch-humanistischen Maxime, daß alle Menschen frei und gleich sind und unverletzbare Menschenrechte besitzen, tritt die partikularistisch-rassistische Maxime, daß bestimmte (z.B fremdrassige) Menschengruppen als dysfunktional zu definieren und für die Liquidierung freizugeben sind.

Martin Riesebrodt (1990), der die Bewegungen der amerikanischen Protestanten (1910-1928) und der iranischen Schiiten (1961-1979) vergleichend untersucht hat, gelangt zu der Einschätzung, daß der Fundamentalismus einen alternativen Entwurf darstellt, „der die technische Seite westlicher Moderne mit je nach Kultur recht unterschiedlich ‚modernisierten‘ Versionen patriarchalischer Organisationsformen und Sozialmoral verbindet“ (S.249). „Wenig Probleme bereitet dem Fundamentalismus wie auch vergleichbaren Bewegungen die Nutzung modernster Technologie und Technik. Zum einen sieht er darin die Chance, seinen Einfluß zu verbreitern; zum anderen werden sie hinsichtlich ihrer sozialstrukturellen Implikationen als ethisch ‚neutral‘ angesehen“ (ebenda, S.247).

Es handelt sich folglich bei der ‚totalitären Synthese‘ nicht um eine kontingente (zufällige) Legierung „prämoderner“ und „moderner“ Elemente, sondern um die Verknüpfung traditionaler partikularistischer Herrschaftsideologie und „moderner“ Tätigkeitsmittel, Verfahren, Strategien. Konkret: Es geht um die subsumierende Indienstnahme bzw. Einverleibung "moderner" Hilfsmittel in einen antirationalistisch und partikularistisch gespeisten traditional-herrschaftideologischen Sinn- und Zielhorizont.

II. Die kapitalistische „Moderne“ als struktureller Nährboden totalitärer Bewegungen

Woraus entspringt nun die „totalitäre Potenz“ bzw. die endogene Möglichkeitsbedingung der Faschisierung des kapitalistischen Gesellschaftssystems? Insbesondere folgende Aspekte sind hier hervorzuheben:

1) Das grundlegende, die zwischenmenschliche Subjektivität nachhaltig prägende Regulativ der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise ist das Prinzip der Konkurrenz. Es bestimmt nicht nur a) das gewinnorientierte Verhältnis der Einzelkapitale untereinander, sondern ebenso b) das Verhältnis der lohnabhängigen Individuen als Arbeitsmarkt- und Arbeitsplatzkonkurrenten sowie c) das wechselseitige Negieren der Einzelwillen in Form des Aufeinanderprallens nichtharmonisierbarer Partialinteressen von Bevölkerungsgruppen, Verbänden, spezifischen Gemeinschaften etc. „Konkurrenzorientierung“ als egoistisches Streben nach Vorteilswahrnahme auf Kosten und zu Lasten anderer bildet demnach die systemfunktionale Verhaltensausrichtung und psychische „Zentrierung“ der kapitalistisch vergesellschafteten Individuen. Sie fungiert als zentrale Prämisse der utilitaristischen Rationalität, die der herrschaftskonformen Lebensführung zugrunde liegt (und in einflußreichen akademischen Handlungstheorien zum allgemeinmenschlichen Modell hypostasiert wird).

Diese konkurrenzvermittelte Subjektprägung der kapitalistisch vergesellschafteten Individuen ist wiederum mit drei folgenreichen Effekten verbunden: a) mit der Reduktion, Erosion und Degeneration zwischenmenschlicher Beziehungen und tradierter Gemeinschaftsformen; b) der Steigerung des gesellschaftlichen Aggressionspotentials und der tendenziellen Entsittlichung der sozialen Verkehrsformen sowie c) mit der wachsenden subjektiven Aufnahmebereitschaft bezüglich sozialdarwinistischer, rassistischer/ethnizistischer und chauvinistischer Deutungsmuster. Die Erfahrung und Ausübung sozialer Rücksichtslosigkeit läßt die Orientierung am „Recht des Stärkeren“ als „natürlich“, plausibel und „zweckrational“ erscheinen.

2) Die konforme Akzeptanz und Einordnung in die hierarchisch organisierte „moderne“ Konkurrenzgesellschaft sowie die Befolgung des versachlichten („stummen“) Zwangs der ökonomischen Verhältnisse beinhalten als wesentliches Moment die sozialisatorisch vermittelte Fähigkeit zur abstrakten Leistungsbereitschaft auf seiten der Lohnabhängigen. Letztinstanzlich ausschlaggebend ist hierfür die systemtypische Trennung des Produkts vom Produzenten und darin eingeschlossen der faktische Ausschluß der unmittelbaren Produzenten von realer Verfügungsgewalt über den (Re-)produktionsprozeß. Unter diesen strukturellen Bedingungen müssen die Lohnabhängigen die elementare „motivationale“ Kompetenz zur Leistungserbringung bei gleichzeitiger Gleichgültigkeit gegenüber dem Produkt bzw. dem „Unternehmensziel“ entwickeln. Diese systemspezifisch erheischte Vergleichgültigung der Produzenten gegenüber dem Produkt erscheint als Kehrseite des kapitalistischen Primärinteresses an „abstrakter“, mehrwertproduzierender Arbeit, deretwegen die Ware Arbeitskraft vom Kapitalisten gekauft und konsumiert worden ist. Mit dieser auf die Subjektivität der Lohnabhängigen bezogenen Anforderung der abstrakten Leistungsbereitschaft wird die kapitalismusspezifische „instrumentelle Vernunft“ als profitlogischer Rationalitätstyp (und damit die strukturelle Amoralität des Kapitals) wirkungsvoll in die Tätigkeits- und Bewußtseinssphäre der Beherrschten übertragen und formiert dort entsprechende psychische Dispositionen, Denkweisen, Einstellungen, Wertmaßstäbe etc. im Sinne von „Selbsthärte“, fremdbestimmter Disziplin, Verachtung von Schwachen, Kranken und Behinderten, moralischer Desensibilisierung und einer entsittlichten technokratischen Mentalität. Unterschwellig wird damit der Boden bereitet für die subjektive Übernahme oder zumindest passive Duldung antihumaner Ausgrenzungsdiskurse gegenüber vorgeblichen „Leistungsverweigerern“, „dysfunktionalen Elementen“, „Volksschädlingen“, „unnützen Essern“ u.s.w.

3) Die instrumentalistische Zweckrationalität der kapitalistischen Moderne, die mit dem Fortbestand „prämodern“-irrationaler Bedeutungssysteme, Glaubensformen, Denkhaltungen etc. in dialektisch-funktionaler Weise verschränkt bleibt und sehr wohl kompatibel ist, manifestiert sich - neben der „Logik des Profits“ - insbesondere in der Wesenslogik der modernen Bürokratie. Als hervorstechende Charakteristika der modernen Verwaltungstätigkeit lassen sich für den vorliegenden thematischen Kontext folgende Momente anführen:

a) Effizienzsicherung und -steigerung durch Professionalisierung, Systematisierung und Spezialisierung der Verwaltungspraxis; b) Ausdifferenzierung eines genau auf einander abgestimmten und geordneten Spektrums behördlicher Zuständigkeiten/Kompetenzen; c) Hierarchisierung der Tätigkeiten in einem festgefügten System der Über- und Unterordnung; d) Prinzipieller Formalismus der bürokratischen Problembearbeitung und Tätigkeitsvollzüge. Bedeutsam ist nun, daß aus der Wesenslogik der modernen Bürokratie eine spezifische Persönlichkeitsprägung seiner Funktionsträger resultiert: der Habitus des Bürokraten. Aus der tätigkeitsspezifischen Spezialisierung und Formalisierung der Aufgabenerfüllung ergibt sich auf Seiten der ausführende Subjekte eine eigentümliche Gleichgültigkeit und Blindheit gegenüber dem menschlichen Leben in seinen vielfältigen qualitativen Bezügen und Besonderheiten. Zur „Professionalität“ des Beamten gehört folglich wesensgemäß eine charakteristische Lebensfremdheit und ethisch-moralische Indifferenz bzw. De-Moralisierung. Die individuelle Subjektivität des Beamten ist daher durch eine auf besondere Weise ausgeprägte Gespaltenheit zwischen „Privatmensch“ (mit seinen "typischen" Bedürfnissen, Gefühlen, Sorgen, Hinwendungen, Emphatien etc.) und plichterfüllendem „Berufsmenschen“ gekennzeichnet, die ihrerseits mit einem spezifischen „Regime“ von psychischen Abwehrmechanismen in Form von Distanzierungen, Rationalisierungen, Entlastungen, Ausflüchten etc. korrespondiert.

Die Aktualisierung der „totalitären Potenz“ (Möglichkeit) der kapitalistischen Moderne ergibt sich nun aber nicht aus einem zwangsgesetzlich-automatisch wirkenden Mechanismus. Das bedeutet: Konkurrenzorientierung, abstrakte Leistungsbereitschaft, irrationalistische „Öffnung“ des systemangepaßten Individuums sowie der Habitus des modernen Bürokraten sind als systemvermittelte Subjektprägungen wesentliche, aber noch nicht hinreichende Bedingungsfaktoren für die reale Durchsetzungsfähigkeit totalitärer Herrschaftssysteme. (Es handelt sich hierbei allerdings um zentrale, funktional „anschlußfähige“ Präformierungen, die ‚subjektiv‘ die Reproduktion totalitärer Herrschaft gewährleisten.) Folglich müssen sich zusätzliche gesellschaftstrukturelle, institutionelle, geistig-kulturelle und sozialpsychische Konstitutionsmerkmale herausgebildet und „verdichtet“ haben, damit innerhalb der „modernen“ kapitalistischen Gesellschaft totalitäre Formierungsprozesse zum Durchbruch gelangen. Welche „erzeugenden“ Konstituenten der totalitären Gesellschaftsformierung sind desweiteren in Rechnung zu stellen?

Erstens ist hier auf die Herausbildung einer außergewöhnlich zugespitzten gesamtgesellschaftlichen Krise zu verweisen, die sowohl die herrschende Eliten als auch die (vielschichtig differenzierte) werktätige Masse erfaßt, mit gravierenden sozialen Erschütterungen einhergeht und die bislang gültigen und funktionsfähigen geistig-moralischen (weltanschaulichen, politischen, normativen etc.) Orientierungs- und Sinnsysteme paralysiert.

Zweitens setzt die totalitär-faschistische Reorganisierung des kapitalistischen Gesellschaftssystems ein sowohl inhaltlich als auch funktional „anknüpfungsfähiges“, differenziert ausgearbeitetes reaktionär-herrschaftsapologetisches Bedeutungsensemble in Gestalt von philosophisch-weltanschaulichen Entwürfen, politischen Theorien, populärer Literatur, Propagandamaterial etc. voraus. (Vgl. hierzu paradigmatisch Georg Lukàcs‘ Werk „Die Zerstörung der Vernunft“.) Diese reaktionären Theorien und Gedankenformen sind es, die schließlich - vor dem Hintergrund der mentalen Auswirkungen des 1.Weltkriegs - in der totalitär-faschistischen Ideologie systematisch synthetisiert und radikalisiert werden, indem man diese Ideologeme von ihren relativierenden liberalen, christlichen, parlamentarischen, formaldemokratischen Beimengungen „reinigt“ und somit verabsolutiert bzw. hypertrophiert. Die totalitär-faschistische Ideologie repräsentiert auf diese Weise die militant-brutale Extremvariante der („entskrupelnden“) Legitimation zwischenmenschlicher Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse in der spät- bzw. monopolkapitalistischen Epoche der antagonistischen Zivilisation.

Drittens setzt die sich auf eine Massenbewegung stützende Variante der totalitär-faschistischen Gesellschaftsformierung eine spezifisch präformierte Subjektivität der gesellschaftlichen Individuen voraus, die zusätzlich zu den genannten systemstrukturellen Prägungen die „faschistische Anrufung des Subjekts“ schon in der Entstehungs- und Durchsetzungsphase des totalitären Systems ermöglicht. Gemeint ist also eine psychisch-mentale Qualität der aktivistischen Mobilisiertheit bzw. Mobilisierbarkeit in Unterschied zu einer „bloß“ funktionalen Subjektprägung im Sinne der passiv gehorsamen (pflichterfüllenden) Systemintegration. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang nun ein sozialpsychologisch wesentlicher Widerspruch der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise: Einerseits erzeugt - wie gesehen - die kapitalistische Reproduktionsdynamik permanent die Voraussetzungen „pro-totalitärer“ Dispositionen, Einstellungen etc. Andererseits impliziert sie aber auch die beständige Bedrohung und Unterminierung wertkonservativer traditionalistischer Normengefüge, Wertordnungen und Verhaltensstandards z.B. in Gestalt warenästhetisch und konsumistisch gestützter „repressiver Entsublimierung“ (Marcuse), der Auszehrung und Defunktionalisierung traditional-patriarchalischer Gemeinschaftsformen (Individualisierungstendenz) oder der fortlaufenden Generierung anomischer Subkulturen. Hinzu kommt die massenpsychologisch „nachhallende“ Wirkungsmacht vor- und antiindustriell-reaktionärer Mentalitätsmomente (romantischer Antikapitalismus, aristokratischer Antiegalitarismus und Antiliberalismus, monarchistischer Patriotismus). Es stellt sich demnach das Problem der Verflechtung der „ungleichzeitig“ wirkenden modernen (kapitalistischen) und traditionalen (vorindustriellen) Subjektprägungen im jeweiligen nationalgeschichtlichen Kontext.

III. Massenwirksamkeit und dehumanisierende Potenz der faschistischen Ideologie

Es sind insbesondere drei zentrale Bedingungsfaktoren gewesen, die in ihrer komplementären Wirkung die massenhafte Akzeptanz und Durchsetzungsfähigkeit der totalitär-faschistischen Bewegung in Deutschland ermöglicht haben:

1) die  autoritär-militaristische (antidemokratische) Entwicklungsdominante in der deutschen Geschichte der Neuzeit, die sich sowohl in einem breit gefächerten reaktionären Bedeutungsensemble objektiviert als auch in Gestalt nationalspezifisch geprägter und klassenspezifisch gebrochener psychisch-mentaler Dispositionen (Haltungen, Überzeugungen, normative Orientierungen etc.) subjektiviert hat;

2) die krisenhaften Desintegrationsprozesse im „zwischenkriegskapitalistischen“ deutschen Gesellschaftssystem sowie

3) die gezielte Förderung und Unterstützung der „nationalsozialistischen“ Bewegung durch die maßgeblichen Kräfte des deutschen Großkapitals im Interesse der Rekonsolidierung der erschütterten kapitalistischen Herrschaft (vgl. hierzu exemplarisch: Czichon 1967; Sohn-Rethel 1973, Ruge 1980 sowie die entsprechenden Dokumente in Kühnl 1975 und Hörster-Phillips 1981).

Hinzu kommt freilich eine mehrschichtige Synthese - und Transformationsleistung als funktional-qualitative Besonderheit der faschistischen Ideologie. Zum einen ist, wie Lukács (1989, S.325) bemerkt, in inhaltlicher Hinsicht „die faschistische Ideologie selbst nichts weiter als die eklektische Zusammenfassung und die demagogische Ausnützung der im Laufe von Jahrzehnten herausgebildeten reaktionären Ideologien, eine demagogische ‚Synthese‘ ihrer verschiedenen, groben wie feinen Spielarten.“ Die eigentliche „schöpferische“ Leistung der Nazis besteht aber in der wirkungsoptimierenden selektiven Radikalisierung („Steigerung“) und Popularisierung des vorgefundenen reaktionären Bedeutungsensembles sowie in der Verknüpfung von reaktionär-antihumanistischer Hochkultur (Schopenhauer, Nietzsche, Spengler etc.) und antidemokratisch-militaristischer Massenkultur. Zudem „arbeitet“ die faschistische Bewegung „glaubwürdig“, d.h. weithin wahrnehmbar, an der operativ-praktischen Umsetzung der propagierten Ideologeme: die Nazis redeten nicht nur von der prinzipiellen Minderwertigkeit bestimmter Menschengruppen, Rassen und Völker, sondern quälten, folterten und mordeten auch schon vor 1933. Der Übermensch, so Lukács, saß nicht nur im Kaffeehaus und führte dort verworrene Gespräche ohne praktische Konsequenzen, sondern demonstrierte als peitschenschwingender SS-Mann im KZ den Unterschied zwischen höherer und niederer Rasse. Kurzum: die faschistische Bewegung organisiert und vollstreckt den Übergang antihumanistischer Ideen in eine barbarische Praxis.

Desweiteren vollziehen die Nazis eine diskursiv-propagandistische Verknüpfung von aktueller Realitäts- und Krisenerfahrung, sozialisatorisch wirksamer „prämoderner“ Subjektprägung und radikalisierter Herrschaftsideologie mit der Rassentheorie als Focus bzw. „Integrator“ des faschistischen Bedeutungssystems. So gelingt vermittels des antisemitischen Rassismus ja nicht nur die Erzeugung massenhafter Akzeptanz des Holocaust, sondern sowohl die regressive Kanalisierung spontan-antikapitalistischer Gefühle, Instinkte, Einstellungen etc. als auch die assoziative Stigmatisierung („Verjudung“) aller Feindgruppen: „jüdisch-bolschwistische Verschwörung“; „jüdisch-marxistisch infizierte Arbeiterbewegung“; „jüdisch unterwanderte Demokratie“ u.s.w. Hinzu kommt die Verbindung des Rassendiskurses mit der Legitimation rasseninterner Ungleichheit. „Wer dem ‚Rassengedanken‘ anhängt, muß auch die bessere Rasse innerhalb seiner Rasse, nämlich die Hierarchie der herrschenden Klasse und der Machtelite anerkennen“ (Projekt Ideologie-Theorie 1980, S.64). Im rassistisch fundierten faschistischen Mythos wird auf diese Weise „die Überwindung des Kapitalismus mit der Liqidierung des Klassenkampfes, mit der Ausrottung der revolutionären Arbeiterbewegung identifiziert. Der faschistische Mythos utilisiert hier die antikapitalistische Sehnsucht der Massen...um alle revolutionären Organisationen, alle revolutionären Institutionen, die den Massen in Wirklichkeit zu diesem Ziele verhelfen könnten, zu vernichten. Und verknüpft zugleich die demagogisch versprochene Erfüllung dieser tief in den Massen lebendigen Sehnsucht mit dem Wunsch nach nationaler Größe, nach nationaler Befreiung von der nationalen Erniedrigung" (Lukács 1989, S.348).

Eine weitere hervorzuhebende Syntheseleistung der Naziideologie ist die Verbindung von „prämodernem“ Irrationalismus, Pseudowissenschaftlichkeit, Streben nach technischer Perfektion und Bürokratismus. So reaktiviert und instrumentalisiert der rassistische Diskurs der Nazis die vielschichtigen Ängste „prämodern“-traditionalistisch sozialisierter Menschen vor den Herausforderungen, Verunsicherungen und „Zumutungen“ der kapitalistischen „Moderne“, indem er die daraus hervorgehenden negativen Affekte auf die jüdische Rasse als verantwortlicher „Erzverderber“ projiziert und damit „aktivistisch“ verarbeitbar macht. „Die Beseitigung der Juden und die Ablehnung der neuen Ordnung waren fortan gleichbedeutend. Diese Tatsache deutet auf einen vormodernen Charakter des Rassismus hin, da er sozusagen eine natürliche Affinität zu antimodernen Strömungen besaß und sich ihnen anpaßte“ (Baumann 1992, S.76). Die zugleich irrationale und dennoch multifunktional äußerst wirksame rassistische Feindbildkonstruktion - untrennbar verflochten mit der „einladenden“ Selbstdeutung als Avantgarde der „auserwählten“ arisch-germanischen (Herren-)Rasse - wird nun aber gleichzeitig unter Rückgriff auf biologistische Paradigmen und Argumentationsmuster (rassische Zuchtwahl und Auslese) legitimiert, verfeinert und systematisiert. In diesem Sinne läßt sich der Maßnahmekanon von den Nürnberger Rassegesetzen, über die sog. „Euthanasie“ bis hin zur massenweisen Vernichtung „schädlichen“ und „artfremden“ Lebens als „angewandte“, d.h. gesetzlich bestimmte, bürokratisch organisierte und technisch perfekt vollzogene „Biologie“ interpretieren. In strategisch-instrumenteller Hinsicht wäre der faschistische Rassismus demnach als Produkt der „Moderne“ zu bestimmen. Seiner Intentionalität nach ist er freilich durch und durch „prämodern“ gespeist: Er ist konzentriert auf die Formierung des „treu ergebenen“, „kriegerisch-kämpferischen“ Nazi-Subjekts, die vorgestellt wurde „als züchterische Korrektur des modernen Menschen, der seine Triebe verkümmern ließ“ (Zapata Galindo 1995, S.117). Es ist demnach gerade diese mentalitätsstrukturelle Verknüpfung von („prämoderner“) autoritär-militaristischer Wert- und Normorientierung einerseits und („modern“-industrialistischer) Geprägtheit durch die kapitalistischen Leistungsstandards wie kalkulatorische Rationalität, Effizienzdenken und „technische Machbarkeit“, die die Hervorbringung faschistischer Subjektivität ermöglicht hat. „Erst die Kombination aus wilhelminischer Härteprägung und technoider Funktionsprägung bringt Menschen hervor, die Härte, Indifferenz gegenüber anderen und logistische Rationalität zugleich besitzen, Männer (und Frauen, H.K.) der Praxis, die die Vernichtungsmaschinerie der Konzentrationslager organisieren konnten“ (Welzer 1993, S.365).

IV. Islamischer Fundamentalismus als totalitärer Traditionalismus

Als zentrale geistig-moralische Machtreserve bzw. Legitimationsgrundlage „prämoderner“ (vorkapitalistischer) Herrschaftsverhältnisse sind die Religionen samt ihrem institutionellen Apparat zu begreifen. Sie fungieren gewissermaßen als spirituelles Kraftzentrum antimodernistisch-traditionalistischer Herrschaftskultur und liefern das „initiale“ Bedeutungsmaterial für unterschiedlichste radikale Zuspitzungen in Form multikulturell wirksamer Fundamentalismen. Insbesondere die konstitutive (ab-wertende) Unterscheidung zwischen der Gemeinschaft der (Recht-)Gläubigen („Wir“), Häretikern/Andersgläubigen und Nichtgläubigen sowie die darin - zumindest latent - eingeschlossene Deutung von Nicht-und Andersgläubigkeit als moralische Unterlegenheit/Minderwertigkeit macht die religiösen Ideologieformen und Diskurse prinzipiell anfällig für die ideelle Induzierung, Verfestigung und „Komplettierung“ zwischenmenschlicher Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse.

Das faschistische System läßt sich - gemäß der vorangegangenen analytischen Skizze - als kulturhistorisch-spezifisch geprägte („westlich-abendländische“) Verarbeitungsform der Kollision von kapitalistischer „Moderne“ und „prämodernem“ Traditionalismus innerhalb des entwickelten und durch multiple Krisenprozesse erschütterten Kapitalismus begreifen. Seine funktionale Qualität besteht in der „totalitären“ Reorganisation der krisenerschüterten systemspezifischen Herrschaftsverhältnisse vermittels der hegemonialen Instrumentalisierung „prämoderner“ Kulturelemente. In diesem restaurativen Kontext gelingt nicht nur die institutionelle Effektivierung/Radikalisierung der antagonistischen Zivilisation auf bürgerlich-kapitalistischer Entwicklungsstufe, sondern ebenso die antihumanistische Rekonstruktion der krisendeformierten und mentalitätsgeschichtlich vorgeprägten Subjektivität der Beherrschten im Sinne der systemischen Restabilisierung.

Im Vergleich dazu läßt sich der islamische Fundamentalismus als eine „orientale“ Verarbeitungsform der exogen („von außen“) induzierten kapitalistisch-„modernistischen“ Zersetzung „prämodern“-traditionalistischer Herrschaftsverhältnisse im Spektrum stationärer, agrarisch-händlerisch geprägter Gesellschaften mit ihren besonderen Sozialmilieus, Bedeutungssystemen, Kulturmustern und Mentalitätsformen entschlüsseln. Wir hätten es demnach, so meine Hypothese, mit der kulturspezifischen Variante einer reaktionär-extremistischen Verteidigung/Wiederherstellung traditionell konstituierter Herrschafts- und Lebensformen mit ihren besonderen Abhängigkeiten, Unterordnungen, Privilegien etc. zu tun.

Im vorliegenden Kontext ist es von besonderem Interesse, die spezifische Signatur der „Moderne“-Rezeption im fundamentalistisch radikalisierten Diskurs des Islamismus genauer zu betrachten. Dabei springt als hervorstechender Charakterzug folgender Aspekt ins Auge: Die Überlegenheitserfahrung der „westlich-abendländischen“ Kultur führt im orthodox-islamischen Bewußtseinshorizont nicht zu einer pauschal-eindimensionalen Negation, sondern zu einer selektiv-gespaltenen Bewertung der kapitalistischen „Moderne“: Akzeptiert und adaptiert wird die wissenschaftlich-technische Modernität in Form von Waffen, Transport- und Kommunikationsmitteln, Produktions- und Informationstechnologie etc. als „nützliche“ Machtinstrumente. Abgelehnt und „verdammt“ werden hingegen die geistig-kulturellen Umwälzungen im Mensch-Welt-Verhältnis in Gestalt der Säkularisierung, der Überwindung des theozentrischen Weltbildes durch die anthropozentrische Weltsicht und der daraus hervorgehenden Selbstbewußtwerdung des Menschen als „freies“ Gattungssubjekt und Individuum. D.h.: Der Islamismus behauptet sich als geistig-moralische Abwehr der rationalen „Entzauberung der Welt“, die letztlich auf eine Erschütterung der traditionalen „Priesterherrschaft“ samt ihrer patriarchalisch-klientelistischen Gefolgschaft hinausläuft. „Die Entzauberung der Welt soll rückgängig gemacht werden, um den Weg für den Glauben an die Autorität von Verkündung und Überlieferung und somit das sichere, einer Reflexion nicht mehr untergeordnete absolute Wissen zurückzuerobern“ (Tibi 1992, S.158f.). „Entwestlichung des Wissens“ bedeutet in diesem gegenaufklärerischen Code des Islamismus Ausmerzung von Kritik, Zweifel und reflektierender Be- und Hinterfragung von Autorität. Es kann deshalb auch nicht verwundern, daß die kapitalistische Selbstnegation der „Moderne“ in Form von Profitlogik, Rekonstruktion herrschaftlicher Beziehungsmuster und Neugestaltung von Entfremdung/Verdinglichung keine oder nur eine oberflächlich verzerrte Berücksichtigung findet.

Eine paradigmatische Umsetzung der selektiv-gespaltenen „Moderne“- Rezeption des Islamismus bietet das gesellschaftliche Beispiel Saudi-Arabiens. Hier verbindet sich importierter Luxus, modernste Technik und Kommunikation „mit absolutistischer Herrschaft beduinisch-feudalistischer Couleur, eine Partizipation der Bevölkerung ist nicht vorgesehen. Der Islam als Herrschaftsinstrument fördert religiöse Lesarten, die dogmatisch, intolerant und fremdenfeindlich sind; sie liefern den ideologisch-legitimatorischen Überbau repressiver Herrschaft. Autonomes Denken ist ebenso tabu wie ein ‚humanistischer Katechismus‘, der Güte, und Toleranz lehrt...Der fundamentalistische Diskurs erscheint als ideales Ventil, um die Gläubigen von der mittelalterlichen, historisch obsoleten Oligarchie und ihrem obszönen Besitzdenken abzulenken“ (Lüders 1992, S.136f.).

Die soziale („interessenpolitische“) Funktionalität der fundamentalistischen Ideologie tritt offen zu tage, wenn man die klassen- und geschlechterstrukturellen Auswirkungen der exogenen Modernisierung auf das traditionale Sozialgefüge der islamisch-arabischen Gesellschaftsordnungen reflektiert. Der „von oben“ seitens des Schah-Regimes im Iran oktroyierte „peripher-kapitalistische“ Modernisierungsprozeß bedeutete beispielsweise eine nachhaltige Deprivilegierung des traditionellen Basarmilieus sowie einen damit untrennbar verknüpften Prestigeverlust seiner (binnenhierarchisch gegliederten) sozialen Träger: Groß- und Kleinhändler, Krämer, Handwerker, angestellte Gesellen und Verkäufer, Arbeiter und Lastenträger. „Die Vorbildlichkeit der Lebensführung des Basars, der traditionell als Hort der Frömmigkeit gilt, wird von einem wesentlichen Teil der Bevölkerung nicht mehr anerkannt, demonstrativ mißachtet oder gar lächerlich gemacht. Alkoholkonsum, Glückspiel, Theater und Kinos, eine gewandelte Sexualmoral sowie ein abgrundtiefer Bruch mit traditionalistischen Vorstellungen über die gesellschaftliche Stellung der Frau demonstrieren dem Basarmilieu den Verlust seiner kulturellen Leitbildfunktion und Vorbildlichkeit“ (ebenda, S.203f). Die erodierende bzw. marginalisierende Wirkung des Modernisierungsprozesses auf das traditionalistische Milieu manifestiert sich z.B. in der Entwertung religiöser und der Aufwertung säkularer Ausbildung als aufstiegsrelevanter Ressource; was nicht nur soziale Differenzierungsprozesse stimuliert, sondern zugleich intergenerative Divergenzen und Konflikte auslöst. „Teile der jüngeren Generation suchen ihre berufliche Laufbahn außerhalb des Basars und viele von ihnen haben mit seinen traditionalistischen Wertvorstellungen gebrochen. Eine zentrale Erfahrung der Kleinhändler und Handwerker besteht somit im Generationenkonflikt“ (ebenda, S.189). Ein weiterer zentraler Ausdruck des Modernisierungsprozesses, der die traditionalistischen Ordnungsvorstellungen intensiv erschüttert, ist die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen. „In Algerien waren 1985 insgesamt 326.000 Frauen (ca. 8% der erwerbsfähigen weiblichen Bevölkerung) berufstätig, ca. 4 Mio. Frauen zwischen 16 und 64 Jahren waren dagegen nicht berufstätig. Von den berufstätigen Frauen waren 36,8% im Bildungsbereich, 20,3% im sonstigen öffentlichen Sektor engagiert. 50.000 waren als Hausangestellte tätig und 19.000 nahmen höhere Funktionen wahr...Dies verschärft die Konkurrenzangst gerade auch unter gebildeten Männern und ihre Anfälligkeit für den konservativen und islamistischen Geschlechterdiskurs“ (Kreile 1992, S.21). Die „Aufweichung“ des traditionalistischen Geschlechterdiskurses, in dem die Rolle der Frau als untergeordnete Ehegattin und Mutter zum gottgewollten Dogma erhoben wird, ruft aufgrund seiner Zentralität im islamistischen Ordnungsmodell besonders aktiven und repressiven Widerstand hervor. „In diesem Punkt“, so Riesebrodt (1990, S.211), „wird besonders deutlich, daß Fundamentalismus ganz wesentlich die Verteidigung einer patriarchalischen Ordnung und Sozialmoral darstellt.“

In dem Maße, wie der Modernisierungsprozeß eine Defunktionalisierung religiöser Bildung und Rechtsprechung bedeutet, erschüttert er die soziale Stellung und die Zukunftsperspektive insbesondere der mittleren und niederen Geistlichkeit sowie des theologischen Nachwuchses. D.h. die Frustration von Aufstiegserwartungen und -ansprüchen verschärft den Radikalisierungsprozeß und sichert der fundamentalistischen Bewegung eine sprudelnde Rekrutierungsquelle.

Ökonomischer Bedeutungs- und sozialmoralischer Prestigeverlust der Basaris, Defunktionalisierung religiöser Bildung und Statuseinbuße ihrer geistlichen Träger sowie eine generelle Verunsicherung des traditionalen islamistischen Patriarchalismus sind demnach die wesentlichen Mobilisierungsursachen wohl nicht nur des iranisch-schiitischen Fundamentalismus. Zudem kann sich die Verbreitung der fundamentalistischen Ideologie auf die auch innerhalb der unteren Klassen und Schichten tief verwurzelte traditionelle Religiosität stützen und erweist sich in diesem sozialen Kontext als subjektiv bedeutsame Erklärungsfolie für zahlreiche gesellschaftliche Mißstände. „Auf engstem Raum hausende Slumbewohner, die unter Wassermangel leiden; Arbeiter, denen die Unpersönlichkeit moderner Arbeitsorganisation fremd ist; subalterne Angestellte, die der Arroganz von Vorgesetzten ausgesetzt sind; Studenten, deren Aufstiegshoffnungen und Idealismus in schlecht bezahlten, untergeordneten Positionen enden; junge Männer, die Probleme mit dem Wandel der Frauenrolle und Sexualmoral wie auch dem späten Heiratsalter haben; Frauen, die die sexuelle Belästigung in öffentlichen Verkehrsmitteln oder überfüllten Hörsälen leid sind; sie alle können in der fundamentalistischen Ideologie eine Artikulation ihrer Frustrationen finden“ (Riesebrodt 1993, S.14f).

Was den fundamentalistischen Diskurs in den Augen der gläubigen Massen darüber hinaus attraktiv erscheinen läßt, ist die Umdeutung von Leidens- und Unterdrückungserfahrung bzw. die Restriktion subjektiver Entwicklungsinteressen in eine göttlich bestimmte Bewährungsprobe, die im Falle des individuellen Bestehens Aussicht auf soziale Anerkennung und göttliche Zuneigung verheißt. Auf diese Weise läßt sich irdisch erfahrene Not in Verbindung mit der Unterwerfung unter die religiös-ethischen Gesetze, also vermittels eines normativ einwandfreien Lebensstils, psychomoralisch und symbolisch in eine Tugend transformieren. D.h.: Die subjektive Übernahme islamistischer/fundamentalistischer Deutungsmuster ermöglicht eine „positive“ Sinngebung im Rahmen restriktiver Lebensbedingungen. Entsprechend äußert sich eine islamistische Studentin: „Ich bin nicht gezwungen zu arbeiten. Im islamischen System werde ich nicht diffamiert, weil ich nicht arbeite, ich werde im Gegenteil höher bewertet“ (zit. n. Kreile 1992, S.22).

Als soziale Bewegung, die auf die regressive Perfektionierung und Radikalisierung eines kulturspezifischen Herrschaftssystems ausgerichtet ist, weist der islamische Fundamentalismus ausgeprägt totalitäre Zuge auf. Hervorstechend ist hier zunächst sein absolutistischer, d.h. transhistorische sowie transkulturelle Gültigkeit fordernder Geltungsanspruch. So besagt die Ende der 30er Jahre formulierte Doktrin der „Muslimbrüder“ folgendes: „Der Islam ist ein vollständig auf sich selbst beruhendes, totales System, das auf dem Koran und der Sunna (dem Vorbild des Propheten Muhammad) basiert und zu jeder Zeit und an jedem Ort anwendbar ist" (Heine 1992, S.27). Die im Koran niedergelegte göttliche Offenbarung mit ihren kanonisierten Gesetzesvorschriften und Regeln fundiert somit einen universalen religiös-gesetzesethischen Monismus, der kulturellen, politischen und weltanschaulich-moralischen Pluralismus sowie Gewaltenteilung grundsätzlich ausschließt. Es wird explizit der Anspruch erhoben, „daß prinzipiell alle Beziehungen zwischen den Menschen auf koranischer Grundlage geregelt werden könnten“ (Riesebrodt 1990, S.173). Gemäß diesem absoluten Geltungsanspruch wird als gesellschaftlich-politisches Ordnungsziel in Gestalt der „Islamischen Republik“ eine „theokratische“ Herrschaft des göttlichen Gesetzes anvisiert, das als allgemeinverbindliche Richtschnur dienen soll. Die islamischen Grundsätze werden somit zur exklusiven Strukturierungs- und Regulierungsgrundlage sämtlicher Gesellschaftsbereiche erhoben, der sich die vergesellschafteten Individuen ausnahmslos zu unterwerfen haben. Zwar existiert z.B. im Iran keine zentralistische Einheitspartei und es finden Wahlen und Volksbefragungen statt, aber hierbei handelt es sich um eine formale und untergeordnete Staffage im Rahmen der elitären Herrschaft der islamischen Rechtsgelehrten.. Kennzeichnend für den islamischen Fundamentalismus generell dürfte folgende Einstellung sein, die Faath/Mattes (1992, S.285) für die algerische FIS nachgewiesen haben: „Volkssouveränität“ wird durch „Gottessouveränität“ ersetzt.

Der fundamentalistischen Propaganda kommt der Umstand entgegen, daß es in der arabisch-islamischen Welt keine der „westlich-abendländischen“ Säkularisierung und Aufklärung analoge Zäsur in der kulturhistorischen Entwicklung gegeben hat. Entsprechend verharrt hier der Subjektdiskurs weithin im Gehäuse des mittelalterlichen Welt- und Selbstverständnisses der (gläubigen) Menschen. Kernaspekt dieser „prämodernen“ Subjektauffassung ist der kategoriale und reflexive Verzicht auf die Wahrnehmung einer eigenständigen, von Gott/Allah unabhängigen Gestaltungs- und Deutungsfähigkeit gegenüber der äußeren Welt und dem eigenen Selbst. Lebenssinn und Gestaltungsmacht erfährt der individuelle Mensch nur in Bezug auf und vermittelt über Gott sowie als Mitglied der islamischen Glaubensgemeinschaft, der umma. Der „Eigenwert“ des Individuums ist dem Kollektiv/umma grundsätzlich untergeordnet und zweitrangig. „Der Koran“, so der islamische Jurist Cherif al-Bassiouni, „hebt die Pflichten, nicht die Rechte hervor; er insistiert darauf, daß individuelle Obligationen zu erfüllen sind, ehe das Individuum Rechte für sich selbst in Anspruch nehmen kann...Im Gegensatz zu den westlich orientierten...Auffassungen von einer Trennung zwischen Individuum und Staat lassen islamische Konzepte solche Unterscheidungen nicht zu...Deshalb besteht kein zwingender Bedarf, individuelle Rechte als eine Gegenposition zum Staat zu konzipieren“ (zit. n. Tibi 1992, S.147). Die Konzeption der Menschenrechte wird vor diesem geistig-kulturellen Hintergrund im fundamentalistischen Diskurs zurückgewiesen und , wie von Khomeini, als „Werk Satans und der Zionisten“ radikal desavouiert. Demgegenüber wird das gläubige Individuum als Werkzeug Gottes gesehen, dem eigener Wille und Einsicht in das Weltgeschehen nur in dem Maße gegeben sind, wie es die ewige Gültigkeit der göttlichen Offenbarung im Koran anerkennt. Allerdings ist in der fundamentalistischen Subjektauffassung der Einzelne nicht lediglich fatalistisch bestimmt, sondern es wird ihm die (zweckfunktionale) Möglichkeit aktivistischer Selbstaufwertung eingeräumt: in Form der Märtyrerrolle als opferbereiter Kämpfer im „Heiligen Krieg“. So wird den palästinensischen Selbstmordattentätern das Paradies, die posthume Bewunderung ihrer Glaubensgenossen sowie finanzielle Unterstützung ihrer Angehörigen versprochen. „Dem einzelnen Muslim wird hierdurch der direkte Zugriff auf eine als absolut verstandene Geschichte gewährt, der es ihm ermöglicht, sich selbst als handelndes Subjekt, als Vollstrecker des historischen Willens Gottes zu begreifen“ (Schulze 1992, S.116).

Weit davon entfernt, die kapitalistischen Triebkräfte des „westlichen“ Expansionismus zu durchschauen und die Mechanismen der postkolonialen Überfremdung zu reflektieren, verharrt der islamische Fundamentalismus in einer rückwärtsgewandten, irrationalen und undifferenzierten „Moderne“-Kritik. Sein totalitär-anmaßendes Credo und seine terroristische Praxis demaskieren ihn darüber hinaus als eine antihumanistisch-herrschaftsverteidigende Kraft, die nicht hinter dem Rauchvorhang kulturrelativistischer Verharmlosungsideologien verschanzt werden kann. Der Tatbestand, daß prokapitalistisch-„westliche“ Politiker und Meinungsmacher aus Versatzstücken fundamentalistischer Umtriebe ein pauschales (weil strategisch funktionales) „Feindbild Islam“ konstruieren, sollte im Umkehrschluß nicht dazu verführen, dem aus dem Boden des Islam erwachsenen Fundamentalismus schönfärberisch zu exkulpieren und in seiner reaktionär-antihumanistischen Wesensart zu verkennen. Richtungsweisend scheint mir die Aufforderung progressiver arabischer Intellektueller zu sein, die Dekonstruktion der vorgegebenen „prämodern“-traditionalistischen Herrschaftsstrukturen vermittels einer an die Wurzel gehenden Säkularisierung einzuleiten. Ohne eine einschneidende Säkularisierung - das hat die jüngere Geschichte der islamisch-arabischen Gesellschaften gezeigt - verlaufen „von oben“, d.h. staatsbürokratisch implementierte „Modernisierungsprogramme“ (siehe z.B. Algerien und Ägypten) im Sande. Not-wendig ist eine „arabische Katharsis“, wie sie Adonis (1992, S.205) umrissen hat:

„Das Gebot der Stunde ist der radikale Wandel der Mentalitäten, damit die offenbarte Religion ihre Funktion als ein alles beherrschender Bezugsrahmen verliert und ersetzt wird von Erfahrbarkeit und Vernunft. So wird sich die Wahrnehmung der Welt verändern und die Trennung von Kultur und Macht möglich. Und der Mensch wird das Recht haben, nachzudenken und frei zu reden, ohne jede Einmischung seitens der Macht. Wenn dieser Zustand erreicht ist , dann wird es in der arabischen Gesellschaft wirkliche Demokratie geben, eine wahrhaft demokratische Kultur.“