Kalaschnikov
das Radiomagazin für militanten Pazifismus Pressedienst (KPD) - Nr. I/2001

Oliven, Steine und Kugeln
von Uri Avnery

Übersetzung ins Deutsche: Fritz Viereck

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(Kalaschnikov vom 7. Februar 2001. Den Text fanden wir auf der Internet-Seite von gush-shalom; er ist zwar schon etwas älter - von November 2000 -, beschreibt aber nichtsdestotrotz die Situation im Westjordanland und die Arbeit der israelischen Friedensbewegung recht eindrucksvoll. Übersetzung aus dem Englischen: Fritz Viereck)

Plötzlich bemerkte ich, daß wir allein auf der Straße waren. Eine wunderschöne Straße, breit, teilweise noch unfertig. Vollständig leer.

Es ist eine Umgehungsstraße für eine Umgehungsstraße, eine Erfindung der Besetzung. Zuerst hat man die Durchgangsstraße durch Samaria gebaut, von Kafr-Kassem nach Ariel und darüber hinaus, um die palästinensischen Dörfer zu umgehen. Aber das Dorf Bidia, das an Samstagen zu einem Einkaufszentrum für Israelis geworden ist, wuchs langsam an die Straße heran. Indem sie die nächste Intifada vorwegnahmen, haben Benjamin Netanjahu und Ehud Barak (jeder in seiner Zeit) sich für eine noch sterilere Umgehungs-Umgehungsstraße entschieden. Wieder wurden große Flächen palästinensischen Landes enteignet, wieder haben wir zusammen mit den palästinensischen Dorfbewohnern demonstriert (im November 98), wieder schluckten wir Tränengas (man schießt nicht auf Israelis), wieder nützte es nichts.

Aber jetzt ist die Straße leer. Nur gelegentlich treffen wir Gruppen von Autos. Die Siedler fahren aus Furcht vor steinewerfenden Kindern im Konvoi. Aber wir hatten Glück. Hier und da sahen wir Steine auf der Straße liegen, Überbleibsel vergangener Steinregen, aber wir kamen unbehindert durch.

Am vergangenen Abend hatten wir einen SOS-Ruf von den Bewohnern des Dorfes Hares erhalten, die uns gebeten haben zu kommen. Dieses palästinensische Dorf, in der Nähe der großen Ariel-Siedlung, ist von der Welt abgeschnitten. Die Armee belagert es, niemand darf rein oder raus. Die Oliven, das einzige Produkt des Dorfes, drohen auf den Bäumen zu verrotten, vor allem in der Plantage, die an die Revava-Siedlung grenzt. Jeder, der versucht, sie zu ernten, begibt sich in Lebensgefahr. Ein 14jähriger Junge wurde erst vor drei Tagen dort erschossen, als er mit seinem Vater in der Plantage war. Die Dorfbewohner hoffen, daß die Anwesenheit von Israelis die Siedler und Soldaten zurückhält und sie so die Oliven ernten können, von denen ihr Lebensunterhalt abhängt.

Eine Frau aus dem Dorf hat auch angerufen. Sie schrie aufgeregt, daß gerade eben die Soldaten das Feuer auf das Dorf und auf sie eröffnet hätten. Sie bat uns, am nächsten Morgen zu kommen. Bis zur Dämmerung, versprach sie, wird normalerweise nicht geschossen.

Hares liegt auf einem Hügel, 100 Meter von der Straße, auf einem Gebiet, wo die Umgehungs-Umgehung die Umgehung trifft. Das Gebiet ist ein idealer Platz, um Steine zu werfen, und deswegen sind die Siedler wütend. Wir kennen die Umgebung gut, denn im März 1999 haben wir einer Familie im nächsten Dorf, Kiffel-Hares, geholfen, ihr von der Armee demoliertes Haus wieder aufzubauen.

Es war nicht leicht für uns zu entscheiden, was wir tun sollten. Es war klar, das dies hier ein Kriegsgebiet ist. Um dorthin zu gelangen, mußten wir riskieren, von Palästinensern gesteinigt oder beschossen zu werden, die uns für Siedler hielten. Andrerseits würde unsere Anwesenheit auf die Siedler wie ein rotes Tuch wirken. Für die Armee hätten wir das Besatzungsrecht gebrochen. Und das alles, um in der Nähe einer Siedlung Oliven zu pflücken.

Gush-Shalom-Aktivisten, die an einem Werktag so etwas unternehmen können, bestehen auch aus Teenagern oder älteren Leuten, Männer und Frauen. Konnten wir es verantworten, sie in ein Kriegsgebiet gehen zu lassen?

Andererseits ist es in diesen schwierigen Tagen, mitten im palästinensischen Befreiungskrieg, sehr wichtig, die Kontakte, die Israelis und Palästinenser noch verbinden, nicht abreißen zu lassen, wie das die Extremisten auf beiden Seiten es sich wünschen. Es ist auch wichtig, den Palästinensern zu zeigen, daß es in Israel Friedenskräfte gibt, die in der schwersten Stunde ihre Solidarität erweisen.

Diese Argumente überzeugten. Es wurde entschieden, per Telefon die Aktivisten zu mobilisieren, die bereit waren, an einem Werktag nicht zur Arbeit zu gehen und sich an der Aktion zu beteiligen. In zwei Stunden erklärten sich 20 bereit. Und so machten wir uns am Freitag aus Tel Aviv auf, in einem Transporter, der von einem israelischen Araber gefahren wurde. Aus Jerusalem war eine andere Gruppe, angeführt von den "Rabbis für Menschenrechte", ebenfalls unterwegs.

Wir kamen ohne Zwischenfall in Hares an. Auf dem Weg trafen wir auf keinen einzigen Armeecheckpoint. Sogar der Checkpoint, den es jahrelang auf der Grünen Linie bei Kafr-Kassem, gegeben hatte, war mysteriöserweise verschwunden. Wir betreten das Dorf zu Fuß, kletterten den Hügel hinauf, durchquerten eine verwüstete Fläche - gefällte alte Olivenbäume, zerstörte Terrassen, offensichtlich um der Armee freies Schußfeld zu schaffen.

Aus Richtung der Moschee hörten wir die Freitagsgebete, während wir das stille Dorf zu Fuß durchquerten und es am westlichen Ende verließen, auf dem Weg zur Olivenpflanzung. Dort hielt uns die Armee mit gepanzerten Jeeps und schwer bewaffneten Soldaten an. Ein rauhbeiniger Major (vielleicht auch Oberstleutnant, die kugelsichere Weste ließ das nicht so einfach erkennen) füllte schnell eine vorbereitetes Formular aus, das blanko vom Oberkommando für alle Fälle unterschrieben war, und das die Plantagen in Hares zum gesperrten militärischen Gebiet erklärten. Wir wurden aufgefordert zu gehen. Natürlich weigerten wir uns. Wir wiesen darauf hin, daß die Siedler, die Parolen brüllten und uns verfluchten, ungehindert in ihren Autos passieren konnten. Dann tauchte ein höhere Offizier, Oberstleutnant oder vielleicht Oberst (s.o.) auf. Uns wurde mitgeteilt, daß er der Brigadekommandeur sei.

Wir diskutierten mit ihm. Er war ein sympathischer, intelligenter Offizier, der Humor hatte, einen von denen, die, wie es heißt, "in Ordnung" sind; und gerade deshalb klang, was er sagte, noch abstoßender. Wieso die Diskriminierung zwischen Siedlern und palästinensischen Dorfbewohnern? Tja, weil die Steine schmeißen. Wieso wird ein ganzes Dorf für die Handlungen einer Minderheit bestraft? "Ich bin mir nicht sicher, ob das eine Minderheit ist." Es war recht klar, daß er mit dem Herzen bei den Siedlern war, deren Leben, wie er sagte, "zur Hölle geworden sei". Für ihn waren die Palästinenser Feinde, ohne weitere Gefühlsregungen.

Warum gestattet er uns nicht, Oliven zu ernten? "Weil Sie hierher gekommen sind, um die Siedler zu provozieren." Wir antworteten ehrlich, daß wir nichts dergleichen beabsichtigten.

Während dieser Diskussion begannen unsere Aktivisten, einer nach dem anderen in die Pflanzung zu schleichen. Der Brigadekommandeur stand vor der Wahl: Verstärkung rufen, um uns mit Gewalt rauszuschmeißen, oder uns die Olivenernte zu erlauben. Klugerweise entschied er sich für letzteres.

Die nächsten sechs Stunden waren eine Erfahrung, die direkt aus einem alten zionistischen Propagandafilm stammen konnte. Wir pflückten Oliven, Stück für Stück, von den Bäumen, die der Siedlung am nächsten gelegen waren. Wir sammelten sie in unseren Hüten, bis Körbe gebracht wurden. Wir kletterten auf Bäume, um an die höheren Äste zu kommen. Harte Arbeit, aber es machte Spaß. Auf dem Hügel uns gegenüber, vielleicht 50 Meter weit weg, hatte sich eine Gruppe wütender, bärtiger Siedler versammelt, aber die Soldaten hinderten sie daran, sich uns zu nähern.

Als die Dorfbewohner uns an der Arbeit sahen, wagten die Familien der Baumbesitzer dazuzukommen und auch zu ernten. Freundschaft entstanden schnell. Alles wurde in hektischer Geschwindigkeit getan. Die Palästinenser wußten, daß sie nur solange arbeiten konnten, wie wir da waren. Sie arbeiteten mit Methoden, die die Bäume beschädigen mußten, schlugen an die Zweige, um die Oliven auf ausgebreiteten Nylontüchern zu sammeln, um in ein paar Stunden so viel wie möglich zusammenzukriegen.

Um drei Uhr nachmittags, als wir gerade aufhören wollten, erhielten wir einen Anruf übers Handy. Wir sollten so schnell wie möglich zur anderen Seite des Dorfes kommen, wo sich ein Zusammenstoß mit der Armee anbahnte. Die Dorfbewohner wollten die Anwesenheit von Israelis nutzen (der Gruppe aus Jerusalem), um die Straßensperre wegzuräumen, die die Armee errichtet hatte, um sie am Kontakt mit dem Nachbardorf und der Welt im allgemeinen zu hindern. Die Palästinenser rechneten damit, daß die Armee nicht in der Anwesenheit von Israelis und ausländischen Fernsehkameras das Feuer eröffnen würde. Weil die Situation sich zusehends zuspitzte, wurden wir gebeten zu kommen und einen üblen Zusammenstoß zu verhindern. Wir setzten uns in den Transporter und fuhren ins Dorf. Entlang der Hauptstraße standen eine Menge Kinder. In einiger Entfernung, spielten (oder: trainierten?) Kinder Steine werfen. Einige der Dorfjugendlichen gingen vor unserem Transporter her und sagten den Kindern, daß wir keine Siedler wären. (...)

Das Dorfoberhaupt erbot sich, uns den Weg zu zeigen, so daß wir den Ort des Zusammenstoßes von der Armeeseite, der Hauptstraße, her sahen. Aber als wir das Dorf verlassen wollten, trafen wir auf einen Armeejeep. Ein Sergeant mit russischen Zügen hielt uns mit einer Geste an, die gemeinhin für Araber reserviert bleibt. Einer von uns forderte ihn auf, die Form zu wahren. Er wurde sehr wütend und sagte uns, daß wir das Dorf nicht verlassen konnten. Es gebe eine Sperrung, keiner kommt rein, keiner raus. Es kümmere ihn einen Dreck, ob wir Israelis seien oder nicht. Befehl ist Befehl.

Nur mit Mühe konnten wir ihn dazu bringen, seinen Vorgesetzten zu rufen, der uns natürlich passieren ließ. Wir erreichten die Durchgangsstraße und mußten hinter einem Siedlerkonvoi her fahren, als wir plötzlich von einem Steinregen getroffen wurden. In einiger Entfernung sahen wir eine Gruppe kleiner Kinder. Glücklicherweise wurde nur die Karosserie unseres Busses getroffen. Blitzschnell erschienen Polizei- und Armeejeeps auf der Szene und nahmen Feuerstellung gegenüber dem Dorf ein. Aber die Kinder waren schon verschwunden.

In der Zwischenzeit erfuhren wir übers Telefon, daß die Konfrontation tatsächlich vorbei war, also entschlossen wir uns, heimzufahren. Auf dem Weg stieg das Dorfoberhaupt aus. Wir warteten einige Minuten, um sicher zu sein, daß er sicher nach hause käme. Er begann, den Hügel hinauf zu steigen, aber er war noch keine paar Meter weit gekommen, als ihm Soldaten hinterher rannten, Gewehr im Anschlag. Wir stiegen aus dem Bus und überzeugten die Soldaten, daß er kein gefährlicher Terrorist sei, sondern ein Dorfbewohner, der so freundlich war, uns den Weg zu zeigen. Sie ließen ihn ins Dorf zurückkehren. Am Telefon hörten wir, daß zwei der Leute aus der Jerusalemer Gruppe während der Konfrontation an der Straßensperre verhaftet worden waren. (Keiner von ihnen gehörte zu Frieden Jetzt, wie das Fernsehen irrtümlich berichtete. Frieden Jetzt nahm an den Aktionen dieses Tages überhaupt nicht teil.) Das ist die Realität der Besetzung, November 2000.

Wir kehrten nach hause zurück, müde aber zufrieden, wie man so sagt. Es war 4 Uhr nachmittags, die Zeit, in der das Schießen normalerweise losgeht.

Für mich wars ein langer Tag. Ein alter Freund hatte mich zu einem Essen in Caesarea eingeladen. Die creme da la creme war da, Banker, Doktoren, höhere Beamte, Medienleute, Künstler. Gutes Essen, gute Weine. Ich war

zu erschöpft zum diskutieren. Also setzte ich mich nur hin, sah mir das an und fragte mich, was gerade jetzt in Hares passierte, ein paar Lichtjahre weit weg. Um Mitternacht, auf dem langen Heimweg, hörte ich in den Nachrichten, daß eine Siedlerin durch Steinwürfe in der Nähe von Hares leicht verletzt worden war.

  • Kalaschnikov ist seit 1996 bei "Radio Unerhört Marburg" auf Sendung und wird produziert von der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) Marburg

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