Geschichte ist die Geschichte der Produktivkraftentwicklung

von Stefan Meretz *

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Wer keinen Begriff vom »Wald« hat, für den bleiben auch noch so viele Bäume immer nur Bäume. Wer keinen Begriff von der Produktivkraftentwicklung hat, für den bleibt die Geschichte der Menschheit nur eine Abfolge technischer Innovationen und Erfindungen.

GNU/Linux ist nicht einfach ein neues, qualitativ hochwertiges Produkt, eine neue Erfindung sozusagen, sondern GNU/Linux steht für eine neue Qualität der Produktivkraftentwicklung. Um diese These zu erläutern, ist es zunächst notwendig den Inhalt und den Sinn des Begriffs der Produktivkraftentwicklung zu verstehen.

1. Produktivkraft der Arbeit

Wir Menschen unterscheiden uns von den Tieren dadurch, dass wir uns mit den vorgefundenen Existenzbedingungen nicht einfach abfinden, sondern unsere Lebensbedingungen aktiv selbst herstellen. Wir »haben« nicht nur einfach einen biologischen Stoffwechsel, sondern wir verwenden für unseren »Stoffwechsel mit der Natur« selbst hergestellte Arbeitsmittel. Seit Bestehen der Menschheit haben sich die Arbeitsmittel und die Arbeitsformen schon oft verändert. Wie der Zusammenhang von Mensch, Natur und Mitteln, die der Mensch zur Naturbearbeitung einsetzt, historisch jeweils beschaffen ist, faßt der Begriff der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit, oder kurz: Produktivkraftentwicklung.
Der aktive Stoffwechsel des Menschen mit der Natur unter Verwendung von Mitteln wird »Arbeit« genannt. Damit faßt der Begriff der Produktivkraftentwicklung auch die historische Veränderung der Arbeit, ist aber nicht mit diesem identisch. Dies wird deutlich, wenn man sich die drei Dimensionen des Begriffs der Produktivkraftentwicklung ansieht:

  • Inhalt der Arbeit: Art der Produkte, der Bezug zur Natur und die verwendeten Mittel zur Herstellung
  • Form der Arbeit: Arbeitsteilung und Arbeitsorganisation
  • Produktivität der Arbeit: produzierte Gütermenge je Zeiteinheit.
Oft wird die Produktivkraft der Arbeit mit Produktivität der Arbeit verwechselt. Damit werden jedoch die qualitativen Aspekte des Inhalts und der Form der Arbeit in ihren historischen Entwicklungen ausgeblendet. Auch Karl Marx, von dem der Begriff ursprünglich stammt, war nicht frei von solchen Verkürzungen.

Noch einmal zusammengefaßt: Produktivkraftentwicklung ist ein Verhältnisbegriff. Er faßt das Dreiecksverhältnis des arbeitenden Menschen, der unter Verwendung von Mitteln Stoffwechsel mit der Natur betreibt und auf diese Weise sein Leben produziert. Historisch verändert sich die Produktivkraftentwicklung mit ihren drei Dimensionen nicht kontinuierlich, sondern in qualitativen Sprüngen. Im Schnelldurchlauf durch die Geschichte sollen diese Sprünge nun nachgezeichnet werden.

Man kann die Geschichte auf Grundlage des Begriffs der Produktivkraftentwicklung in drei große Epochen einteilen. In jeder dieser Epochen steht ein Aspekt des Dreiecksverhältnisses von Mensch, Natur und Mitteln im Brennpunkt der Entwicklung. In den agrarischen Gesellschaften wurde die Produktivkraftentwicklung vor allem hinsichtlich des Naturaspekts entfaltet, in den Industriegesellschaften steht die Revolutionierung des Mittels im Zentrum – na, und was mit dem Menschen als dem dritten Aspekt passiert, ist die spannende Frage, die weiter unten beantwortet wird.

2. Die »Natur-Epoche«: Entfaltung des Naturaspekts der Produktivkraftentwicklung

Alle Gesellschaften bis zum Kapitalismus waren von ihrer Grundstruktur her agrarische Gesellschaften. Ob matrilineare Gartenbaugesellschaft, patriachalische Ausbeutergesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft oder Feudalismus – in allen Gesellschaften stand die Bodenbewirtschaftung in der Landwirtschaft und bei der Gewinnung von Brenn- und Rohstoffen unter Nutzung von einfachen Mitteln sowie menschlicher und tierischer Antriebskraft im Mittelpunkt der Anstrengungen. Mit Hilfe der hergestellter Arbeitsmittel – vom Grabstock bis zum Pflug und zur Bergbautechnik – holten die Menschen immer mehr aus dem Boden heraus, während die Art und Weise der Weiterverarbeitung der Bodenprodukte bis zum Nutzer relativ konstant blieb. Die eigenständige Fortentwicklung der Arbeitsmittel und Werkzeuge war jedoch durch Zünfte und andere Beschränkungen begrenzt.

Qualitative Veränderungen innerhalb der »Natur-Epoche« zeigen sich vor allen bei der Form der Arbeit. Die landwirtschaftlichen Produzenten im Feudalismus waren mehrheitlich Leibeigene ihrer Feudalherren, waren so im Unterschied zum Sklaven also nicht personaler Besitz. Trotz Abgabenzwang und Frondiensten war der relative Spielraum der Fronbauern zur Entfaltung der Produktivkraft der Arbeit größer als bei den Sklaven, die – da personaler Besitz – gänzlich kein Interesse an der Verbesserung der Produktion hatten. Der Natur angepasste Fruchtfolgen und die Mehrfelderwirtschaft waren wichtige Errungenschaften in dieser Zeit. Aufgrund des höheren Mehrprodukts konnten sich Handwerk und Gewerbe, die von der Bodenbewirtschaftung mitversorgt werden mussten, rasch entwickeln.

Zusammengefaßt nach den drei Dimensionen der Produktivkraftentwicklung ergibt sich:

  • Inhalt der Arbeit: Die ersten Klassengesellschaften bis an die Schwelle zum Kapitalismus waren durch die Produktion landwirtschaftlicher Produkten bestimmt. Sie waren Agrargesellschaften. Im Feudalismus entstand Handwerk und Gewerbe als bedeutender eigenständiger Zweig.
  • Form der Arbeit: Die Bodenbearbeitung erfolgte mit einfachen Hilfsmitteln. Während die Arbeit der Sklaven durch unmittelbaren Zwang angeeignet wurde, hatten die vorwiegend leibeigenen Bauern trotz Zwangsabgaben und Frondiensten ein gewisses Eigeninteresse an der Verbesserung und Entwicklung der Produktion (Verbesserung der Arbeitsmittel und der Organisation der Produktion: Dreifelderwirtschaft).
  • Produktivität der Arbeit: Folglich war die Produktivität im Feudalismus höher als die in den Vorläufergesellschaften. Auf Grundlage des erweiterten Mehrprodukt konnten sich Handwerk und Gewerbe entfalten.
3. Die »Mittel-Epoche«: Entfaltung des Mittelaspekts der Produktivkraftentwicklung

Die agrarische Produktion bestimmte zwar die gesellschaftliche Struktur, dennoch gab es in den Städten Lebens- und Produktionsformen, die dem unmittelbaren feudalen Zugriff entzogen waren: »Stadtluft macht frei«. Die Städte wurden nun immer wichtiger für die steigenden repräsentativen und militärischen Bedürfnisse der herrschenden Feudalklasse. Ausgehend von gesicherten bürgerlichen Zonen inmitten des Feudalismus, den Städten, entfalteten Handwerker und vor allem Kaufleute ihre ökonomischen Aktivitäten. Der Einsatz geraubten und erhandelten Kapitals der Kaufleute sowie die Entwicklung von kombinierten Einzelarbeiten der Handwerker in der Manufaktur zum aus einseitigen Teilarbeitern bestehenden »kombinierten Gesamtarbeiter« (Marx 1976/1890, 359) in der Fabrik ermöglichten eine Übernahme der ökonomischen Basis durch die neue bürgerliche Klasse. Mit der Manufakturperiode, auch als Frühkapitalismus bezeichnet, begann die Umstrukturierung des alten feudalen zum neuen bürgerlichen ökonomischen System, das sich schließlich durchsetzte. Die industrielle Revolution sorgte endgültig dafür, dass sich der umgreifende gesamtgesellschaftliche Prozess nach den Maßgaben der kapitalistischen Wertverwertung ausgerichtet wurde.

Wir sehen, wie Keimformen des Neuen – bei den Handwerkern stand die Mittelbearbeitung schon im Mittelpunkt ihrer Arbeit – in einem neuen Kontext eine neue Funktion bekam und schließlich von allen Schranken befreit die gesamte Gesellschaft umstülpte. Um das genauer zu verstehen, lohnt es sich, den neuen dominanten Gesamtprozess genauer zu betrachten (vgl. auch Meretz 1999a). Im Fokus des neuen dominanten Gesamtprozesses steht die Revolutionierung des Mittelaspekts der Produktivkraftentwicklung. Dies wird sichtbar, wenn man sich die drei Bestandteile des industriellen Prozesses genau untersucht und auf ihre früheren Keimformen zurückführt. Marx (1976/1890, 393) erkannte die drei Bestandteile des industriellen Prozesses:

  • Energiemaschine (bei Marx: »Bewegungsmaschine«)
  • Prozeßmaschine (bei Marx: »Werkzeugmaschine oder Arbeitsmaschine«)
  • Algorithmusmaschine(bei Marx: »Transmissionsmechanismus«)
Die Keimformen der Energiemaschine liegen in der tierischen und menschlichen Kraftanstrengung. Ihre Übertragung auf eine Maschine sorgt für die ortsunabhängige und erweiterbare Verfügbarkeit von (zunächst mechanischer, später elektrischer) Antriebsenergie. Die Keimformen der Prozeßmaschine liegen in den (mechanischen und chemischen) Handwerkertätigkeiten, die in einem technischen Prozeß vergegenständlicht und damit gleichzeitig entsubjektiviert wurden. Die Keimformen der Algorithmusmaschine lagen im Erfahrungswissen des Handwerkers über die sachliche und zeitliche Abfolge der verschiedenen Prozessschritte. Wir sehen, dass alle drei Bestandteile vorher in einer Person vereint sein konnten. Die große Industrie trennt und entsubjektiviert diese Bestandteile sukzessive und macht sie damit einer eigenständigen wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich. Die modernen Naturwissenschaften und schließlich die Informatik entstanden.

Marx wies nach, dass die Prozeßmaschine der Ausgangspunkt der industriellen Revolution war – und nicht wie heute noch fälschlich angenommen wird, die Energiemaschine (»Dampfmaschine«). Die Prozeßmaschine war der Kern der »Mittelrevolution«, die Übertragung des Werkzeuges des Handwerkers auf eine Maschine erst erforderte die Dampfmaschine, um den gewaltig steigenden Energiebedarf der Industrie zu befriedigen. Die industrielle Revolution verwissenschaftlichte vor allem die Prozeßmaschine sowie sekundär die Energieproduktion.

Prozeßmaschine und Algorithmusmaschine waren zunächst noch gegenständlich in einer Maschine vereint. Der algorithmische Produktionsaspekt sollte seine historische Stunde erst später erfahren. Auch rückblickend wird das bisher leider nur unzureichend wahrgenommen. Viele lesen den Marxschen »Transmissionsmechanismus« nur als bloße Energieübertragung und vernachlässigen daher diesen Bestandteil des industriellen Prozesses. Ein schwerer Fehler, denn nur wenn man den algorithmischen Produktionsaspekt erkennt, kann man die nachfolgenden Umwälzungen innerhalb des Kapitalismus auch verstehen. Diese immanenten Umwälzungen stellen fortwährende »Mittel-Revolutionierungen« dar, überschreiten also die »Mittel-Epoche« der Produktivkraftentwicklung nicht.

Durch die Revolutionierung der Mittel wurden die arbeitenden Menschen zu Anhängseln an den Maschinen degradiert. Frauen und Kinder mußten von nun an in den Fabriken schuften. Anpassung an den Rhythmus der Maschine, geistige Verödung und endlose Arbeitsqual bestimmten den Alltag. Marx zitiert im Kapital eine Reihe bürgerlicher Ökonomen, die zugaben, dass diese Art der Produktion endgültig die »rebellische Hand der Arbeiter ... (nieder-) zwingt«. Gleichzeitig jedoch ermöglicht die Maschinerie in der großen Industrie die Entwicklung neuer Fähigkeiten der Arbeiter und muß »unter entsprechenden Verhältnissen umgekehrt zur Quelle humaner Entwicklung umschlagen« (Marx 1976/1890, 514). Aber gerade die negativen Folgen dieser Produktionsweise für die Psyche der Menschen machen uns heute noch zu schaffen.

3.1. Fordismus – die erste algorithmische Revolution

Anfänge der Algorithmisierung der Produktion gibt es mit den ersten komplizierten oder kombinierten Werkzeugmaschinen. Die Übertragung der Werkzeugführung des Handwerkers auf eine Maschine vergegenständlichte sein algorithmisches Prozeßwissen. Aus der bloßen Vergegenständlichung handwerklicher Einzelprozesse wird schließlich die wissenschaftliche Bearbeitung des gesamten Produktionsprozesses, die die historische handwerkliche Arbeitsteilung vollends aufhebt:

»Dies subjektive Prinzip der Teilung fällt weg für die maschinenartige Produktion. Der Gesamtprozeß wird hier objektiv, an und für sich betrachtet, in seine konstituierenden Phasen analysiert, und das Problem, jeden Teilprozeß auszuführen und die verschiednen Teilprozesse zu verbinden, durch technische Anwendung der Mechanik, Chemie usw. gelöst...« (Marx 1976/1890, 401).
Der Fordismus, benannt nach dem Autohersteller Ford, führte die Algorithmisierung der Produktion konsequent durch. Augenfälligstes Resultat dieser Algorithmisierung war das Fließband, das bald alle Wirtschaftsbereiche als »Leitbild« bestimmte. Die Entfernung jeglicher Reste von Subjektivität der arbeitenden Menschen aus der Produktion war das Programm der Arbeitswissenschaft von Frederick W. Taylor. Robert Kurz formuliert diesen Prozess in drastischer Weise so:
»Hatte die Erste industrielle Revolution das Handwerkszeug durch ein maschinelles Aggregat ersetzt, das den fremden Selbstzweck des Kapitals an den Produzenten exekutierte und ihnen jede Gemütlichkeit austrieb, so begann nun die Zweite industrielle Revolution in Gestalt der »Arbeitswissenschaft‹ damit, den gesamten Raum zwischen Maschinenaggregat und Produzententätigkeit mit der grellen Verhörlampe der Aufklärungsvernunft auszuleuchten, um auch noch die letzten Poren und Nischen des Produktionsprozesses zu erfassen, den »gläsernen Arbeiter‹ zu schaffen und ihm jede Abweichung von seiner objektiv »möglichen‹ Leistung vorzurechnen – mit einem Wort, ihn endgültig zum Roboter zu verwandeln.« (Kurz 1999, 372).
Der Mensch wurde zum vollständigen Anhängsel der Maschine, in der der von Ingenieuren vorgedachte Algorithmus des Produktionsprozesses vergegenständlicht war. Diese Produktionsweise basierte auf der massenhaften Herstellung uniformer Güter. Dem entsprachen auf der Seite der Administration die Betriebshierarchien und das Lohnsystem und gesamtgesellschaftlich der Sozialstaat. Dies war auch die hohe Zeit der organisierten Arbeiterbewegung. Ihr Bemühen um straffe Organisation, besonders in den kommunistischen Parteien, hing mit ihren Erfahrungen in der Arbeitsrealität zusammen. Eine zentrale Organisation zur Bündelung von Massen war ihr Ideal. Die einzelnen Menschen waren in der Arbeit und der politischen Organisation lediglich »Rädchen im Getriebe«.

Marx hebt den Aspekt der Kooperation in der industriellen Produktion positiv hervor:

»...unter allen Umständen ist die spezifische Produktivkraft des kombinierten Arbeitstags gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit oder Produktivkraft gesellschaftlicher Arbeit. Sie entspringt aus der Kooperation selbst. Im planmäßigen Zusammenwirken mit andern streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen.« (Marx 1976/1890, 349).
Aus der Vorstellung, dass es nicht die Arbeiter seien, die das Zusammenwirken der Arbeiter planen, sondern die Kapitalisten einzig zum Zwecke der Profitmaximierung, schlossen die kommunistischen Parteien, dass die Kapitalisten zu entmachten seien. Im positiven Marxschen Sinne stünde dann der vollen Entfaltung des Gattungsvermögens nichts mehr im Wege – ein Kurzschluss, wie sich zeigen wird.

3.2. Die Krise des Fordismus

Wenn mit der fordistischen Durchstrukturierung der Gesellschaft die algorithmische Revolution vollendet wurde, wie sind dann die inzwischen gar nicht mehr so neuen Tendenzen der flexibilisierten Produktion und der »Informationsgesellschaft« zu bewerten? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass nach einem qualitativen Entwicklungsschritt, also nachdem der umgreifende Gesamtprozess auf die Erfordernisse der neuen bestimmenden Entwicklungsdimension (hier: der Algorithmisierung der Produktion) hin umstrukturiert wurde, die Entwicklung nicht stehen bleibt. Die letzte Stufe als innere Ausfaltung des neuen Systems, als Vordringen der gegebenen Entwicklungstypik in die letzten Winkel der Gesellschaft, ist erst abgeschlossen, wenn sich die inneren Entfaltungsmöglichkeiten des Systems erschöpft haben, wenn Änderungen der Rahmenbedingungen nicht mehr durch Integration und innere Entfaltung aufgefangen werden können, wenn die Systemressourcen aufgebraucht sind (vgl. Schlemm 1996).

Gleichzeitig entstehen Keimformen neuer Möglichkeiten, und die Veränderung der Rahmenbedingungen, die das System selbst erzeugt, wird zusehends zur Bedrohung für das System selbst. Das alte System erzeugt selbst die Widersprüche, die es auf vorhandenem Entwicklungsniveau nicht mehr integrieren kann. Entfaltung in alter Systemlogik, Herausbildung neuer Keimformen und Widerspruchszuspitzung durch selbst erzeugte systemgefährdende Widersprüche verschränken sich also. In einer solchen Situation befinden wir uns gegenwärtig, und von hier aus kann man auch die Integrationsversuche der Widersprüche in alter Systemlogik bewerten.

Das System »totaler Algorithmisierung«, die Massenproduktion, die gleichartige Massenbedürfnisse befriedigt, wurde von Marcuse (1967) zutreffend als »eindimensionale Gesellschaft« bezeichnet, die den »eindimensionalen Menschen« hervorbringt. Der Kapitalismus ist mit dem Herausdrängen der Subjektivität aus der Produktion, mit der algorithmischen Vorwegnahme jedes Handgriffes vom Anfang bis zum Ende der Produktion in eine Sackgasse geraten. Fordistische Produktion ist zu starr. Als sich die Zyklen von Massenproduktion und Massenkonsum erschöpft hatten, und ab Mitte der Siebziger Jahre zyklisch Verwertungskrisen einsetzten, begann die innere gesellschaftliche Differenzierung. Nur wer die Produktion flexibel auf rasch ändernde Bedürfnisse einstellen konnte, bestand in den immer kürzeren Verwertungszyklen. Die flexible Produktion vergrößerte den individuellen Möglichkeitsraum und trieb so die Individualisierung voran. Gleichzeitig werden fordistische Errungenschaften wie die sozialstaatlichen Absicherungen abgebaut und immer mehr Menschen aus den Verwertungszyklen ausgegrenzt (»Arbeitslosigkeit«). Nicht nur ökologisch gesehen zehrt das Verwertungssystem seine eigenen Grundlagen langsam auf.

Zwei Auswege werden versucht. Die erste Variante ist ein technologischer Ansatz, mit dem versucht werden soll, die Starrheit der fordistisch durchalgorithmisierten Produktion aufzulösen. Die zweite Variante besteht in der Re-Integration der menschlichen Subjektivität in die Produktion. Beide Ansätze bedingen einander und werden im folgenden (Kapitel 3.3.3 und Kapitel 3.4.1) dargestellt.

3.3 Toyotismus – die zweite algorithmische Revolution

Der Toyotismus, benannt nach dem Autohersteller Toyota, versucht als Ausweg die Flexibilität als Merkmal in der Produktion algorithmisch zu vergegenständlichen, er algorithmisiert die Algorithmisierung selbst. Anders als zur Zeit des Fordismus wird nicht bloß der gedachte Produktionsablauf exakt festgelegt und in Formen von Maschinen und starrer Arbeitsorganisation und Hierarchien »gegossen«, sondern es wird die Möglichkeit der Änderbarkeit des Ablaufes, die Manigfaltigkeit der möglichen Einsätze der Werkzeugmaschinen, die Modulariät der Einheiten in der Fließfertigung bereits vorweggenommen und als Merkmal in der Produktion realisiert.

Diese Algorithmisierung in neuer Größenordnung ist eng verbunden mit dem Übergang von der Hardwareorientierung (die Maschine als vergegenständlichter analoger Algorithmus) zur Softwareorientierung und damit Digitalisierung, also mit der Trennung von Prozeßmaschine und Algorithmusmaschine. Die separierte Algorithmusmaschine ist der Computer, die Algorithmen steuern als Software die flexiblen Prozeßmaschinen. Die Bedeutung des informationellen Anteils in der Produktion wächst beständig, Computer dringen in alle Bereiche vor, die der Produktion vor- und nachgelagert sind. Die informationelle Integration von der Bestellung über das Internet bis zur Auslieferung und Abrechnung der Ware ist das große Ideal.

Auslöser dieses Entwicklungsschubes sind die veränderten Marktanforderungen. Die Verwertung können nurmehr diejenigen sicherstellen, die in kurzer Zeit auf geänderte Marktanforderungen reagieren können. Nicht die Fähigkeit zur massenhaften Produktion eines nachgefragten Produkts überhaupt entscheidet (wie im Fordismus), sondern die Fähigkeit zur Realisation dieser Anforderung innerhalb kürzester Zeit. Dieser technologische Ausweg ist sehr begrenzt. Mit dem Postulat des Entstehens einer Informationsgesellschaft werden Lösungen versprochen, die zahlreiche globale Probleme endlich beseitigen sollen. Doch dieses Postulat ist weder neu noch real, sondern entlarvt sich inzwischen auch in der Praxis als ideologische Konstruktion (vgl. Meretz 1996).

Zusammenfassend nach den drei Dimensionen der Produktivkraftentwicklung:

  • Inhalt der Arbeit: Der Kapitalismus produziert Güter mit industriellen Mitteln. Zweck der Produktion ist der Verkauf der Güter und damit die Realisierung des Profits. Der Gebrauchswert der Güter interessiert nur als Mittel zum Zweck der Verwertung.
  • Form der Arbeit: Der Einsatz von Technik und Wissenschaft ist das Mittel, um Arbeit und Produktion zu entwickeln. Der Fordismus versucht unter Einsatz dieses Mittels den subjektiven Faktor aus der Produktion auszuschließen, während der Toyotismus ihn wieder reintegrieren will.
  • Produktivität der Arbeit: Die Produktivität konnte mit fordistischen Mitteln gegenüber der Phase der Industriellen Revolution beträchtlich gesteigert werden. Quelle war die Revolutionierung des algorithmischen Produktionsaspektes. Der Toyotismus versucht die Quadratur des Kreises: Durch Algorithmisierung der Algorithmisierung, durch Festlegung des Flexiblen, durch Vorschreiben von Kreativität sollen die Nachteile des Fordismus aufgehoben werden.

4. Die »Menschen-Epoche«: Entfaltung des Menschen an und für sich

Nach agrarischer und industriell-technischer Produktivkraftentwicklung bleibt eine Dimension im Verhältnis von Mensch, Natur und Mitteln, die noch nicht Hauptgegenstand der Entfaltung war, und das ist der Mensch selbst. Doch der Mensch ist definitionsgemäß bereits »Hauptproduktivkraft«, soll er sich nun »selbst entfalten« wie er die Nutzung von Natur und Technik entfaltet hat? Ja, genau das! Bisher richtete der Mensch seine Anstrengungen auf Natur und Mittel außerhalb seiner selbst und übersah dabei, dass in seiner gesellschaftlichen Natur unausgeschöpfte Potenzen schlummern. Diese Potenzen waren bisher durch Not und Mangel beschränkt oder die Einordnung in die abstrakte Verwertungsmaschinerie kanalisiert. Sie freizusetzen, geht nur auf dem Wege der unbeschränkten Selbstentfaltung jedes einzelnen Menschen, der »Entfaltung des Menschen an und für sich«. Was ist damit gemeint?

Die Wendung »an sich« und »für sich« und »an und für sich« kommt von Hegel und bedeutet verkürzt folgendes:

  • »An sich« bedeutet »der Möglichkeit nach«. Im Zusammenhang hier ist das der Möglichkeitsraum des Gattungswesens Mensch. Dieser Raum der Möglichkeiten wird durch die gesellschaftliche Natur des Menschen bestimmt. »An sich« hat der Mensch alle Möglichkeiten, nur...
  • »Für sich« oder übersetzt: »der realisierten Form nach« kann er seine Potenzen nicht entfalten, da einer Entfaltung zahlreiche Einschränkungen entgegenstehen. Diese Einschränkungen resultieren aktuell aus der kapitalistischen Grundstruktur unserer Gesellschaft, die durch Konkurrenz und das Durchsetzen auf Kosten anderer statt globaler Kooperation und gemeinsamer globaler Entwicklung bestimmt ist.
  • »An und für sich« bedeutet schließlich die Aufhebung des Widerspruch zwischen Möglichkeit und Realisierung. Der Mensch entfaltet seine Gattungspotenzen in globaler Kooperation.
Die unbeschränkte Entfaltung des Menschen, also das Fallenlassen aller Verstümmlungen, Behinderungen und Einschränkungen, die der Kapitalismus für die Menschheit bedeutet, setzt einen dramatischen Entwicklungsschub der Produktivkraft der Arbeit frei. Das bedeutet, dass die Produktivkraft der Arbeit nicht mehr vorherrschend durch Technik und Wissenschaft (der »alten« Weise) gesteigert wird, sondern durch die Selbstentfaltung des Menschen in globaler Kooperation mit anderen. Damit ist auch die »Selbstentfaltung« und die »Entfaltung der Anderen« kein Widerspruch mehr – wie wir das jetzt unter unseren Bedingungen erleben. Im Gegenteil, das Verhältnis kehrt sich geradezu um: Für meine Selbstentfaltung ist die Entfaltung der Anderen die Voraussetzung – und umgekehrt. Selbstentfaltung als Selbstzweck zum Nutzen aller!

Der Begriff der Selbstentfaltung darf dabei nicht mit dem öfter gebrauchten Begriff der »Selbstverwirklichung« verwechselt werden. Es geht nicht darum, eine persönliche »Anlage« oder »Neigung« in die Wirklichkeit zu bringen, sie wirklich werden zu lassen. Diese Vorstellung individualisiert und begrenzt die eigentlichen Möglichkeiten des Menschen: Wenn es »wirklich« geworden ist, dann war's das. Entfaltung bedeutet demgegenüber schrittweise und kumulative Realisierung menschlicher Möglichkeiten auf dem jeweils aktuell erreichten Niveau. Selbstentfaltung ist also unbegrenzt und geht nur im gesellschaftlichen Kontext. Selbstentfaltung geht niemals auf Kosten anderer, sondern setzt die Entfaltung der anderen notwendig voraus, da sonst meine Selbstentfaltung begrenzt wird. Im Interesse meiner Selbstentfaltung habe ich also ein unmittelbares Interesse an der Selbstentfaltung der anderen. Diese kumulative gesellschaftliche Potenz läuft unseren heutigen Bedingungen, unter denen man sich beschränkt nur auf Kosten anderer »verwirklichen« kann, total zuwider.

Was das ökonomisch bedeutet, habe ich an anderer Stelle versucht zu beschreiben (Meretz 1999a). Nur soviel sei skizziert: Eine Globalgesellschaft oder Weltgesellschaft kann nicht zentral geplant und verwaltet werden, die bekannten Versuche sind ja auch gescheitert. Sie wird sich »selbst planen«. Modell ist also nicht eine Top-down-Struktur, in der um so mehr bestimmt je höher er(sie) sitzt, sondern eine vernetzte Struktur aus kleineren Einheiten. »Klein« ist dabei relativ und hängt von der Aufgabe ab.

4.1. Selbstentfaltung verwerten?

Auch die Sachwalter des Kapitals als Exekutoren der Wertverwertungsmaschine haben erkannt, dass der Mensch selbst die letzte Ressource ist, die noch qualitativ unentfaltete Potenzen der Produktivkraftentwicklung birgt. In seiner maßlosen Tendenz, alles dem Verwertungsmechanismus einzuverleiben, versucht das Kapital auch diese letzte Ressource auszuschöpfen. Die Methode ist einfach: Die alte unmittelbare Befehlsgewalt über die Arbeitenden, die dem Kapitalisten qua Verfügung über die Produktionsmittel zukam, wird ersetzt durch den unmittelbaren Marktdruck, der direkt auf die Produktionsgruppen und Individuen weitergeleitet wird. Sollen doch die Individuen selbst die Verwertung von Wert exekutieren und ihre Kreativität dafür mobilisieren – bei Gefahr des Untergangs und mit der Chance der Entfaltung. Wilfried Glißmann, Betriebsrat bei IBM in Düsseldorf, beschreibt den Mechanismus so:

»Die neue Dynamik im Unternehmen ist sehr schwer zu verstehen. Es geht einerseits um »sich-selbst-organisierende Prozesse‹, die aber andererseits durch die neue Kunst einer indirekten Steuerung vom Top-Management gelenkt werden können, obwohl sich diese Prozesse doch von selbst organisieren. Der eigentliche Kern des Neuen ist darin zu sehen, dass ich als Beschäftigter nicht nur wie bisher für den Gebrauchswert-Aspekt, sondern auch für den Verwertungs-Aspekt meiner Arbeit zuständig bin. Der sich-selbst-organisierende Prozeß ist nicht anderes als das Prozessieren dieser beiden Momente von Arbeit in meinem praktischen Tun. Das bedeutet aber, dass ich als Person in meiner täglichen Arbeit mit beiden Aspekten von Notwendigkeit oder Gesetzmäßigkeit unmittelbar konfrontiert bin. Einerseits mit den Gesetzmäßigkeiten im technischen Sinne (hinsichtlich der Schaffung von Gebrauchswerten) und andererseits mit den Gesetzmäßigkeiten der Verwertung. Ich bin als Person immer wieder vor Entscheidungen gestellt. Die beiden Aspekte zerreißen mich geradezu, und ich erlebe dies als eine persönlich-sachliche Verstrickung.« (Glißmann 1999, 152)
Nun verschleiert die Aussage, vor dem toyotistischen Umbruch nichts mit der Verwertung zu tun gehabt zu haben, sicher die realen Verhältnisse. Richtig ist aber, dass nach dem Umbruch die bisher nur mittelbare Marktkonfrontation einer unmittelbaren gewichen ist. So wie sich die Wertverwertung gesamtgesellschaftlich »hinter dem Rücken« der Individuen selbst organisiert, ausgeführt durch das »personifizierte Kapital« , die Kapitalisten (Manager etc.), so werden nun die Lohnabhängigen selbst in diesen Mechanismus eingebunden. Resultate dieser unmittelbaren Konfrontation mit dem Verwertungsdruck sind annähernd die gleichen wie zu Zeiten der alten Kommandoorganisation über mehrere Hierarchieebenen: Ausgrenzung vorgeblich Leistungsschwacher, Kranker, sozial Unangepasster, Konkurrenz untereinander, Mobbing, Diskrimination von Frauen etc. – mit einem wesentlichen Unterschied: Wurde vorher dieser Druck qua Kapitalverfügungsgewalt über die Kommandostrukturen im Unternehmen auf die Beschäftigten aufgebaut, so entwickeln sich die neuen Ausgrenzungsformen nahezu »von selbst«, d.h. die Beschäftigen kämpfen »jeder gegen jeden«. In der alten hierarchischen Kommandostruktur war damit der »Gegner« nicht nur theoretisch benennbar, sondern auch unmittelbar erfahrbar. Gegen das Kapital und seine Aufseher konnten Gewerkschaften effektiv Gegenmacht durch Solidarität und Zusammenschluß organisieren, denn die Interessen der abhängig Beschäftigten waren objektiv wie subjektiv relativ homogen. In der neuen Situation, in der die Wertverwertung unmittelbar und jeden Tag an die Bürotür klopft, sind Solidarität und Zusammenschluß unterminiert – gegen wen soll sich der Zusammenschluß richten? Gewerkschaften und Marxismen ist der Kapitalist abhanden gekommen! War die alte personifizierende Denkweise und entsprechende Agitationsform schon immer unangemessen, schlägt sie heute erbarmungslos zurück. Nicht mehr »der Kapitalist« (oder »das Kapital« oder »der Boss«) ist der Gegner, sondern »der Kollege« oder »die Kollegin« nebenan. Die IBM-Betriebsräte nennen das »peer-to-peer-pressure-Mechanismus« (Glißmann 1999, 150).

Die unbeschränkte Selbstentfaltung des Menschen ist unter den Bedingungen der subjektlosen Selbstverwertung von Wert als rückgekoppelter Kern der »schönen Maschine« undenkbar. Selbstentfaltung bedeutet ja gerade, dass sich das Subjekt selbst entfaltet, und zwar jedes Subjekt und das unbegrenzt. Dennoch gibt es auch unter entfremdeten Bedingungen der abstrakten Arbeit neue Möglichkeiten, denn neben den Effekten der Entsolidarisierung gibt es gleichzeitig auch einen größeren Handlungsspielraum, ein Mehr an Entfaltungsmöglichkeiten und Verantwortung als zu alten Kommandozeiten. In der unmittelbaren Arbeitstätigkeit sind die Handlungsrahmen weiter gesteckt als vorher:

»Es gilt das Motto: »Tut was ihr wollt, aber ihr müßt profitabel sein‹« (Glißmann 1999, 151).
Innerhalb dieses vergrößerten Handlungsrahmens kann ich in größerem Maße als früher meine individuellen Potenzen entfalten, weil ich selbst an meiner eigenen Entfaltung interessiert bin, weil es Spaß macht und meiner Persönlichkeit entspricht. Die Bedingungen, dass ich mich selbst als Hauptproduktivkraft entfalte, sind im Vergleich zu meinen Eltern und Großeltern schon besser geworden, gleichwohl geschieht dieses Mehr an Entfaltung immer noch unter entfremdeten Bedingungen. Die Entfaltung ist nur möglich, solange ihre Ergebnisse verwertbar sind, solange ich profitabel bin. Sogar die Love-Parade wird damit zum profitablen Geschäft. In meiner Person spiegelt sich damit der unter unseren Bedingungen nicht auflösbare Widerspruch von Selbstentfaltung und Verwertung, von Entfaltung der Hauptproduktivkraft Mensch an-und-für-sich und entfremdeter Produktivkraftentwicklung.

4.2. Jenseits der Verwertung

Wie sieht die Aufhebung des Widerspruches von Selbstentfaltung und Verwertungszwang in Überschreitung unserer Bedingungen aus? Es geht um die Umkehrung des Satzes von Marx, wonach die »gesellschaftliche Bewegung« durch eine »Bewegung von Sachen« kontrolliert wird, »statt sie zu kontrollieren«. Marx hätte das so sagen können:

»Die gesellschaftliche Bewegung wird von den Menschen bewußt bestimmt. Die Bewegung von Sachen wird von den Menschen kontrolliert und dient einzig dem Zweck, ein befriedigendes Leben zu gewinnen.« (Marx, nie aufgeschrieben).
Die Alternative zur abstrakten subjektlosen selbstorganisierenden Vermittlung der gesellschaftlichen Reproduktion durch den Wert (als Bewegung von Sachen) ist die konkrete selbstorganisierte Vermittlung durch die handelnden Menschen selbst – das ist so einfach wie logisch! Oder anders formuliert: Die abstrakte Vergesellschaftung über den Wert wird ersetzt durch eine konkrete Vergesellschaftung der handelnden Menschen selbst. Bedeutet das ein Zurück zu den alten Zeiten der »Natur-Epoche«, in der die Vergesellschaftung personal organsiert war – in Form von persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen? Nein, so wie die »Mittel-Epoche« die »Natur-Epoche« aufgehoben hat, so wird die Epoche der menschlichen Selbstentfaltung alle vorherigen Entwicklungen aufheben. »Aufheben« bedeutet dabei sowohl Ablösen als auch Bewahren und in einem völlig neuen Kontext fortführen. Es ist klar, das Menschen natürlich weiter Nahrungsmittel und industrielle Güter produzieren werden, doch es ist ebenso klar, dass sie dies nicht in der gleichen Weise wie bisher tun werden – ganz einfach, weil die bisherige Produktionsweise die Reproduktionsgrundlagen der Menschheit systematisch zerstört.

Wie geht es Dir, wenn Du diese Zeilen liest? Denkst Du auch »Das ist ja utopisch«? Dann geht es Dir genauso wie den meisten. Die herrschende abstrakte Vergesellschaftungsform über den Wert hat alle Lebensbereiche so weit durchdrungen, dass ein Leben ausserhalb dessen schier undenkbar erscheint. Kannst Du Dir ein Leben ohne Geld, das über die Lebensmöglichkeiten von Menschen bestimmt, vorstellen? Ein Leben mit »einfach nehmen« statt »kaufen«? Es ist nicht einfach, das zu denken. Hier geht es uns zunächst einmal darum, zu begründen, dass die Wertvergesellschaftung nicht das Ende der Geschichte darstellt, sondern dass eine personale Vergesellschaftung historisch-logisch die entfremdete Form aufheben kann.

Die Tatsache, dass es eine abstrakte Instanz, den Wert, gibt, über den sich die gesellschaftlichen Beziehungen regulieren, hat auch eine positive Funktion: Sie entlastet die Gesellschaftsmitglieder, jeden Einzelnen individuell von der Notwendigkeit, »die ganze Gesellschaft« zu denken. Ich muss mich nur mit meinem unmittelbaren Umfeld beschäftigen, alles andere regelt sich schon. So paradox es klingt: Die personalisierende Denkweise ist unter entfremdeten Bedingungen nahegelegt, obwohl sich die Gesellschaft gerade nicht über das Wollen von Personen, sondern über den abstrakten Mechanismus der maßlosen Wertvermehrung reguliert. Hieraus haben linke Bewegungen den Schluss gezogen, dass die Totalität des amoklaufenden Werts durch eine kontrollierte Totalität einer umfassenden gesellschaftlichen Planung abgelöst werden müsse. Wie wir wissen, sind alle Versuche mit gesellschaftlicher Gesamtplanung gescheitert. Diese praktische Erfahrung ist auch theoretisch nachvollziehbar, denn die kommunikativen Aufwände, die notwendig wären, um die individuellen und die gesellschaftlichen Bedürfnisse miteinander zu vermitteln, also die Vergesellschaftung praktisch zu leisten, sind schier unendlich hoch. Selbst Räte oder andere Gremien können das Problem der immer vorhandenen Interessenkonflikte nicht stellvertretend aufheben. Auch für den Einzelnen ist die Notwendigkeit, die eigenen Interessen mit unendlich vielen anderen Interessen zu vermitteln, eine völlige Überforderung.

Eine neue Vergesellschaftungsform kann nur den gleichen individuell entlastenden Effekt haben, wie die sich selbst organisierende Wertmaschine – nur, dass sie ohne Wert funktioniert! Gesucht ist also ein sich selbstorganisierender »Mechanismus«, der einerseits die Vergesellschaftung quasi »automatisch« konstituiert, andererseits aber die abstrakte Vergesellschaftung durch eine personal-konkrete Form ablöst. Das hört sich wie ein Widerspruch an, ist es aber nicht! Man muss sich nur von der Vorstellung verabschieden, die Gesellschaft müsse planvoll von irgendeiner Art zentraler Instanz gelenkt werden. Diese Vorstellung enthält immer das Konzept eines Innen-Außen: Die Planer – ob Räte, Behörde, Diktatoren – stehen gleichsam außerhalb der Gesellschaft und planen diese. Die Planer planen für uns, oder noch deutlicher: sie planen uns. Das geht aber ganz grundsätzlich nicht, denn kein Mensch ist planbar und vorhersehbar. Die Alternative zu stellvertretenden Planung kann nur die Selbstplanung der Gesellschaft sein.

Eine Selbstplanung der Gesellschaft setzt strukturell eine Konvergenz allgemeiner Interessen voraus. Das ist im Kapitalismus unmöglich. Der Kapitalismus kennt überhaupt nur Partialinteressen, die jeweils nur gegen andere Partialinteressen durchsetzbar sind. Eine gelungene Vermittlung der Partialinteressen trägt dann den Namen »Demokratie« – das kann es aber nicht sein. Kann es aber eine Konvergenz allgemeiner Interessen geben? Sind die individuellen Interessen und Wünsche nicht sehr verschieden, will nicht eigentlich jeder doch irgendwie etwas anderes? Ja, und das ist auch gut so! Unter unseren Bedingungen schließt diese Frage jedoch immer mit ein, diese »Wünsche«, dieses »andere Wollen« muß auch gegen andere – ob individuell oder im Zusammenschluss mit anderen, die die gleichen Partialinteressen haben – durchgesetzt werden. Wir hatten aber vorher herausgefunden, dass die Selbstentfaltung des Menschen nur funktioniert, wenn sich alle entfalten können und dies auch real tun. Unter Bedingungen der Selbstentfaltung habe ich ein unmittelbares Interesse an der Selbstentfaltung der anderen Menschen. Etwas vereinfacht gesprochen steht der Win-Loose-Situation im Kapitalismus eine Win-Win-Situation in der zukünftigen Gesellschaft gegenüber.

Schön und gut, aber wie kommen denn nun die Brötchen auf den Tisch? Was ersetzt denn nun den Wert als selbstorganisierenden Mechanismus der Vergesellschaftung? Aber das ist es doch gerade: Die Selbstentfaltung des Menschen ersetzt diesen abstrakten Mechanismus durch eine personal-konkrete Vermittlung der Menschen! Selbstentfaltung bedeutet ja nicht Abschaffung der Arbeitsteilung. Das bedeutet, ich beziehe mich weiterhin nicht auf die »gesamte« Gesellschaft, sondern weiterhin nur auf den Ausschnitt der Gesellschaft, der mir zugekehrt ist. Wie groß dieser Ausschnitt ist, entscheide ich je nach Lage. Entfalten sich die Menschen um mich herum und ich darin fröhlich vor sich hin, dann besteht kein Grund, den gesellschaftlichen Ausschnitt zu vergrößern. Gibt es aber Einschränkungen meiner Selbstentfaltung, die nicht meinem unmittelbaren Handeln zugänglich sind, dann werde ich den Blick weiten, um die Ursachen der gemeinsamen Einschränkungen aus der Welt zu schaffen. Da mein Leben nicht mehr auf die Heranschaffung des Abstraktums »Geld« ausgerichtet ist, bekommen die Einschränkungen für mich eine völlig neue konkrete Bedeutung: Sie schmälern in direkter Weise meinen Lebensgenuss. Da diese Einschränkungen meiner Selbstentfaltung auch für alle anderen beschränkend sind, liegt es unmittelbar nahe, die Einschränkungen im gemeinsamen Interesse zu beseitigen. Im eigenen und gleichzeitig allgemeinem Interesse werden wir uns die personalen und konkreten Vermittlungsformen suchen, die notwendig sind, um Einschränkungen unseres Lebensgenusses aus der Welt zu schaffen. Allgemeiner formuliert: Jedes menschliche Bedürfnis findet auch seine Realisierung – und ist das Bedürfnis mein einzig alleiniges auf der Welt, dann realisiere ich es eben selbst. Da das aber bei den Brötchen auf dem Tisch nicht der Fall sein dürfte, wird es für das Problem »Brötchen auf dem Tisch« eine allgemeine Lösung geben.

Zusammengefaßt nach den Dimensionen der Produktivkraftentwicklung ergibt sich folgendes Bild:

  • Inhalt der Arbeit: Die Weltgesellschaft produziert weiterhin Güter mit industriellen Mitteln, jedoch ist die eigentliche materielle Herstellung gegenüber der planenden und konstruierenden Vorbereitung unbedeutend geworden. Die »Informationsgesellschaft« kommt hier auf ihren Begriff (vgl. Merten 2000). Die Produktion orientiert sich an der Nützlichkeit der Produkte, was destruktive Produktionsformen, die die Lebensqualität einschränken können, ausschließt.
  • Form der Arbeit: Die unbeschränkte Selbstentfaltung des Menschen ist das Mittel, um Arbeit und Produktion zu entwickeln. Dabei verliert die »Arbeit« ihren alten Charakter der Beseitigung von Notdurft, sondern sie wird zum Mittel der individuellen Entfaltung des menschlichen Gattungsvermögens. Die »alte Arbeit« als Maloche und Zwang hebt sich damit selbst auf, denn die Selbstentfaltung ist nicht Zweck »besserer Arbeit«, sondern Selbstzweck.
  • Produktivität der Arbeit: Eine hohe Produktivität ist die Bedingung der Selbstaufhebung der »alten Arbeit«. Die Produktivität bemisst sich dabei nicht am quantitativen Güterausstoß, sondern an der Gewinnung von Lebensqualität für alle Menschen.

5. Zusammenfassung

Menschliches Leben basiert auf dem Stoffwechsel mit der Natur. Durch Arbeit unter Nutzung von Mitteln betreibt der Mensch diesen Stoffwechsel. Historisch verläuft diese Stoffwechselbeziehung des Menschen zur Welt in qualitativ unterscheidbaren Epochen ab. Jeweils ein Aspekt des Mensch-Natur-Mittel-Verhältnisses steht in den Epochen im Mittelpunkt der Entfaltung, jede nachfolgende Epoche baut auf dem Entwicklungsgrad der vorhergehenden Epoche auf. In den agrarischen Gesellschaften dominiert der Naturaspekt, in den Industriegesellschaften steht das Mittel im Zentrum, und die zukünftige Gesellschaft wird durch die volle Entfaltung der menschlichen Subjektivität, wird durch die Selbstentfaltung des Menschen bestimmt sein. Diese Entwicklungsrichtung der Selbstentfaltung des Menschen wird von den Kapitalvertretern gesehen. Sie versuchen die »Ressource Mensch« unter die Bedingung der kapitalistischen Vergesellschaftung zu stellen.

Die nachfolgend dargestellte Abbildung dampft das Gesagte noch einmal beträchtlich ein. Anhand der Übersicht wird deutlich, wo wir heute stehen: an der Schwelle zu einem neuen Qualitätssprung sowohl in Produktivkraftentwicklung als auch Gesellschaftsformation.

*) Der Text ist ein Auszug aus: Stefan Meretz: LINUX & CO. Freie Software – Ideen für eine andere Gesellschaft. Er ist komplett zu haben unter: http://www.kritische-informatik.de/fsrevol.htm