Matthias Küntzel und der Islamismus
Der "Krieg gegen den Terror" und das Abdanken linker Politik

03/02
 
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Die radikalen Islamisten seien in gewisser Weise die Wiedergänger der Nationalsozialisten - diese These vertreten eine Reihe linker oder ehemals linker Persönlichkeiten im Zusammenhang mit den Attentaten vom 11. September 2001. Daher sollte man sich auch des Protests gegen den Krieg der führenden Mächte der Erde, beispielsweise im Mittleren Osten, besser enthalten. Jedenfalls vorläufig. Auf nicht ganz so platte Art wie in der Zeitschrift Bahamas geht Matthias Küntzel in jüngeren Ausgaben von konkret und Jungle World an das Thema heran. (1) Aber auch er landet bei einem - verklausulierten - ja zum Krieg gegen den "Terrorismus", der bei ihm "Djihadismus" heißt.

Küntzel sieht "die jetzt" - also zwischen dem 11. September 2001 und dem Beginn der Bombardierungen im Mittleren Osten (2) - "besonders enge Kooperation zwischen Washington und London" nicht in einer traditionellen Sonderbeziehung zwischen zwei Großmächten begründet, die seit längerem als special relationship ihren Namen hat und bereits bei anderen internationalen Waffengängen zu Tage trat. Die Kooperation sei vielmehr Ausdruck bürgerlich-liberaler Ideale, die Küntzel "die britische und US-amerikanische Vorstellung vom Individuum als politischem Subjekt" nennt. Diese stehe dem islamistischen "Identitätswahn" und der "Doktrin der Deutschen" diametral entgegen. Damit würde die Einteilung der Welt in "Deutsche" (im Geiste) und "Antideutsche", vulgo Antisemiten und militante Antiantisemiten, einmal mehr hinhauen.

Diese Sätze belegen vor allem eins:

Küntzels völlige Unkenntnis der islamistischen Akteure und ihrer Ideologie. So ignoriert er, dass ausgerechnet London sehr lange als "Hauptstadt des europäischen Islamismus" galt. Sämtliche extremistischen Strömungen des internationalen Islamismus hatten dort ganz legal ihren Sitz oder vertrieben von dort ihre Publikationen. Von London aus bekannten sich etwa algerische Islamistengruppen zu den blutigen Massakern in ihrem Land.

Der algerische Islamistenpolitiker Anouar Haddam wiederum gab seine Erklärungen zu den Gräueltaten seiner Gefolgsleute ausgerechnet in Washington ab. Nicht ohne Grund. Die US-Administration setzte im algerischen Konflikt bis zum Jahresende 1995 auf eine Machtübernahme der Islamisten in Algerien - die die CIA bereits für 1994 fälschlich vorausgesagt hatte. Dieser Machtwechsel wurde vor allem deshalb so energisch befürwortet, um Frankreich aus seinem "Hinter- hof" im Maghreb zu verdrängen. internationale Politik hält sich eben wenig an bürgerlich-liberale Ideale. Auf die US-Politik gegenüber Afghanistan während der 80er und 90er Jahre soll hier nicht näher eingegangen werden, um nicht allgemein Bekanntes zu wiederholen.

Doch wenn man Küntzels Analyse des politischen Islamismus folgt, sind solche Zusammenhänge auch gar nicht von Bedeutung. Denn sie besteht vor allem darin, Züge des deutschen Nationalsozialismus in den Islamismus hineinzulesen. Der Mühe, den Islamismus mitsamt seinem gesellschaftlichen Kontext zu analysieren, unterzieht er sich erst gar nicht; er reduziert ihn auf einen einzigen ideologischen Faktor, den Antisemitismus, der die eindrucksvollste Parallele zur deutschen NS-Geschichte zu ziehen erlaubt.

Küntzel zeigt anschaulich, wie diese Art der Analyse funktioniert. Sein konkret-Artikel beginnt mit Ausführungen von Adolf Hitler (3), der "nicht zufällig" die Vernichtung des vorgeblich jüdisch dominierten New York herbeifantasiert habe. Einige Absätze weiter wird dann der "eliminatorische Hass gegen das jüdische New York" als einziges Motiv der Attentäter fraglos vorausgesetzt. Ferner ist die Rede von den Anschlägen des 11. September als "bisher monströseste(r) Offenbarung eines erneut auf Vernichtung zielenden Antisemitismus". Was bezweckt die Verwendung des Wortes "erneut", wenn nicht, einen Wiederholungszwang gegenüber dem historischen Vorbild des NS, letztlich eine Neuauflage von Auschwitz, zu suggerieren?

Andere mögliche Beweggründe der Attentäter, etwa eine extrem verzerrte Feindschaft gegenüber den USA als imperialistische Führungsmacht und ihre Präsenz im Mittleren Osten, werden schlicht nicht erwogen oder auch nur andiskutiert. Dass New York - ausschließlich - wegen seines vorgeblich jüdischen Charakters angegriffen wurde, hat Küntzel ja bereits "bewiesen" - mit Zitaten nicht aus dem ideologischen Umfeld der Täter, sondern von Hitler. Zwar zitiert Küntzel in den Absätzen davor islamistische Stimmen, vor allem Vordenker der ägyptischen "Muslimbrüder" aus den 30er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts - einer Bewegung, die in der damaligen Phase tatsächlich zahlreiche Versatzstücke des Faschismus und Nationalsozialismus übernommen hatte. Doch das Bild von der Vernichtung New Yorks als Antisemiten-Traum wird in dem Artikel an Ausführungen Adolf Hitlers aufgehängt, der bereits eingangs des Textes zitiert wird. Mit einer solchen "Beweisführung" durch suggestive Analogieschlüsse würde jeder Student der Gesellschaftswissenschaften schon im ersten Semester gnadenlos durchfallen.

Islamismus und koloniale Aggression

Nun haben andere Islamisten schon in den Jahren 1995/96 in Paris mehrere blutige Attentate auf voll besetzte Metro-Züge verübt. Oder im Januar 1995 in Algier einen voll besetzten Bus in eine rollende Bombe verwandelt, um das Hauptkommissariat zu treffen. Diese Attentate haben dieselbe Qualität wie das von New York: sie nahmen die Vernichtung einer größeren Zahl von Menschen in Kauf und waren nur quantitativ auf deutlich niedrigerer Stufe angesiedelt. Küntzel hätte große Mühe, einen vorgeblich jüdischen Charakter der getroffenen Orte zu behaupten - oder aber nur um den Preis, das antisemitische Gerede von der jüdischen Allgegenwart und Allmacht einen gedanklichen Moment lang für bare Münze zu nehmen.

Im Islamismus gibt es keine Herrenrasse

In einer Fußnote zu seinem konkret-Text deutet Küntzel an, welche Schlussfolgerung aus den Attentaten vom 11. September zu ziehen sei. Vorsichtig in der Formulierung, plädiert er dafür, "die kommunistische Politik im Zuge des Zweiten Weltkriegs kritisch zu reflektieren." Denn auch wenn islamistischer Extremismus und NS nicht identisch seien, so stellte sich doch "für die damalige Linke ein vielleicht vergleichbares Problem" - was umgekehrt bedeutet, dass das heutige mit dem damaligen Problem vergleichbar sei. Dessen Lösung - so heißt es in der Fußnote mit Bezug auf den NS, und im Text im Hinblick auf den radikalen Islamismus - bestehe darin, die imperialistischen Führungsmächte nicht deswegen zu kritisieren, weil sie ihre Gegner verfolgen, sondern "weil sie diese nicht zielgenau und konsequent genug verfolg(en)". Anfang Oktober 2001 bedeutete dies - objektiv - zweierlei: Dass erstens ein Krieg im Namen des Kampfs gegen den Islamismus, der sich damals bereits klar abzeichnete, nicht zu kritisieren sei; und zweitens, dass es der US-amerikanischen Politik vielleicht gar nicht darum gehe, den Islamismus konsequent zu bekämpfen. Letzteres mag stimmen: Es trifft zu, dass die US-Außenpolitik den politischen Islamismus nicht konsequent aushebeln, sondern ihn "zähmen" und in ihren eigenen Vorherrschaftsanspruch einbinden will (wie z.B. Saudi-Arabien). Dagegen ist die erstgenannte Aussage die Aufforderung zum "zielgenauen" und "konsequenten" Kampf gegen den Islamismus - eine politische Katastrophe und bedeutet nicht weniger als das Abdanken linker Politik.

Die von Küntzel vorausgesetzte Behauptung, der Antisemitismus sei nicht nur das zentrale Motiv des Nationalsozialismus, sondern auch des Islamismus ist in dieser schlichten Form unhaltbar. Richtig ist, dass viele Formen des politischen Islamismus auch eine mal mehr, mal weniger ausgeprägte Judenfeindschaft befördern. Diese Differenzierung ist kein Plädoyer für einen politischen Kompromiss mit dem Gesellschaftsprojekt des Islamismus: Ein solcher ist weder möglich noch wünschenswert. Denn ein sich direkt auf das "Wort Gottes" berufender politischer Diskurs kann per se keine Widerrede dulden und ist daher in seinem Wesenskern "totalitär" - in diesem Fall trifft der umstrittene Kampfbegriff zu, zumal der Islamismus sich alle Lebensbereiche unterzuordnen sucht.

Das Hauptmotiv des radikalen Islamismus ist die Vorstellung, die Krise der muslimischen Gesellschaften sei durch eine Rückkehr zu einer vermeintlich verschütteten "kulturellen Identität" zu lösen. Von einer absolut realen Erfahrung dieser Gesellschaften ausgehend, nämlich der - im kollektiven Gedächtnis eingespeicherten - kolonialen Aggression, interpretiert der Islamismus unterschiedliche Phänomene der heutigen Gesellschaftsformationen durch sein ideologisches Raster.

Von der Massenarmut bis zur Emanzipation der Frauen und der Jugend werden die (teilweise durch den Imperialismus und die Ungleichheit der weltwirtschaftlichen Strukturen, teilweise durch den Übergang von traditionellen zu moderneren Sozialbeziehungen zu erklärenden) Verwerfungen und Umwälzungen auf eine ausschließliche Ursache reduziert. Nämlich auf die westliche Aggression, die aber nicht herbeihalluziniert ist, sondern in einer bestimmten Form tatsächlich existiert. Auf diesen realen Kern werden dann die angenommenen Ursachen unterschiedlicher Frustrationen projiziert. Dies ergibt eine höchst brisante Mischung aus antiimperialistischer Kritik, verschwörungstheoretischer Halluzination und reaktionärem Gesellschaftsprojekt.

Ein bedeutender Unterschied zum NS-Antisemitismus ist evident. Dieser zielte darauf ab, die gesellschaftliche Krise der 30er Jahre zu lösen, indem die jüdische Bevölkerung vernichtet wurde. Wer hingegen der "Herrenrasse" angehörte, sollte besser leben. Im islamistischen Gesellschaftsprojekt gibt es keine solche "Herrenrasse". Im Gegenteil, niemand hat so sehr unter einem islamistischen Regime zu leiden wie die muslimische Bevölkerung. Denn wodurch haben die islamistischen Regime - im Iran, in Saudi-Arabien und bis vor kurzem in Afghanistan - denn die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen? Vor allem durch die zahlreich verhängten körperlichen Züchtigungsstrafen, die insbesondere den Muslimen selbst einbläuen sollen, ihrer vorgeschriebenen Identität treu zu bleiben.

Hinzu kommt, vor allem in der Anfangsphase islamistischer Regime, eine oftmals blutige "Säuberung" der Gesellschaft von so genannten inneren Feinden - wie Linken, lästigen Intellektuellen und Feministinnen. Diese Vision vom "Reinigungsbad", das der muslimischen Nation wieder zu ihrer ursprünglichen und später geraubten "Identität" verhelfen soll, weist tatsächlich faschistoide Züge auf. Doch lassen sich hier Parallelen eher zur Verfolgung politischer Opposition bspw. in den Anfangsjahren des NS-Regimes ziehen als zur späteren Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Denn die Repression setzt hier nicht an der "biologischen" Qualität des Individuums an, sondern an seinem (politischen oder gesellschaftlichen) Verhalten - das es entweder aus Furcht vor dem Terror ablegen, oder unter hohem Risiko beibehalten kann.

Auch in einem anderen Aspekt stimmt der nationalsozialistische Antisemitismus mit dem des Islamismus nicht überein. Im Nationalsozialismus gab es keine Möglichkeit für einen Juden, seiner "Natur", seiner "Rasse" zu entrinnen. Ein jüdischer SS-Mann war nicht vorstellbar. Doch selbst die extremsten Fraktionen des radikalen Islamismus, wie AI-Qaida, haben durchaus ehemalige Andersgläubige in ihren Reiben: im Erwachsenenalter zum Islam konvertierte weiße Franzosen oder US-Amerikaner. Die These, die Haltung der radikalen Islamisten gegenüber den BewohnerInnen der USA sei vergleichbar mit dem Verhältnis der Nazis gegenüber den Juden, trifft nicht zu.

Aus den genannten Gründen dient der Islamismus auch imperialistischen Mächten, beispielsweise den USA, in manchen Situationen als willkommenes Instrument der Krisenverwaltung, das für "Stabilität" in den zu kontrollierenden Ländern sorgt. Am Beispiel Saudi-Arabiens machen die USA das seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts vor.

Prinzipielle Voraussetzung dafür ist natürlich, dass der Islamismus eigene politische Ansprüche nach außen hin, auf internationaler Ebene, zurückschraubt und sich auf eine "Moralisierung" der von ihm beherrschten Länder eingrenzen lässt oder aber eine pro-westliche Außenpolitik betreibt. Die US-Politik unterscheidet daher auch zwischen einem nach außen hin pro-westlichen und daher ungefährlichen Islamismus einerseits und dem "gefährlichen" Islamismus, etwa dem iranischen "Modell" der 80er Jahre, andererseits. Und selbst im iranischen Falle sollte man zwischen Rhetorik - die eher der "Eindämmung" und Gefügigmachung eines nicht grundsätzlich verworfenen Regimes dient - und realer Gegnerschaft unterscheiden.

Selbstverständlich kann sich die auf Repression im Inneren der muslimischen Gesellschaft ausgerichtete tiefste Natur des islamistischen Projekts in der politischen Praxis mit chauvinistischen und verschwörungstheoretischen Elementen mischen. Das tut es im Übrigen nicht allein im Hinblick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Andere Orte, wo der internationale Islamismus mindestens ebenso viel Gewalt entlädt, sind Bosnien, Kaschmir, der Südsudan und die von Kopten bewohnten Regionen Ägyptens.

Wer die Ursachen des gesellschaftlichen Erfolges des Islamismus - jene Mischung aus berechtigter Gesellschaftskritik und reaktionärem Wahn - nicht richtig analysiert und stattdessen militärische Lösungen fordert, könnte dazu beitragen, die reaktionäre Utopie noch zu bestärken. Der Krieg der US-geführten Allianz gegen den Irak von Anfang 1991 hat ebenso wie zuvor die sowjetische Invasion in Afghanistan, der islamistischen Schein-Alternative in der gesamten Region zu neuer Legitimität verholfen als Repräsentantin des Widerstandes gegen eine äußere Unterdrückung.

Anfang der 90er Jahre war Matthias Küntzel noch in der Lage, diesen Zusammenhang zu sehen. 1991, als Teile der radikalen Linken, auch der damaligen KB-Minderheit, wegen der antijüdischen Propaganda des Regimes in Bagdad den Angriff auf den Irak befürworteten, stellte Küntzel einem Wortführer der "antideutschen" Bellizisten die Frage: "Welche Länder der Region willst du eigentlich noch präventiv bombardieren?" Dies sei schließlich nur konsequent. Heute scheint es an der Zeit, genau diese Frage an Matthias Küntzel zurückzugeben.

Bernhard Schmid, Paris

Anmerkungen:

1) Die folgenden Zitate stammen überwiegend aus Matthias Küntzels Artikel in konkret 11/2001; in Jungle World vom 23. Januar 2002 nimmt er vorsichtiger Stellung, um die seit vergangenem Herbst in konkret mehrheitlich vertretenen Positionen zu kritisieren.

2) Matthias Küntzel hat den Autor dieses Artikels darauf aufmerksam gemacht, dass sein Artikel der im November 2001 in konkret erschien - auf Grund des Redaktionsschlusses (4. Oktober) kurz vor Beginn der Bombenflüge (7. Oktober) geschrieben worden sei. Freilich war zu dem Zeitpunkt den meisten Beobachtern klar, dass der Krieg unmittelbar bevorstand.

3) Küntzel hat den Verfasser vehement darauf hingewiesen, er zitiere doch gar nicht Adolf Hitler, sondern allenfalls Alfred Speer. Tatsächlich zitiert er - schon im zweiten Absatz seines konkret-Artikels - Adolf Hitler durch den Mund des NSDAP-Politikers Alfred Speer, welcher Hitlers mündliche Ausführungen in Partei- oder Führungskreisen wiedergibt und zusammenfasst.

 

Editoriale Anmerkung:

Der Artikel erschien in: ak (analyse & kritik), 459, 22.2.2002, S. 24f., er wurde OCR-gescannt und uns von m.merlin@mao-projekt.de zur Veröffentlichung zugesandt.