Die Befreiung der Arbeit
Kritik der bolschewistischen Theorie anhand einer Analyse von Lenins Schrift: „Über die Naturalsteuer“

aus: Schwarze Protokolle Nummer Eins

03/03
 
 
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Vorwort

I DIE BAUERN

Lenin als politischer Ökonom: „Kleinbürgerlicher Kapitalismus“

Der Markt als Plan
In der Zukunft verwurzelt
Die proletarische Vereinigung der Bauern
Barbarisch diktierte Kultur
Sozialismus als Privileg

II DIE ARBEITER

Lenin als politischer Ökonom: “Kapitalismus in der Rolle eines Helfers des Sozialismus“

Der Einkauf von Kapitalisten – „ein 'Auskauf' eigener Art!“
Das Klassenziel in der Schule des Kapitalismus
Eins teilt sich in zwei
Sozialismus als Opfer

III DAS BÜNDNIS

Lenin als politischer Ökonom: “Von der Kleinproduktion zum Sozialismus“

Der Sündenfall
Die positive Definition des Bündnisses
Die „Vertreter der Interessen des gesamten Volkes“
Die Enteignung des Proletariats


VORWORT

Der Fortgang der Arbeiterbewegung ist zugleich die Kritik ihrer eigenen Tradition. Für die aktuelle linke Bewegung ist die russische Oktoberrevolution ein Spiegel, in dem sie ihre eigene Herkunft und Bestimmung positiv oder negativ zu erkennen sucht. Dieser Erkenntnisprozeß läuft notwendig über die Auseinandersetzung mit der Gruppe, die die nachrevolutionäre russische Gesellschaft durch den Aufbau des Sozialismus, wie sie selbst sagt gebändigt hat: mit den Bolschewiki, insbesondere ihrem Führer Lenin.

Wir finden innerhalb der linken Bewegung zwei grundsätzlich zu unterscheidende Positionen in der Beurteilung Lenins, der Bolschewiki und der russischen Revolution. Die einen gehen davon aus, daß in Rußland 1917 eine proletarische Revolution stattgefunden habe, daß die Bolschewiki als Avantgarde des Proletariats die Garantie für die proletarische Qualität dieser Revolution waren. Verschiedene Fraktionen in diesem Lager führen in ihre Geschichtsbetrachtung. zwar einen Sündenfall ein, „Fehler“ der Bolschewiki, „Degeneration des Arbeiterstaates“ (Trotzkisten) oder konstatieren die geschichtliche Überholtheit, der russischen Revolution und der bolschewistischen Prinzipien durch eine “neue Realität“ („Il Manifesto“). Allen gemeinsam aber ist als Ausgangsposition die Identifikation mit den Bolschewiki als organisierter Avantgarde der Arbeiterklasse.

Die anderen, “Links-“ oder Rätekommunisten, (wie z. B. die holländische Gruppe lnternationale Kommunisten) bestreiten die Existenz der Voraussetzungen des Sozialismus im Rußland von 1917. Für sie sind die Bolschewiki nur Agenten einer historisch neuen Form von Kapitalismus. In der Tatsache, daß die innere Konkurrenz zugunsten einer besseren Konkurrenzfähigkeit im Weltmaßstab beseitigt oder beschnitten wurde, sehen sie eine zwar für die alte russische Herrscherklasse vernichtende, für die Arbeiter ihren Kampf gegen die Ausbeutung aber nur noch erschwerende Wendung. Die Theorie der Bolschewiki kritisieren sie als eine dem Proletariat fremde, bürgerlich - revolutionärem Verschwörertum angemessene Ausdrucksform.

Die linkskommunistische Kritik des Bolschewismus hat bisher nur schwache Versuche gemacht, die Apologeten des Staatssozialismus auf ihren eigenen Grundlage ad absurdum zu führen, d. h. den Widerspruch im staatssozialistischen System selbst darzustellen. Der Sozialismus in der russischen Revolution ist für sie eher eine vergebliche Hoffnung - als die Potenz der lebendigen, gegen das Staatsmonopol rebellierenden Produzenten; ihnen ist es immer mehr darum zu tun gewesen, zu beweisen, daß die russische Revolution gar nicht sozialistisch sein konnte, als zu zeigen, was positiv aus dieser Revolution geworden ist, d. h. wo sich im einzelnen die kommunistische Revolution auf's Neue gegen die Erben der bolschewistischen Machtergreifung sammelt - und schon seit 1917 gesammelt hat.

In der bloßen Negation des Staatssozialismus aber verlieren die Kriterien des Sozialismus ihren materiellen Boden, ihren positiven Sinn. Was ist Sozialismus, wenn er überall nur nicht ist?

Wer sich begnügt, festzustellen, daß in der SU, der DDR usw. der Sozialismus nicht verwirklicht sei, setzt als Maßstab einen idealen Sozialismus voraus. Was wir feststellen können, ist, was in der SU, der DDR usw. tatsächlich verwirklicht ist, welche die besonderen Widersprüche jener Systeme sind und wie die Bedingungen der revolutionären Bewegung gegen sie aussehen, die “sich aus den jetzt bestehenden Voraussetzungen“ ergeben.

Diejenigen, für die die bestehenden Voraussetzungen sich nur negativ durch Niederlagen des Sozialismus auszeichnen, statt positiv durch die Existenz spezifischer,die offizielle Phrase des Sozialismus erfordernder Ausbeutungsformen und eines auch spezifisch ihnen entsprechenden revolutionären Potentials - müssen den „wirklichen Sozialismus“ fingieren. Sie müssen das Ziel ihrer eigenen Erwartungen und Kämpfe ideal setzen: der Sozialismus wird zu einem Zustand in der Zukunft - der Weg dahin dunkel.

In der Theorie der Bolschewiki offenbart sich folgendes Dilemma: einerseits will sie eine solche sozialistische Position ausdrücken, die auf der Kritik des entwickelten lndustriekapitalismus fußt, andererseits wuchs sie praktisch aus der Konfrontation mit einem Klassenfeind, der ökonomisch und politisch die Herrschaft des Kapitals nicht durchsetzte.

Wir halten es für nützlich, diese Widersprüchlichkeit in der theoretischen Programmatik der Bolschewik! detailliert zu beweisen. Wir setzen also nicht die Widersprüchlichkeit z. B. der Lenin'schen Begriffe im stillen Einverständnis mit den linken Lenin - Kritikern einfach voraus. Ein solches Einverständnis wäre nur die Kehrseite zum totalen Unverständnis, zur Unbetroffenheit auf Seiten der so kritisierten Vertreter der bolschewistischen Theorie. Wenn es uns gelingt, in der Kritik der bolschewistischen Theorie die Eindeutigkeit hinter dem zweideutigen Schein, den Sinn in der Widersprüchlichkeit bloßzulegen, werden wir dem positiven Begriff des Staatssozialismus einen Schritt näher kommen, werden wir zugleich Waffen gegen die modernen Leninisten aller Schattierungen gewinnen.

Wir versuchen damit auch implizit aus dem Determinismus jener linken Position herauszufinden, die der russischen Revolution aufgrund ihrer objektiven Voraussetzungen keine andere als eine sogenannte bürgerliche Entwicklung zugestehen will, die in der bolschewistischen Politik nur eine Variante der im Prinzip genügend analysierten Entwicklung des modernen Kapitalismus erblickt und so über pauschale Distanzierungen nicht hinausgeht. Es scheint uns, daß gerade untersucht werden muß, worin grundsätzlich und im einzelnen sich der russische Weg vom klassischen Kapitalismus unterscheidet.

Die Arbeit, die wir hier vorlegen, ist der Versuch einer schrittweisen Zerlegung der paradoxen Terminologie Lenins, der Versuch, diese Paradoxie in ihrer politischen Funktionalität darzustellen. Als Objekt dient uns Lenins Schrift „Über die Naturalsteuer“.

Diese Schrift Lenins ist eine Erläuterung zur “Neuen ökonomischen Politik“ (NEP), die die Bolschewiki im Frühjahr 1921 dekretierten.

Die NEP ist ein Wendepunkt in der russischen Revolution. Mit dieser Politik begruben die Bolschewiki zu Zeiten des „Kriegskommunismus“ (1918 - 1921) gehegte Hoffnungen, eine zentrale Planwirtschaft unter Einschluß der gesamten Landwirtschaft sofort errichten zu können. Die Zulassung des bis dahin illegalisierten Marktes, die Ersetzung der Getreideablieferungspflicht durch eine Steuer bedeutete ein Zugeständnis an die bäuerliche Individualwirtschaft. Dies, sowie die Hinzuziehung ausländischen Kapitals zur Industrialisierung, die Orientierung an kapitalistischen Mustern bei der Organisation der Betriebe, schien linken Gegnern der Bolschewiki als Beweis für das Scheitern der sozialistischen Revolution in Rußland.

Mit dieser Problematisierung der NEP, die bis heute fortgeführt wird, ob sie eine „richtige“ oder „falsche“ Politik war, haben wir unmittelbar nichts zu tun. Die Anhänger Lenins verteidigen seine Politik mit dem Hinweis auf die Zwangslage, in der er sich befunden habe (imperialistische Einkreisung, wirtschaftliche Not). Außerhalb ihrer Überlegungen bleibt selbstverständlich, daß die besondere Art, mit der Lenin aus der Zwangslage herausstrebte, eine Funktion des bolschewistischen Programms war.

Die Kritik dieses Programms aber, seiner theoretischen Voraussetzungen, ist uns das Wichtige.

((Alle Zitate im Text stammen aus Lenins Schrift: „Über die Naturalsteuer“ und „Plan der Broschüre 'Über die Naturalsteuer'“, 1921, Werke Band 32 S.331 bis 380.

G e s p e r r t gedruckte Textstellen in Zitaten im Text und in den Fußnoten sind von den jeweiligen Verfassern, von uns hervorgehoben.))

DIE BAUERN

LENIN ALS POLITISCHER ÖKONOM: „KLEINBÜRGERLICHER KAPITALISMUS“
1

„Die Entwicklung des Kleinbetriebs ist eine kleinbürgerliche Entwicklung, ist eine kapitalistische Entwicklung, sobald Austausch vorhanden ist. Das ist eine unbestreitbare Wahrheit, eine Binsenwahrheit der politischen Ökonomie ... „ (S.357)

„In Rußland überwiegt jetzt gerade der kleinbürgerliche Kapitalismus ...“ (S.347)

Was kennzeichnet wesentlich den Kapitalismus als Produktionsweise? Produktives Kapital, d.h. sich in der Produktion verwertender Wert. Voraussetzung dafür: Arbeiter und Arbeitsmittel sind getrennt. Die Besitzer der Produktionsmittel (des “Produktivvermögens“) sind zu deren Inbetriebnahme und Verwertung angewiesen auf den Kauf von Arbeitskräften. Die Arbeiter müssen ihr Arbeitsvermögen gegen Lohn verkaufen, um arbeiten und leben zu können.

Der Marxist Lenin vernachlässigt, wenn er den Kapitalismus kritisiert, stets eine Kleinigkeit: den Mehrwert. Diese Nachlässigkeit erlaubt ihm Konstruktionen wie die obige: kleinbürgerlicher Kapitalismus. Das Wesentliche am Kleinbürger ist gerade, daß er keine Lohnarbeiter ausbeutet, daß er selbst sowohl Produzent als auch (Privat-)Eigentümer ist, daß er seine Produktionsmittel nicht als Kapital anwendet und also auch keinen Mehrwert aneignet.

Kleinbürgerlicher Kapitalismus?

Offenbar ist der spezifische Unterschied von Kleinbürger und Kapitalist - selbst arbeitender und fremde Arbeit kommandierender Produktionsmittelbesitzer - für Lenin hier ohne Bedeutung.

Wenn Lenin den Kleinbürger als Kapitalisten bekämpft, kann er andererseits den Kapitalisten nicht mehr als Kommandeur fremder Arbeit angreifen. Die spezifische „Arbeit“ des Kapitalisten, seine Funktion als Produktionsagent: der Kauf von Arbeitskraft und ihre produktive Konsumtion, die besondere Bedingung also, zu der unter dem Regiment des Kapitals Produktion überhaupt nur stattfindet, nämlich die Mehrwertproduktion, bleibt außerhalb von Lenins Kritik.

Seine Kritik richtet sich nicht gegen die kapitalistische Ordnung, sondern gegen die Unordnung des Warenverkehrs im Kapitalismus, gegen

„... die kleinbürgerlichen ökonomischen Bedingungen und das kleinbürgerliche Element als den H a u p t feind des Sozialismus ...“ (S.342)

„... denn der Sieg über Unordnung, Zerrüttung, Schlamperei ist wichtiger als alles andere, denn das Fortbestehen der kleinbesitzerlichen Anarchie ist die größte, die schlimmste Gefahr ...“ (S.345)

Jene Elemente also, die Lenin gern als „Anarchie“ zusammenfaßt, stehen dem von ihm angestrebten Sozialismus als schlimmste Gefahr entgegen: die Zersplitterung, der Tausch, der Markt der Kleinproduzenten.

Der Kampf, den Lenin hier führt, trifft Merkmale des Kapitalismus, die dieser mit aller Warenproduktion gemeinsam hat, läßt also die wesentliche Besonderheit des Kapitalismus unberücksichtigt: Ausbeutung des Lohnarbeiters durch den Kapitaleigentümer - sei dieser nun als Privatmann oder als Staatsfunktionär durch das geltende Recht geschützt.

Die Ausbeutung des Lohnarbeiters läßt sich selbst wieder als in Warenproduktion gründende Form darstellen. Insofern geht Lenins Angriff im Resultat auch an dieser vorbei.

D.h. die Warenproduktion läßt sich nur durch gesellschaftlich-kooperative Produktionsweise überwinden, durch assoziierte Produktion und Verteilung. Lenin aber bekämpft am Kapitalismus nicht die der gesellschaftlich-kooperativen Produktionsweise widersprechende Zentralisation der Verfügungsgewalt und Entscheidungen in den Händen der Kapitaleigner, sondern er bekämpft im Gegenteil den Mangel an Zentralisation aufgrund der privaten - und das heißt für ihn zersplitterten, gestreuten - Aneignung.

DER MARKT ALS PLAN 2

„Im Ergebnis hat sich die politische Situation im Frühjahr 1921 so gestaltet, daß es zur dringenden Notwendigkeit wurde, sofort die entschiedensten, die schleunigsten Maßnahmen zu ergreifen, um die Lage der Bauernschaft zu verbessern und ihre Produktivkräfte zu heben.
Warum gerade der Bauernschaft und nicht der Arbeiter?“ (S.353)

Die Bauern sitzen gegenwärtig am längeren Hebel: sie sind die Produzenten von Lebensmitteln und Rohstoffen. Wenn sie weiterstreiken, bricht die entschlossenste Sowjetmacht zusammen.

Wie ist die Lage der Bauern zu verbessern?

Man muß ihnen weniger nehmen und zum Austausch gegen ihr Getreide etwas bieten. Die Sowjetmacht, den Bauern gegenüber Vertreter des Proletariats, die Bolschewiki, haben nichts zu bieten. Die Großindustrie, bzw. die „fabrikmäßige, staatliche, sozialistische Großproduktion“ (S.356) liegt am Boden. Notlösung: man muß die Kleinindustrie „in gewissem Maße“ wiederherstellen, damit diese mit den Bauern austauscht und so die Produktivkräfte der bäuerlichen Wirtschaft belebt; die Sowjetmacht kann von diesem Mehr, das die Bauern produzieren, einen entsprechenden Prozentsatz “zur Verbesserung der Lage der Arbeiter“ (S. 353) zur Sanierung der Großproduktion und zur Finanzierung des eigenen Apparates abzweigen.

Die Stärkung der Kleinindustrie und der Bauern ist „das dringendste, das 'wundeste' Problem“ des „Proletariats als führender, als herrschender Klasse“ (S.354), obwohl „Freiheit des Handels ein Wiederaufleben des Kleinbürgertums und des Kapitalismus“ bedeutet (S.356)

Im Augenblick zählt nur das Produkt - nicht die Produktionsform.

Die Kleinproduzenten produzieren und ermöglichen so den Großproduzenten überhaupt erst, selbst produktiv zu werden, d.h. ihre Funktion als Proletariat wahrzunehmen.

“Eine gewisse Verbesserung, die hier (bei der bäuerlichen Wirtschaft und der Kleinindustrie, d.V.), unmittelbar am 'Fundament' ... erreicht wird, wird es ermöglichen, in kürzester Zeit die Wiederherstellung der Großindustrie energischer und erfolgreicher in Angriff zu nehmen.“ (S.367)

Der langfristige, strategische Kampf gegen die Freiheit des Handels, gegen Markt, Konkurrenz und Chaos, also gegen all die Übel, die Lenin als wesentlich kapitalistische und am Kapitalismus wesentlich begreift, - dieser Kampf wird weitergeführt gerade in Form der kurzfristigen, taktischen Förderung des „örtlichen Umsatzes“. 3

Das neue Ziel, das das alte scheinbar verrät, soll nur ein Mittel sein, dieses um so sicherer zu erreichen. So wird die Entwicklung der Kleinproduktion und ihres Marktes zum Teil des „gesamtstaatlichen Wirtschaftsplanes“: Die Partei entschließt sich, das zu planen und voranzutreiben, was sie nach den Erfahrungen während des „Kriegskommunismus“ für eine unausweichliche Entwicklung hält, die sonst gegen sie geschähe:

„Sämtliche Partei- und Sowjetfunktionäre müssen alle ihre Anstrengungen, ihre ganze Aufmerksamkeit darauf richten ..., die bäuerliche Wirtschaft sofort, sei es auch nur mit 'geringen' Mitteln, in geringem Umfang zu heben, ihr durch die Entwicklung der umliegenden Kleinindustrie zu helfen. Der gesamstaatliche einheitliche Wirtschaftsplan verlangt, daß gerade das zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und Sorge, zum Mittelpunkt der 'vorrangigen' Arbeiten werde..“ (S.366/7)

Der Funktionär erhält im Namen des Kampfes gegen den kleinbesitzerlichen „Hauptfeind“ die Order, den Hauptfeind zu unterstützen: „Hilfe für die Kleinindustrie ...“ (S.379)

Die Kleinproduktion wird also nicht nur durch,die Wiederherstellung der „Freiheit des Handels“, durch die Aufhebung von staatlichen Beschränkungen gefördert; Partei- und Sowjetfunktionäre sollen helfend in die Entwicklung der Kleinproduktion eingreifen. Der Charakter der Unterstützung, die der Funktionär gewährt, wird wesentlich durch die Perspektive des langfristigen Kampfes gegen den „kleinbürgerlichen Kapitalismus“ bestimmt. Wenn den Kleinproduzenten der freie Handel zugestanden werden muß, dann ist staatliche Kontrolle des Wirtschaftslebens um so wichtiger:

„(jede) U m g e h u n g d e r s t a a t 1 i c h e n K o n t r o l l e, A u f s i c h t u n d R e c h n u n g s l e g u n g (muß) unter Strafe gestellt (und faktisch dreimal so streng wie bisher verfolgt) werden...“ (S.372)

Die Unterstützung der „lokalen Initiative“ durch den Funktionär erweist sich vor allem als Hilfe für die Zentrale.

Nachdem die Bolschewiki mit dem „Kriegskommunismus“ den Versuch aufgeben mußten, den unentwickelten Markt als Markt zu liquidieren, gehen sie jetzt dazu über, die Unentwickeltheit des Marktes zu beseitigen.

Die Förderung des Marktes als Kampf gegen die primitive Stufe seiner Entwicklung ist aber zugleich auch Kampf gegen jene Kräfte, die als der russischen Landwirtschaft ursprünglich innewohnende von sich aus gegen den Markt gewirkt haben, seiner raschen Entwicklung im Wege standen: die Elemente kollektiver Beziehungen und nicht-privater Eigentumsformen im russischen Dorf.

IN DER ZUKUNFT VERWURZELT

Die bolschewistischen Funktionäre sehen sich konfrontiert mit „unvermeidlichen Schwankungen des Kleinproduzenten“ (S.378) und versichern:

“Nur die gestählte Avantgarde des Proletariats ist fähig den Schwankungen standzuhalten und zu widerstehen.“ (S.376)

Die materialistische Analyse Lenins dringt bis zur „ökonomischen Wurzel der unvermeidlichen Schwankungen“(S.378) vor:

„Die Schwankenden sind ökonomisch unselbständig. Das Proletariat ist ökonomisch selbständig.“ (S.378)

Wie sieht es aber aktuell mit der ökonomischen Selbständigkeit der Kontrahenten, des Proletariats und der Kleinproduzenten, aus?

Gewiß, es ist das „Proletariat, in dessen Händen sich das Verkehrswesen und die Großindustrie befinden“ (S.368); jedoch das Verkehrswesen ist „besonders zerrüttet“ (S.368) und „die Not und der Ruin sind derart, daß wir nicht imstande sind, die fabrikmäßige, staatliche, sozialistische Großproduktion m i t e i n e m S c h la g wiederherzustellen.“ (S.356)

Die Kleinproduzenten dagegen sind immerhin selbständig genug, alles, was sich ihrer ökonomischen Eigenbewegung entgegenstellt, vernichten zu können.

„... auf vielen Wegen unterspült die Flut der kleinbesitzerlichen und privatkapitalistischen Anarchie die Rechtslage, schleppt die Spekulation herein, vereitelt die Durchführung der sowjetischen Dekrete.“ (S.345)

Das Proletariat ist darauf angewiesen, mit dieser Macht, die sich ihm so feindlich darstellt, zusammenzuleben:

„... kein Gesetz (kann) überhaupt sofort das faktische 'Zusammenleben' der Sowjetmacht mit den Kleinkapitalisten aufheben ...“ (S.362)

Was das aktuelle Produktionsvermögen angeht, ist das Proletariat also unselbständig. Es müßte somit - nach Lenins eigener Folgerung - selbst das “schwankende Element“ darstellen, verstünde Lenin unter ökonomischer Selbständigkeit tatsächlich vorhandene Produktionsmöglichkeit und -fähigkeit.

Die ökonomische Selbständigkeit des Proletariats, die ökonomische Wurzel für die Gestähltheit seiner Avantgarde, muß anderswo zu suchen sein:

Der Stahlhärte der Avantgarde entspricht die Entschlossenheit, mit der sie an ihrem ökonomischen Ziel festhält. „Wir dagegen wissen, was wir wollen.“ (S.378)

Die klare Kenntnis des Ziels ändert aber nichts daran, daß der alte Weg, die Fortsetzung der alten Politik „ökonomisch unmöglich“ (S. 357) wäre. Der aktuellen ökonomischen Unselbständigkeit entspricht das Schwanken in der Wahl der Mittel und Wege:

„...wir werden noch mehr als einmal auf allen Gebieten von vorn anfangen müssen, ... verschiedene Wege zum Herangehen an die Aufgabe wählen.“ (S.366)

Ihr ökonomisches Ziel jedoch läßt sich die Avantgarde des Proletariats nicht ins Wanken bringen. Ökonomisch selbständig ist das Proletariat also nicht aktuell-praktisch, sondern in seiner Zukunftsperspektive.

Die „ökonomische Wurzel“ der Gestähltheit der Avantgarde, die „sozialistische Großproduktion“, lebt als Zukunftsbild im Plan der Bolschewiki. Sie besteht in der von ihnen geplanten „ökonomischen Selbständigkeit“ - nicht in der ökonomischen Selbständigkeit bei der Durchführung ihre Plans.

DIE PROLETARISCHE VEREINIGUNG DER BAUERN

„Den zersplitterten Kleinproduzenten, den Bauer, vereinigt ökonomisch u n d p o l i t i s c h entweder die Bourgeoisie ... oder das Proletariat ... Von einem 'dritten' Weg, von einer 'dritten Kraft' können nur selbstgefällige Narzisse schwatzen und träumen.“ (S.375)

Die zersplitterten Kleinproduzenten sind in Lenins Verständnis zur selbständigen Vereinigung im Kampf gegen einen Feind unfähig. Wenn das Proletariat nicht die Bauern unter seiner Führung vereinigt, dann wird die Bourgeoisie sie vereinigen, indem sie sie ihrer Führung unterordnet. 4

Wie hatte die Bourgeoisie im Westen die Bauern vereinigt? Sie sprach den (zukünftigen) Privateigentümer im Bauern an und vereinigte ihn im Kampf gegen die Feudalherrn - um ihn danach (gemäß dem Gesetz des kapitalistischen Privateigentums) auf dem Wege über die Konkurrenz wieder zu enteignen und auf andere Art zu vereinigen: als Lohnarbeiter unter ihrem Kommando in den Fabriken, in der Großproduktion.

Wie geht das Proletariat bei der Vereinigung der Bauern vor? Das Proletariat spricht den (zukünftigen Eigentümer im Bauern an und vereinigt ihn,im Kampf gegen die Kapitalisten und Gutsbesitzer - um sobald es herrscht zu zeigen, daß es von ihm nur die Enteignung der Kapitalisten und Gutsbesitzer besorgt haben wollte, ihn aber nicht selbst als Eigentümer duldet. 5 Erst nachdem der Bauer dem Proletariat deutlich zu verstehen gegeben hat, daß es „seine Diktatur in einem kleinbäuerlichen Land ausübt“ (S.355), unternimmt das Proletariat eine Hilfsaktion für den neuen „Hauptfeind“, geht wieder ein „Bündnis“ mit dem Bauern ein.

Mit welch schwankendem Gefühl aber wird der Kleinproduzent die Hilfe des Staatsfunktionärs erdulden, wo dieser ihm als Kleineigentümer heute wieder schmeichelt, damit sich anderntags die Expropriation verlohnt?

Nachdem der Gegensatz zwischen Proletariat und Bauern einmal propagiert ist, bleibt dem Proletariat gegenüber den Bauern nur noch die Möglichkeit, sich als das kleinere Übel zu empfehlen: die Alternative zum „Bündnis“ mit dem Proletariat ist die Unterordnung unter die Bourgeoisie. 6

Das Proletariat als herrschende Klasse plant eine Bündnispolitik, die dem „Hauptfeind“ in Zukunft jedes Schwanken unmöglich machen soll: Um seine eigene (Groß-) Produktionsweise auszudehnen, muß es sich selbst als arbeitende Klasse vermehren. Es vereinigt den Kleinproduzenten, indem es ihn nach seinem Bilde formt, ihn enteignet und in seine geordneten Reihen eingliedert. Für den Bauern und Kleingewerbler bedeutet das: Produzent darf und soll er bleiben - Eigentümer nicht.

Das Proletariat, das gestern noch mit ihm zusammen um die Aneignung der Produktionsmittel gekämpft hat, erscheint morgen als sein Enteigner. Das Proletariat das gestern noch ein Bündnis gegen die “Kapitalisten und Gutsbesitzer“ mit den Bauern schloß, will morgen ein “Bündnis“ eingehen, dessen Bedingungen dem Bauern die ökonomische Selbständigkeit und damit jede Möglichkeit zum Bündnisschluß überhaupt rauben.

BARBARISCH DIKTIERTE KULTUR

„Immer wieder kommen wir darauf zurück daß 'wir' vom Kapitalismus zum Sozialismus übergehen, und vergessen dabei, uns genau und deutlich vorzustellen, wer unter diesem 'wir' zu verstehen ist. ... 'Wir', die Avantgarde, der Vortrupp des Proletariats, gehen unmittelbar zum Sozialismus über, der Vortrupp ist aber nur ein kleiner Teil des gesamten Proletariats, das seinerseits nur ein kleiner Teil der Gesamtmasse der Bevölkerung ist.“ (S.363)

Die Situation, in der „wir“ uns befinden, wird unserer sozialistischen Potenz zum Trotz von einer Kraft beherrscht, die in eine andere Richtung drängt, als zur „Tür des Sozialismus hinein“ (S.349) „Wir“ werden festgehalten und zurückgezerrt von dem größten „Teil der Gesamtmasse der Bevölkerung“ und deren elementaren kapitalistischen Trieben. Die Gesamtmasse besitzt zwar schon höhere Kultur als die kapitalistischen Länder: „uns“, den „proletarischen Staat“7. Allerdings haben „wir“ noch eine Last zu tragen: die „Halbbarbarei und ausgesprochene Barbarei“ (S. 363).

Der größte Teil der „Gesamtmasse der Bevölkerung“ erscheint als Störfaktor, als Hemmnis, als Klotz am Bein des Proletariats und seiner Vorhut.8 Diese Masse hat nichts Positives zu bieten. Sie ist widerspruchsfrei rückständig.

Im Lichte ihres Programms einer zentralen Planwirtschaft stoßen die Bolschewiki auf den millionenfachen bäuerlichen Kleinbetrieb als auf den Sarkasmus der Geschichte. Sie können ihn nicht liquidieren, sie können ihn ihrem Plan nicht unterwerfen - sie müssen ihn neben und außerhalb des „sozialistischen Sektors“ gewähren lassen. Die Bauernmassen sind für sie die Ohnmacht des Sozialismus.

“Wenn in Deutschland die Revolution noch mit ihrer 'Geburt' säumt, ist es unsere Aufgabe, vom Staatskapitalismus der Deutschen zu 1 e r n e n, i h n m i t a 1 1 e r K r a f t zu übernehmen, keine diktatorischen Methoden zu scheuen, um diese Übernahme der westlichen Kultur durch das barbarische Rußland noch stärker zu beschleunigen, ohne dabei vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei zurückzuschrecken.“ (S.347)

Lenin sieht in der „Kultur“ des Westens nicht die Barbarei, in der „Barbarei“ Rußlands keine Kultur. Sein Sozialismus setzt die große Masse der russischen Produzenten als „Hauptfeind“ voraus, ist also nicht die subjektive Emanzipation dieser Masse - sondern im Gegenteil der Prozeß ihrer „Ummodelung“.9

Dieser Sozialismus auf Basis der „westlichen Kultur“ ist von dem ländlichen Produzenten aus gesehen der Überfall eines barbarischen Ideals.

SOZIALISMUS ALS PRIVILEG

Der Sozialismus, zu dem die Avantgarde „unmittelbar übergeht“ und zu dem die Massen die Vermittlung des Kapitalismus nötig haben, ist nicht ein von den Produzenten selbst, als gesellschaftliches, organisiertes Produktionsverhältnis - zu einer solchen Form könnte selbst „die Avantgarde“ nur vermittelt mit der gesamten Gesellschaft, als Gesellschaft, übergehen. Auf der Ebene der gesellschaftlichen Aktion gibt es keinen individuellen Vorsprung. Es kann nicht eine Gruppe einer Gesellschaft „gesellschaftlicher“ sein als die andere. Indem Lenin dies aber voraussetzt und die russische Gesellschaft in Sozialisten und Barbaren spaltet, in eine privilegierte Minderheit, die „unmittelbar zum Sozialismus übergeht“ und eine „Hauptmasse der Bevölkerung“, die dem Sozialismus als „Hauptfeind“ entgegensteht, verrät er seinen Begriff von Sozialismus und seine sozialistische Praxis als völlig unbekümmert um die Organisierung von Produktion und Verteilung durch die Produzenten selbst.

Lenin wollte mit dem Gedanken, daß eine Organisation von Produktion auf kleiner Stufenleiter, wie z. B. im russischen Dorf, mit sozialistischen Prinzipien vereinbar und die Produktivkräfte gerade durch eine solche sozialistische Organisation zu heben seien, nichts zu tun haben.10 So findet sich in seinen Werken auch nirgendwo der Versuch, eine sozialistische Form aus den russischen Verhältnissen selbst, anknüpfend bei der agrarischen Struktur des Landes, zu entwickeln. Wo die Bauern von sich aus zu einer derartigen Praxis schritten, sah er die (anarchistische) Konterrevolution am Werk.

Für ihn war es ein unumstößliches Gesetz, daß die Bauern spontan als Ausweg aus ihren engen Produktionsverhältnissen einzig den Weg der privaten Bereicherung suchen würden. (Daß die „kleine Warenproduktion“ im Westen historisch zum Kapitalismus geführt hatte, war ihm Beweis dafür daß sich dies notwendig in Rußland wiederholen würde.)11

Für die Masse der Bauern gab es also in seinem Konzept keine Möglichkeit, von der einen (privaten) Form des Eigentums zu einer anderen (gesellschaftlichen) Form der Aneignung fortzuschreiten - die Möglichkeit, „unmittelbar zum Sozialismus überzugehen“, also das Eigentum der Gesellschaft zu verwalten, blieb immer nur dem „Vortrupp des Proletariats“ vorbehalten (der „aber nur ein kleiner Teil des gesamten Proletariats (ist), das seinerseits nur ein kleiner Teil der Gesamtmasse der Bevölkerung ist.“)

Es ist in der Tat undenkbar, daß die Bauern einem solchen Sozialismus nicht feindlich gegenüberstehen.

Denkbar ist ein anderer Sozialismus.

DIE ARBEITER

LENIN ALS POLITISCHER ÖKONOM: „KAPITALISMUS IN DER ROLLE EINES HELFERS DES SOZIALISMUS“

„Das mag als ein Paradox erscheinen: der privatwirtschaftliche Kapitalismus in der Rolle eines Helfers des Sozialismus? Aber das ist keineswegs ein Paradox, sondern eine ökonomisch völlig unbestreitbare Tatsache.“(S.368)

„Ist es möglich, den Sowjetstaat, die Diktatur des Proletariats mit dem Staatskapitalismus zu kombinieren ... zu vereinbaren? Gewiß ist das möglich.“(S.358)

Für Lenin ist der „sozialistische Staat“ die Garantie für einen sozial entschärften, auf seine technisch-ökonomische Nützlichkeit, auf seine Begabung zur Hebung der Produktivkräfte zurückgeführten Kapitalismus. Der „sozialistische Staat“ reißt dem Kapitalismus den Stachel der Tauschwertproduktion aus und zwingt ihn zur gebrauchswertmäßigen Ökonomie. Der Kapitalismus, vom „sozialistischen“ Staat geduldet, als Staatskapitalismus „gezüchtet“, hat „nichts Schreckliches“ (S.346) mehr für das Proletariat, er „nützt“ dem Proletariat, er bringt ihm „westliche Kultur“ als Vorbedingung für den Sozialismus.

Der Boden einer kapitalistischen Kultur, die sich darin äußert, daß sie einen Produktenstrom für die „Versorgung“ von Millionen in „größten Betrieben“ organisiert, kann aber nur sein:

Ausbeutung von Arbeitern, Schöpfung von Mehrwert mit allen sozialen Konsequenzen. Eine andere Quelle der Kultur und damit der Produktenmenge kommt nicht infrage - solange es Kapitalisten sind, die als „kluge und erfahrene Organisatoren größter Betriebe“ (S.351) wirken.

Man sieht: Der Marxist Lenin vernachlässigt, wenn er den Kapitalismus kritisiert, stets eine Kleinigkeit: den Mehrwert. Nur eine solche Nachlässigkeit erlaubt ihm Konstruktionen wie die eines „Kapitalismus in der Rolle eines Helfers des Sozialismus“.

Diese „ökonomisch unbestreitbare Tatsache“ kann Lenin nur konstatieren, weil er das Kapital nicht wesentlich als Produktionsverhältnis begreift, am Kapitalisten also nicht, dessen spezifische Rolle im Produktionsprozeß angreift. Daß das Proletariat als mehrwertproduzierende Klasse nicht selbst mit seinen Ausbeutern paktiert, sich ausbeuten läßt, um die Ausbeutung zu überwinden, ist unmittelbar einsichtig.

Wenn Lenin - fasziniert von der Kraft des Kapitalismus, Gütermassen..und Technik zu produzieren - den Kapitalismus ganz unschuldig zur Hebung der Produktivkräfte gewissermaßen taktisch ausnutzen will, dann spielt er damit die Rolle des naiven, Kapital mit industrieller Technik identifizierenden Revolutionärs jener Periode, die dem ersten weltweiten Sturm der Proletarier auf die bürgerliche Herrschaft und der theoretischen Fassung dieser Kritik vorausging.

DER EINKAUF VON KAPITALISTEN -“EIN 'AUSKAUF' EIGENER ART“

Der „ausgezeichnet gebildete marxistische Ökonom“ Bucharin (S.351) erinnert sich und seine Genossen an die Worte von Marx, „daß es unter gewissen Umständen für die Arbeiterklasse am zweckmäßigsten wäre, 'die ganze Bande auszukaufen' (nämlich die Bande der Kapitalisten, d.h. der Bourgeoisie den Boden, die Fabriken, die Werke und sonstigen Produktionsmittel a b z u k a u f e n )“. (S.349)

Der gebildetere Ökonom Lenin untersucht die „gewissen Umstände“.

Die Möglichkeit der Marxschen Art des Auskaufs der Bourgeoisie sieht Lenin allenfalls „im England der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts“ (S.349). Selbst in diesem Fall wäre es Lenin aber weniger darum gegangen, die Kapitalisten durch eine einmalige Abfindung loszuwerden, um die Produktion auf eine neue Art zu organisieren, sondern darum, die vorhandene (also kapitalistische) „Organisation der Großproduktion gerade im Interesse eines leichteren Überganges zum Sozialismus zu erhalten“ (S.351); darum, daß die Kapitalisten „in kultivierter, organisierter Weise, unter der Bedingung des Auskaufs, zum Sozialismus“ übergehen (S.351).

Die „gewissen Umstände“ als Bedingungen für einen solchen Auskauf sind in Rußland nicht gegeben. Um die Großproduktion aufrechtzuerhalten, sie in Verfügung des Staates zu nehmen, müßte sie erst einmal entwickelt sein. Aber Rußland ist „in bezug auf die Organisation eines wohlgeordneten Staatskapitalismus, in bezug auf die Höhe der Kultur, den Grad der Vorbereitung auf die materiell-produktionstechnische 'Einführung' des Sozialismus, h i n t e r dem rückständigsten der westeuropäischen Staaten (zurück)“ (S.351). Nun wäre es aber „ein ausgesprochener Fehler, den Schreihälsen und Phrasenhelden freies Spiel zu lassen, die sich an 'feurigem' Revoluzzertum begeistern“ (S.352). Einige Revoluzzer wollten die Großproduktion offenbar ohne Hilfe von Kapitalisten entwickeln. 12

Lenin grenzt sich von solchem Heldentum scharf ab, er Ist für “durchdachte, abgewogene ... revolutionäre Arbeit“ (S..352). Wenn die Kapitalisten, so wägt er ab, noch nicht soviel aufgebaut haben, daß sich ein Auskauf lohnt, dann muß „das Proletariat“ sie eben zwingen - und sei es durch Bestechung - “ohne mit Geld zu knausern“ (S.353), erst einmal „die große und größte 'staatliche' Produktion zu organisieren“ (S.551).

„Das Proletariat“ kauft also Kapitalisten ein - oder, wie Lenin sagt:

„Ist es etwa nicht klar, daß sich aus dieser eigenartigen Lage gegenwärtig gerade die Notwendigkeit eines 'Auskaufs' eigener Art ergibt ... ?“ (S.351)

FEUDALE UND PROLETARISCHE KAPITALISTEN

Im „Kampf für die Befreiung der Arbeit vom Joch des Kapitals“ (S.354) ist das Proletariat als „führende, herrschende Klasse“ auf Kapitalisten angewiesen.

Aber: Kapitalist ist nicht gleich Kapitalist. Es kommt ganz auf den Klassenstandpunkt des Kapitalisten an.

Lenin unterscheidet sorgfältig zwischen den schädlichen, deren „Gier und Wut“ (S.356) Kriege ausbrechen läßt – und den nützlichen, die „über Erfahrungen in großzügiger Organisation der Wirtschaft verfügen“ (S.378).

Die einen lauern mit den Gutsbesitzern zusammen im Ausland und genießen „unvermeidlich die Unterstützung der Weltbourgeoisie“ (S.373/4). Sie treten bei Lenin selten als reine Kapitalisten, sondern meist als „Kapitalisten und Gutsbesitzer“ auf. Sie gehören zwar zur „wirklichen Bourgeoisie, die weiß, was sie will“ (S.374), nämlich die politische Macht, sind aber selbst doch nur Statthalter der „Bourgeoisie der ganzen Welt“, die

„auf jeden Augenblick des Schwankens lauert, um 'ihre Leute' wieder her zuschicken, um die Gutsbesitzer und Bourgeois wieder einzusetzen.“ (S.377)

Die „Kapitalisten und Gutsbesitzer“ vertreten die Politik ausländischer Kapitalisten. In deren Konzept ist Rußland zum Lieferanten für Rohstoffe und Agrarprodukte abgeurteilt. Die westlichen Kapitalisten verfolgen durchaus nicht das Ziel, Rußland zu einer starken kapitalistischen Industrienation zu entwickeln. 13

Die Weltbourgeoisie findet für ihre Zwecke einen natürlichen Bundesgenossen im russischen Gutsbesitzer. Dieser widersetzt sich der im „nationalen Interesse“ liegenden mühevollen Industrialisierung Rußlands, da. sie nur auf seine Kosten möglich ist (Schutzzölle für die inländische Industrie). Russische Kapitalisten nun, die eine Allianz mit den Gutsbesitzern eingehen und sich auf die Unterstützung der Weltbourgeoisie verlassen, haben vor ihrer historischen Aufgabe, Rußland zu einer konkurrenzfähigen, kapitalistischen Industrienation zu entwickeln, kapituliert. Sie sind für Rußland nicht die Protagonisten der kapitalistischen Entwicklung, sie sind feudale Kapitalisten.

Die Oktoberrevolution hat mit den feudalen Kapitalisten aufgeräumt. Sie hat damit eine neue Kapitalisten-Schicht zutage gefördert, die „talentvollen“, denen die Großproduktion so sehr am Herzen liegt, daß sie die Zusammenarbeit mit der Sowjetmacht nicht scheuen.

Das sind die anderen, nützlichen Kapitalisten: „erfahrene Organisatoren größter Betriebe, die wirklich Dutzende Millionen Menschen mit Produkten versorgen.“ 14

Gewiß, sie führen die Unternehmen „kapitalistisch, um des Profits willen“ (S.359) - aber was ist dieser Profit im Vergleich zu dem „Vorteil durch die Entwicklung der Produktivkräfte und die Vermehrung der Produktenmenge“ (S.359), den der „proletarische Staat“ aus der Zusammenarbeit mit diesen Kapitalisten davonträgt?

Die Bolschewiki schließen mit den „kulturell hochstehenden Kapitalisten“ (S.351) einen Kompromiß: die Sowjetmacht in deren Dienst diese Kapitalisten treten, bestimmt die Richtung der russischen Wirtschaft, sie gibt als Ziel die Industrialisierung an. Die Wahl der Mittel überläßt sie dafür den Kapitalisten.

Die Kapitalisten sollen ihren Profit machen - wenn sie dafür nur Technik und Kultur ins Land bringen. Ebenso wie es die Armee vermochte, aus den Militärspezialisten die „ehrlichen und gewissenhaften auszusuchen“ (S.378), wird es dem „proletarischen Staat“ gelingen, die ehrlichen und gewissenhaften Kapitalisten „zu verwenden“ (S.378).

Wozu die alte russische Bourgeoisie nicht fähig war, das erzwingt das mit der Staatsmacht ausgestattete bolschewistische Proletariat. Die Kapitalisten, die in Rußland eine moderne.Großindustrie aufbauen sind somit proletarische Kapitalisten. 15

DAS KLASSENZIEL IN DER SCHULE DES KAPITALISMUS

Die sorgfältige Unterscheidung, die Lenin macht zwischen politischen „im Ausland lauernden“ und rein ökonomischen, die Großproduktion organisierenden Kapitalisten, ist mehr als ein klarer Trennungsstrich zwischen Feind und Kollaborateur.

Mit den (feudalen) „kulturell rückständigen Kapitalisten, die sich auf keinerlei 'Staatskapitalismus' einlassen, von keinem Kompromiß wissen wollen“, muß die Avantgarde des Proletariats schonungslos abrechnen (S.350).

Die kulturell hochstehenden (proletarischen) Kapitalisten aber bringen der Sowjetmacht nicht nur den Vorteil der Entwicklung der Produktivkräfte und der Vermehrung der Produktenmenge - dem gescheiten Kommunisten dienen sie als Lehrmeister.

“Ein gescheiter Kommunist wird sich nicht scheuen, vom Kapitalisten zu lernen (einerlei, ob es sich um einen großkapitalistischen Konzessionär, einen Kommissionshändler oder einen kleinkapitalistischen Genossenschaftler usw. handelt), ...“ (S.378)

„Knausere nicht bei der Bezahlung von 'Lehrgeld': Ein hohes Lehrgeld zahlen ist nicht schade, wenn man nur ordentlich lernt.“ (S.380)

Was aber kann der Kommunist beim kapitalistischen Lehrmeister lernen? Der Kapitalist versteht es, den Umsatz zwischen Landwirtschaft und Industrie zu steigern, er versteht es, größte Betriebe zu organisieren - aber er versteht es auf seine eigene Art. Das Maß für die Fähigkeit des Kapitalisten ist der Profit, den er erzielt. Sein Talent erweist sich in der Abpressung des Mehrwerts, der Ausbeutung der Lohnarbeiter:

„Der Konzessionär ist ein Kapitalist. Er führt das Unternehmen kapitalistisch, um des Profits willen ...“ (S.359)

Der Profit ist der Preis, um den die Konzessionäre „dem Proletariat nützlich“ sind. Die Sowjetmacht verzichtet vorläufig darauf, über diesen Profit selbst zu verfügen - das ist das Lehrgeld, das sie zahlen muß - und hofft, daß dafür in einigen Jahrzehnten „mustergültige Großbetriebe ... die auf der Höhe des modernen fortgeschrittenen Kapitalismus stehen ... ganz in unseren Besitz übergehen.“ (S.362)

Zunächst aber muß die Sowjetmacht als Staat den Kapitalisten die äußeren Bedingungen schaffen, die diese benötigen, um den Kommunisten ihre Lehre zu erteilen: sie muß für Ruhe und Ordnung sorgen, für Arbeitsfrieden, für das Betriebsklima, das den Kapitalisten nützlich ist.

Die Lehre, die die Kapitalisten „dem Proletariat“ erteilen, hat also genau genommen zwei Seiten: Die Arbeiter lernen von den Kapitalisten Arbeitsdisziplin - die Kommunisten lernen, wie man die Großproduktion organisiert, d.h. wie man den Arbeitern Arbeitsdisziplin beibringt. 16

“Lehrgeld zu zahlen braucht einen nicht leid zu tun, wenn nur die Lehre etwas taugt.“ (S.367.)

Das gilt umso mehr, als diese Lehre ja überhaupt nur etwas taugt, wenn der Kapitalist die Produktion so talentvoll organisiert, daß für ihn ein angemessenes Honorar herausspringt. Die Quantität des Honorars ist identisch mit der Qualität der Lehre. Denn bevor die Kommunisten den Kapitalisten “Lehrgeld“ überlassen können, muß der Kapitalist ihnen gezeigt haben, wie man es als “Lehr“-wert aus den Arbeitern herausholt, müssen die Arbeiter ihre “Lehr“-arbeit geleistet haben.

Diejenigen (proletarischen) Kapitalisten, von denen die Kommunisten die Funktion der Organisierung der Großproduktion übernehmen sollen, sind als Lehrmeister und Vorbild besonders qualifiziert: Sie erteilen ihre Lehre in einer Lage, in der sie nicht als Privateigentümer der Produktionsmittel die Produktion organisieren. Sie spielen ihre Rolle nicht mehr aufgrund ihres juristischen Anspruchs als Eigentümer, sondern aufgrund ihrer Befähigung zur Leitung der Produktion und der Produzenten.

Diese Fähigkeit zu erwerben und anzuwenden will,der „proletarische Staat“ dem „einfachen Werktätigen“ ermöglichen:

„Stärkere Heranziehung von Tausenden und aber Tausenden einfacher Werktätiger, um neue Kräfte zu überprüfen, sie zu erproben und auf Grund der praktischen Überprüfung systematisch und unentwegt, zu Hunderten, auf höhere Posten zu befördern.“ (S.377)

Die Funktion des Kapitalisten, seine besondere Art, die Produktion zu organisieren, soll nicht durch eine prinzipiell andere Art beseitigt werden.

Unverändert wird von höheren Posten aus, über der Masse der Produzenten, die Großproduktion organisiert. Die geeigneten Werktätigen werden von oben „herangezogen“, „befördert“. 17(6) Die Organisation der Produktion bleibt die Aufgabe einer besonderen Schicht, die durch die Ausübung ihrer Funktion von den Massen getrennt ist. Die Funktion der Kapitalisten soll vom vererbbaren Privileg der Privateigentümer zum erwerbbaren Privileg der Fähigsten unter den „einfachen Werktätigen“ werden. 18

Das Kapital wird von den Fesseln des Privateigentums befreit.


EINS TEILT SICH IN ZWEI

„Diktatur des Proletariats bedeutet Leitung der Politik durch das Proletariat. Das Proletariat als führende, als herrschende Klasse muß es verstehen, die Politik so zu lenken, daß in erster Linie das dringendste, das 'wundeste' Problem gelöst wird. Am dringendsten sind jetzt Maßnahmen, die geeignet sind, unverzüglich die Produktivkräfte der bäuerlichen Wirtschaft zu heben.“ (S.354)

Das Klasseninteresse des Proletariats verlangt von dem Zeitpunkt seiner Machtübernahme an, also seit Beginn der „Diktatur des Proletariats“ vor allem die Aufrechterhaltung dieser Herrschaft, verlangt daher die Versorgung der gesamten Bevölkerung, die Sicherung eines gewissen „Gemeinwohls“.

Zu diesem Klasseninteresse können jedoch die spezifischen Interessen der Lohnarbeiter in Widerspruch stehen. Lenins Revolution verlangt die Zurückstellung dieser unmittelbaren Interessen, ihre Unterwerfung unter die „Interessen der Klasse“. Der Arbeiter, der solchen Interessen der Klasse nicht den Vorrang einräumen will, steht für Lenin in einer Reihe mit dem feudalen, kulturell rückständigen Bourgeois. Indem er seine unmittelbaren Interessen vertritt, ist er nicht modern, fortschrittlich, zivilisiert: Proletarier - sondern Zunftgeselle, mittelalterliches Relikt:

“Denn nicht diesen Weg ( 'mit der Bauernschaft beginnen', d.V.) gehen, bedeutet: die Zunftinteressen der Arbeiter über die Klasseninteressen stellen, bedeutet: die Interessen der gesamten Arbeiterklasse, ihrer Diktatur, ihres Bündnisses mit der Bauernschaft gegen die Gutsbesitzer und Kapitalisten, ihre führende Rolle im Kampf für die Befreiung der Arbeit vom Joch des Kapitals den Interessen des unmittelbaren, augenblicklichen, teilweisen Vorteils der Arbeiter zum Opfer bringen.“ (S.354)

Die „Interessen der gesamten Arbeiterklasse“ stehen nicht, wie man zunächst erwartet, den Sonderinteressen eines Teils der Arbeiterklasse gegenüber (und schon gar nicht den „Zunftinteressen“ einer bestimmten Berufsgruppe). Es ist durchaus die gesamte Arbeiterklasse, die in einem Interessenkonflikt steht: Sie ist hin- und hergerissen zwischen ihrem (Zunft-)Interesse am unmittelbaren Vorteil und dem (Klassen-)Interesse an der Aufrechterhaltung der Diktatur.

Die Arbeiter haben zur Wahrung ihrer allgemeinen Interessen eine besondere Institution: die bolschewistisch Partei.

Mit den besonderen Interessen der Arbeiter hat die Partei insofern zu tun, als sie zu deren Unterwerfung aufruft. Mit ihren allgemeinen Interessen kriegen die Arbeiter da zu tun, wo diese ihnen in Gestalt der Bolschewiki gegen übertreten. Die Arbeiter haben ihr allgemeines, ihr Klasseninteresse an die Partei verpfändet - oder besser: die Partei hat es sich ausgeliehen gegen das Versprechen, den Sozialismus zu errichten. Sie ist nicht nur die Instanz, die dieses Interesse vertritt - sie definiert es auch. Für den Augenblick heißt dies, daß das allgemeine Interesse der Arbeiter als Negation ihrer unmittelbaren Bedürfnisse erscheint, daß die „Diktatur des Proletariats“ gerade die Knebelung der Arbeiterinteressen verlangt. 19

Für die Arbeiter stellt sich daher die bolschewistische Vertretung ihrer „Klasseninteressen“, die Sorge für das „wundeste Problem“ im ganzen Land, als das besondere Interesse der Bolschewiki, als das bolschewistische Zunftinteresse dar.

Der Widerspruch von Klassen- und Zunftinteresse des Proletariats tritt in Erscheinung als (potentiell antagonistischer) Widerspruch von parteilosen Arbeitern und Parteiarbeitern.

„Die Parteilosenkonferenzen sind kein Fetisch. Sie sind wertvoll, wenn man durch sie der noch unberührten Masse, den außerhalb der Politik stehenden Schichten der werktätigen Millionen näherkommen kann, sie sind schädlich, wenn sie eine Plattform abgeben für die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich den Anstrich von 'Parteilosen' gegeben haben. Solche Leute fördern Meutereien, helfen den Weißgardisten.“ (S.376)

lange einer „außerhalb der Politik“ einfach nur werktätig ist, nützt er dem Proletariat. Ein Parteiloser aber, der an den von der Partei 20 geschaffenen Produktionsverhältnissen rüttelt, bekommt von den Bolschewiki einen menschewistischen oder sozialrevolutionären Anstrich. Obwohl im ganzen Land Kapitalisten zeigen, wie man Betriebe organisiert, ist Meuterei nur Hilfe für die Weißgardisten. Den lohnabhängigen Massen ist von ihrer Avantgarde die Notwendigkeit der Meuterei genommen worden. Dem Kapitalismus sind bereits “genügend enge“ genügend 'mäßige' Schranken gesetzt“ (S.366). Die Avantgarde des Proletariats hat den Kapitalismus bereits maßvoll kritisiert, die Masse des Proletariats braucht sich darum nicht mehr zu kümmern, sie braucht nur noch zu arbeiten.

SOZIALISMUS ALS OPFER

In der „Naturalsteuer“ tritt der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital nicht explizit in Erscheinung. Wo er Lenins Überlegungen implizit zugrunde liegt, da Ist er nicht der die Revolution vorantreibende Widerspruch, sondern ein Hemmnis für den revolutionären Aufbau; da ist nicht seine Aufhebung der Inhalt der Revolution, sondern seine Versöhnung die Voraussetzung für das Vollenden der Revolution, für den Aufbau der „sozialistischen Großproduktion“.

Lenins Angriffsobjekt ist der Kapitalist in Funktionen, die dieser mit der alten feudalen Oberschicht gemeinsam hat: der müßiggehende „Couponschneider“, den Lenin vorzugsweise mit dem an die französischen Financiers gemahnende Fremdwort „Bourgeois“ bezeichnet - oder aber der politisch Engagierte, der mit den Gutsbesitzern und der „Bourgeoisie der ganzen Welt“ paktiert, anstatt die Großproduktion zu organisieren, wie es sich für einen “talentvollen“ Kapitalisten gehört. Mit den nützlichen Kapitalisten hingegen haben die Arbeiter gemeinsam gegen die Barbarei der Kleinproduzenten anzukämpfen. Der „proletarische Staat“ arrangiert hierzu das Bündnis von Kapital und Arbeit. Er versöhnt die Kontrahenten im Zeichen des zukünftigen Sozialismus. Beide müssen Opfer bringen: Die Kapitalisten verzichten auf die politische Macht, das Proletariat auf die Leitung der Produktion. 21 Die Kapitalisten sind für die Arbeiter da, die Arbeiter für das Kapital. Dieses steht unter der Kontrolle des „sozialistischen Staates“ nicht für ein Ausbeutungsverhältnis, sondern für Produktenmasse, für Zivilisation und Kultur: Voraussetzungen des Sozialismus.

Diese Voraussetzungen zu schaffen waren die alten “feudalen“ Kapitalisten nicht imstande. So muß „das Proletariat“ über die politische, demokratische Revolution hinausgehen und auch ökonomisch die bürgerliche Revolution vollziehen.

Die bürgerliche Revolution im Westen setzte allerdings den Markt der Warenproduzenten als ihr Kampffeld voraus. Das in die Produktion eindringende Kapital war sich gerade in der „freien Konkurrenz“ seines schließlichen Sieges über den kleinen Warenproduzenten gewiß. Wenn das bolschewistische Proletariat ökonomisch die bürgerliche Revolution nachvollzieht, dann zielt doch die radikale bolschewistische Kritik an den Merkmalen. des Kapitalismus, die ihm mit aller Warenproduktion gemeinsam sind, zugleich über die bürgerliche Revolution hinaus. Sie zielt auf die Reinigung des Kapitalismus von den Elementen, die ihn anarchisch, unkontrollierbar, krisenanfällig machen.

Im “reinen“ Kapitalismus (als Modell verstanden) existiert nur noch der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital. An die Stelle der gegeneinander planenden Kapitale tritt der Staat und dessen einheitlicher Plan. Die “schädliche“ Konkurrenz der privaten Kapitalisten wird beseitigt - es bleibt die “nützliche“ Konkurrenz der öffentlich Arbeitenden, der „proletarische Wettbewerb“. 22

Der „Kampf für die Befreiung der Arbeit“ den der proletarische Staat führt, befreit die Arbeit zur Mehrwertproduktion.

DAS BÜNDNIS

LENIN ALS POLITISCHER ÖKONOM: „VON DER KLEINPRODUKTION ZUM SOZIALISMUS“

Lenin unterscheidet den Sozialismus von anderen Gesellschaftsformen politisch und ökonomisch. Die ökonomische Unterscheidung ist rein quantitativer Natur, d.h. aber: Lenin setzt eine gleiche Qualität voraus:

„Insofern wir noch nicht imstande sind, den unmittelbaren Übergang von der Kleinproduktion zum Sozialismus zu verwirklichen müssen wir uns den Kapitalismus zunutze machen (...) als vermittelndes Kettenglied zwischen der Kleinproduktion und dem Sozialismus, als Mittel, Weg, Behelf, Methode zur Steigerung der Produktivkräfte.“ (S.364)

Wie die soziale Organisation der Produktion aussieht, wie die Produzenten sich zueinander verhalten, steht hier nicht zur Debatte. Bei allem was die Produktion selbst betrifft, ist der Sozialismus von Lenin ausgezeichnet durch eine quantitative Überlegenheit, durch ein Mehr, durch einen „nächsten Schritt“ auf gegebener Stufenleiter:

"... Denn der Sozialismus ist nichts anderes als der nächste Schritt vorwärts, über das staatskapitalistische Monopol hinaus.“ (S.348)

Zwar führt Lenin Kapitalismus und Sozialismus als verschiedene „gesellschafiliche Wirtschaftsformen“ (S.343) an. Der Formwechsel aber ist keineswegs Wechsel im Produktionsverhältnis, sondern betrifft allein den “Klasseninhalt“ des Staates, die Politik. Die neue Qualität - und damit auch der Ursprung für sozialistischen oder kapitalistischen Charakter der „Wirtschaftsform“ - liegt für Lenin im „Klasseninhalt“ der politischen Kontrolle der Ökonomie:

„Um die Frage noch klarer zu machen, wollen wir zunächst ein ganz konkretes Beispiel des Staatskapitalismus anführen. Alle wissen, was für ein Beispiel das ist: Deutschland. Hier haben wir das 'letzte Wort' moderner großkapitalistischer Technik und planmäßiger Organisation, die dem j u n k e r l i c h – b ü r g e r l i c h e n I m p e r i a l i s m u s u n t e r s t e l l t sind. Man lasse die hervorgehobenen Wörter aus, setze anstelle des militärischen, junkerlichen, bürgerlichen, imperialistischen Staates ebenfalls einen Staat, aber einen Staat von anderem sozialen Typus, mit anderem Klasseninhalt, den Sowjetstaat, d.h. einen proletarischen Staat, und man wird die ganze Summe der Bedingungen erhalten, die den Sozialismus ergibt.“ (S.346)

Die Rechnung, auf der diese Summe steht. ist ohne den Wert gemacht. 23

„Ökonomisch“ - verstanden als die Produktionsweise betreffend - unterscheidet sich der Sozialismus Lenins nicht vom Kapitalismus, unterscheidet sich, wie wir gesehen haben, auch die kleinbürgerliche Produktionsweise nicht vom Kapitalismus.

D.h.: wo Lenin Produktion sieht. sieht er immer kapitalistische Produktion. Er revolutioniert die Produktionshöhe, aber auf Basis einer gegebenen Form.

Es ist daher mehr als eine Nachlässigkeit, wenn Lenin als erste Bedingung für den Sozialismus aufstellt:

“Sozialismus ist undenkbar ohne großkapitalistische Technik ...“
und als zweite - wie er sagt - „Binsenwahrheit“ anführt:

“Sozialismus ist außerdem undenkbar ohne die Herrschaft des Proletariats im Staate.(S.346)

Proletariat ist undenkbar ohne Kapitalisten, denen es seine Arbeitskraft verkaufen kann. Das Proletariat - auch als “Herrscher im Staat“ - bleibt in der Fabrik beherrscht von der „großkapitalistischen Technik“ bzw. deren Verfügern.

Eine Diktatur des Proletariats, welche “Leitung der Politik durch das Proletariat“ bedeutet und nicht Leitung des Produktionsprozesses durch die Arbeitenden selbst, impliziert die Verdoppelung des Proletariats in ein herrschendes und ein arbeitendes. 24

Man sieht: der Marxist Lenin nimmt, wo er zum Sozialismus übergeht, stets eine Kleinigkeit mit: den Mehrwert.

DER SÜNDENFALL

Die bolschewistische Partei spielt scheinbar eine Doppelrolle: sie ist die „stahlharte, gestählte Avantgarde des Proletariats“, und sie ist die Partei der Oktoberrevolution, die eine Arbeiter- und Bauernrevolution war, ist die Trägerin der Sowjetmacht, die auf einem Bündnis von Arbeiter- und Bauernschaft basiert.

„Bündnis der Arbeiter mit der Bauernschaft = a und o der Sowjetmacht. 'Notwendige und ausreichende' Bedingung ihrer Festigkeit. Dieses Bündnis gegen Denikin und Co. ist nicht das gleiche wie das Bündnis ... beim wirtschaftlichen Aufbau.

Das erste = bürgerliche Revolution
Das zweite = sozialistische Revolution.“ (S. 333; Hervorhebungen von Lenin)

Denikin vereinte Arbeiter und Bauern in der Abwehr seines Überfalls auf ihre revolutionären Errungenschaften. Lenin sagt hierzu: “bürgerliche Revolution“,

Für die Bolschewiki ist die antifeudale Revolution, die Bauernbewegung zur Aneignung des Bodens z. B., aus sich selbst heraus zu jeder historischen Stunde nicht anders als “bürgerlich“, zum Kapitalismus drängend, vorstellbar. Indem sich die Bolschewiki durch die Bauernrevolte an die Macht schwemmen ließen, machten sie sich somit selbst gemein mit “bürgerlichem“ Bestreben. Indem sie die besondere Weise, in der die Bauern den antifeudalen Kampf durchführten, unterstützten, unterwarfen sie sich formell der „Elementargewalt“ des angehenden „kleinbesitzerlichen Elementes“. Dem Machtantritt ging der Sündenfall voraus. Ohne diesen aber hätte es einen Machtantritt nie gegeben.

Die Bolschewiki sehen sich gezwungen, neben der „Bourgeoisie der ganzen Welt“ auch die Schatten ihrer rein kommunistischen Vergangenheit niederzuringen 25; den zweifelnden Mitkämpfern erteilt Lenin Absolution:

„... wäre es ein nicht wiedergutzumachender Fehler, wenn man erklären wollte, da das Mißverhältnis zwischen unseren ökonomischen 'Kräften' und unserer politischen Kraft eine anerkannte Tatsache ist, hätte man 'folglich' die Macht nicht ergreifen sollen.“ (S. 351/2)

Man hat die Macht ergriffen - und jetzt geht es nicht darum, auf einer Praxis zu beharren, die das „Mißverhältnis“ übersieht, sondern die Praxis zu betreiben, die das „Mißverhältnis“ überwindet.

„Wer auf diesem Gebiet (Umsatzbelebung im Sinne der NEP) die besten Resultate erzielt sei es auch auf dem Wege des privatwirtschaftlichen Kapitalismus .,. der wird dem sozialistischen Aufbau in ganz Rußland mehr Nutzen bringen als derjenige, der auf die Reinheit des Kommunismus 'bedacht' ist ...“ (S. 368)

Nach der Machtübernahme der Bolschewiki richtet sich ihr Kampf gegen die Voraussetzungen, unter denen sie die Macht ergreifen konnten.

Solange die Bolschewiki den „Kapitalismus der Kleineigentümer“, ihr eigenes illegitimes Kind, von Geburt an maßregeln,und einschränken, um es schließlich zu beseitigen, d. h. die „sozialistische Revolution“ durchzuführen; solange sie ihrem rechtmäßigen Erben, der stahlharten sozialistischen Großproduktion, eine gute Erziehung zuteil werden lassen, tun sie für sich selbst ihrem Anspruch als Avantgarde des Proletariats durchaus genüge.

Hierzu, schreibt Lenin, ist ein „Bündnis“ mit den Bauern nötig, ein anderes allerdings als das gegen Denikin, „nicht das gleiche“.


DIE POSITIVE DEFINITION DES BÜNDNISSES

Damals war das Bündnis negativ definiert - gegen Denikin - beide Parteien hatten ein Interesse daran, ihn zu vertreiben; heute ist, es positiv definiert als Bündnis für den „Wirtschaftlichen Aufbau“ - für dessen Gedeihen eine der beiden Parteien ihre bisherige Existenzform opfern muß.

Der Sozialismus, solange er noch nicht verwirklicht ist, liegt für die Bolschewiki nicht beschlossen in Bedingungen, gegen die die ausgebeuteten Produzenten revoltieren, sondern im Mangel an Produktion überhaupt.

Der zukünftige Sozialismus ist nicht das Verlangen der sich gegen ihre Ausnutzung erhebenden Arbeiter, sondern die Verheißung der Bolschewiki, durch planvolle Nutzung der Arbeit das Land aus der Rückständigkeit zu heben.

Die Arbeiter haben ihre Rolle als Destrukteure (der alten Ordnung) gespielt. Jetzt geht es um den wirtschaftlichen Aufbau. Die Bauern und Arbeiter schaffen für den Sozialismus nicht als Konstrukteure, sondern nur als Bauarbeiter. Ihre Arbeit ist die notwendige Voraussetzung für die Durchführung des von den Bolschewiki geplanten „wirtschaftlichen Aufbaus = sozialistische Revolution“. Dafür, daß die Gleichung stimmt, garantieren die bolschewistischen Architekten.

„Kein einziger Kommunist hat wohl bestritten, daß die Bezeichnung 'Sozialistische Sowjetrepublik' die Entschlossenheit der Sowjetmacht bedeutet, den Übergang zum Sozialismus zu verwirklichen, keineswegs aber, daß die jetzigen ökonomischen Zustände als sozialistisch bezeichnet werden.“ (S. 342)

Die entschlossene Partei handelt beiden, Arbeitern und Bauern gegenüber, als Vertreterin des Sozialismus. Solange die Werktätigen in Stadt und Land die Partei überhaupt am Ruder lassen, sind sie damit für sie – wenngleich passiv und ideell - in einem Bündnis für den Sozialismus vereint.

Das “Bündnis“ ist keine subjektiv - aktive Übereinkunft der beiden Seiten, sondern ein solches Handeln von sowohl Arbeitern als auch Bauern, dessen objektive Resultate die Sowjetmacht, d. h. die zum Sozialismus entschlossene Staatspartei, überleben lassen („notwendige Bedingung ihrer Festigkeit“).

Die Partei, die in Wahrung des „proletarischen Klasseninteresses“ die Politik leitet, wußte die Kapitalisten durch Einkauf auszukaufen. Sie weiß den Widerstand der „letzten Klasse“, die ihr noch gefährlich werden kann, der Bauern, durch ein „Bündnis“ zu brechen. 26

DIE „VERTRETER DER INTERESSEN DES GESAMTEN VOLKES“ 27

Ihre Entschlossenheit, als „Sowjetmacht“ zu überleben, fordert von den Bolschewiki taktische Zugeständnisse an die Bauern und permanente Wachsamkeit gegenüber den Zunftinteressen der Arbeiter. Vor den Arbeitern treten die Bolschewiki für die Belange der Bauern ein, während sie den Bauern gegenüber, d. h. auf dem Markt, als industrieller Produktionsagent die Arbeiter repräsentieren. 28

Dieses Agieren nach zwei Seiten ist jedoch nicht zu verstehen als „Schwanken“ zwischen Arbeiter- und Bauernpolitik. 29

Die Bolschewiki vertreten nicht die Bauern als Landbesitzer und Warenproduzenten: die Entwicklung, die sie mit der NEP einzuleiten hoffen, soll gerade die Bedingungen für sozialistische, d. h. staatlich gelenkte, Landwirtschaft schaffen.

Die Bolschewiki sind aber, wie wir oben sahen, auch nicht die Partei der mit konkreten Konflikten ringenden Arbeiter.

Sie sind nicht die Partei dieser oder jener Produzenten, sondern die Funktionäre einer bestimmten Form von Produktion: der „fabrikmäßigen, staatlichen, sozialistischen Großproduktion.“ (S. 356)

Die Bolschewiki sind also in der Tat die Partei des „wirtschaftlichen Aufbaus“, aber - wie Lenin sagen würde - eines Aufbaus „eigener Art“.

Dieser Aufbau steht nicht bloß im Gegensatz zu den Interessen dieser oder jener, d. h. besonderer Produzenten, sondern zu dem besonderen, dem „Zunftinteresse“ aller Produzenten.

Die Partei als ideeller Gesamtproduzent 30 braucht für den Aufbau der „sozialistischen Großproduktion“ die Parteilosigkeit der realen Produzenten, das „Bündnis“ von Arbeitern und Bauern.

Der “wirtschaftliche Aufbau“ als sozialistische Revolution“ ist zugleich der politische Aufbau der bolschewistischen Sowjetmacht. Diese Macht ist gefestigt und der Sozialismus damit für die Bolschewiki verwirklicht, wenn das "Bündnis" zwischen Arbeitern und Bauern so innig geworden ist, daß beide nicht mehr voneinander zu scheiden“ daß beide produktionsmittellos unter das staatliche Monopol subsumiert sind.


DIE ENTEIGNUNG DES PROLETARIATS

„Proletariat“ ist für Lenin durchaus kein Begriff. der negativ bestimmt wäre, der vornehmlich einen Mangel (an Produktionsmitteln) bezeichnete und mit dem daraus entspringenden Bedürfnis, der proletarischen Lage zu entkommen, zugleich die historische Richtung angäbe, in die dieses Bedürfnis zur revolutionären Befriedigung drängt: gesellschaftliche Aneignung durch die schon gesellschaftlich Produzierenden.

„Proletariat“ ist bei Lenin vielmehr ausgezeichnet durch eine Reihe von positiven Eigenschaften. Es ist

  • „einzig revolutionäre Klasse“ (S. 375), gerade weil es
  •  „ökonomisch selbständig“ (S. 378) ist, weil es wie die Bourgeoisie, die „tatsächlich eine Klassenkraft“ ist,
  •  „weiß was es will“,
  • für „größere Ordnung und Organisation“ (S. 345) eintritt und imstande ist,
  •  „den zersplitterten Kleinproduzenten, den Bauer ... ökonomisch und politisch“ zu vereinigen; und weil es eine Avantgarde hat, die sowohl
  •  „fähig ist, zu regieren“ als auch „fähig, den Schwankungen standzuhalten und zu widerstehen“.

Von der Aufhebung des proletarischen Zustandes ist daher auch nirgendwo die Rede.

Als Avantgarde des Proletariats sind die Bolschewiki vielmehr bestrebt, das grundlegende Merkmal des proletarischen Zustandes, die Produktionsmittellosigkeit, allgemein zu machen. 31 Sie bewahren perspektivisch den gesamten Reichtum der Nation nicht nur vor privater, sondern auch vor individueller Aneignung 32, indem sie dessen einzelne Splitter den Händen der Kleinbürger entreißen. Als Sachwalter der „proletarischen Klasseninteressen“ verwalten sie dann den sachlichen Produktionsapparat der Nation.

Über den Mittler des „proletarischen Staates“ ist für die Bolschewiki der unmittelbare Produzent selbst Verfüger über sein Produkt. Die Bolschewiki können dies nur voraussetzen, wenn sie davon absehen, daß sie mit den Produktionsmitteln auch deren Produzenten und Anwender beherrschen, daß das sachliche Verhältnis zum produktiven Vermögen ein persönliches zu dessen Schöpfern beherbergt. Solange letztere nicht mit den Verwaltern individuell zusammenfallen, werden sie mit ihren Produkten gemeinsam verwaltet.

Für die Bolschewiki bestand das Klasseninteresse des Proletariats in der Ergreifung der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel durch die Avantgarde des Proletariats 33. In der Oktoberrevolution nun eigneten sich die proletarischen Massen unmittelbar die Produktionsmittel als gesellschaftliches Eigentum an, handelten also gegen ihr „proletarisches Klasseninteresse“. Die Bolschewiki mußten den Lauf der Revolution im Namen dieses Klasseninteresses korrigieren, die Arbeiter von der Leitung der Betriebe ausschließen.

Der Sieg des „Klasseninteresses des Proletariats“ war nicht die Enteignung der Bourgeoisie durch die Arbeiter, sondern erst die Enteignung der Arbeiter durch die Bolschewiki.

Diese enteigneten das Proletariat, nachdem es bereits als Expropriateur der Expropriateure aufgetreten war, und im Begriffe stand, sich selbst als Proletariat aufzuheben. Sie proletarisierten die Arbeiter damit zum zweiten Mal.

Diese Trennung der Produzenten, nicht vom privaten, sondern vom gesellschaftlich angeeigneten Produktionsmittel, war die Wiederherstellung des Proletariats im Namen der „Klasseninteressen des Proletariats“.

Das „Klasseninteresse des Proletariats“ ist also das Interesse an der Erhaltung des Proletariats als Klasse.

Fussnoten:

Anm. 1: „Man weiß: Produktions- und Lebensmittel, als Eigentum des unmittelbaren Produzenten, sind kein Kapital. Sie werden Kapital nur unter Bedingungen, worin sie zugleich als Exploitations- und Beherrschungsmittel des Arbeiters dienen. Diese ihre kapitalistische Seele ist aber im Kopfe des politischen Ökonomen so innig mit ihrer stofflichen Substanz vermählt, daß er sie unter allen Umständen Kapital tauft, auch wo sie das gerade Gegenteil sind.“ (K. Marx, Das Kapital 1, MEW Bd. 23, S. 794)

Anm. 2: „Mit den Bauern in Frieden leben und eine marktlose Wirtschaft durch planmäßige Ausnutzung aller Mittel des Marktes herbeizuführen - das ist der wirtschaftspolitische Grundgedanke der NEP.“ (Fr. Pollock, Die planwirtschaftlichen Versuche in der SU 1917-279 Frankfurt 1971, S.127) 

Anm. 3: Bei dieser Gelegenheit sollten die Bauern sich wenigstens eine der Voraussetzungen des Sozialismus aneignen, die Buchführung:

“Unter der Fähigkeit, ein Händler zu sein, verstehe ich die Fähigkeit, ein Händler zu sein, der Kulturansprüchen genügt. Das mögen sich die russischen Menschen oder einfach die Bauern hinter die Ohren schreiben, die meinen: Wenn einer Handel treibt, dann versteht-er auch Händler zu sein. Das ist ganz falsch. Wohl treibt er Handel, aber von da bis zu der Fähigkeit, ein Händler zu sein, der Kulturansprüchen genügt, ist es noch sehr weit. Er treibt heute Handel auf asiatische Manier; um aber zu verstehen, ein Händler zu sein, muß man auf europäische Manier Handel treiben. Davon trennt ihn eine ganze Epoche.“ (Lenin, Über das Genossenschaftswesen,1923, Werke Bd.33, S.456/7)

Anm. 4: Die Vereinigung der Bauern ist für Lenin nur als positive (manipulierende) Tat von Führern, als Unterordnung denkbar, nicht als selbsttätiger Zusammenschluß der Bauern gerade zur Durchbrechung einer sie unten haltenden Ordnung. Wo die „Gutsbesitzer und Bourgeois“ die Bauern negativ, gegen sich vereinigten, in der Revolution 1917/181, schreibt Lenin diese Vereinigung der positiv führenden Aktivität der Bolschewiki zu.

„Mit ihren Feinden von rechts, mit der Klasse der Gutsbesitzer, hat diese Kraft (die Bauernschaft.d.V.) dank der revolutionären Energie und Selbstlosigkeit der proletarischen Diktatur so rasch aufgeräumt, wie es nie zuvor geschehen war ...“ (Lenin, Rede auf dem Verbandstag ... , Werke Bd.32, S.283)

Als es dann tatsächlich die Bolschewiki waren, die die Bauern auf's neue einten (Kronstadt), da sollten es die Weißen gewesen sein. D.h. Lenin traut den Bauern keinen subjektiv-revolutionären Impuls zu. Nicht einmal ihr Land haben sie selbst erobert:

Der Bauer bekam von uns (!!) den ganzen.Boden und die Unterstützung gegen den Großgrundbesitz. Wir sollten dafür Lebensmittel erhalten.“ (Lenin, 3. Kongreß der Kommunistischen Internationale Referat über die Taktik der KPR, 1921, Werke Bd. 329 S.5o9)

Anm. 5: Die Durchführung der Enteignung geschah in Ungarn in einer der russischen wirtschaftlich weitaus überlegenen Art und Weise. In Rußland wurde der Grundbesitz eigentlich gar nicht enteignet, sondern von den Bauern regellos aufgeteilt , während die Einrichtung geraubt und verschleppt wurde. Es war dies keine Enteignung sondern (!) eine revolutionäre Aufteilung. Die schädlichen Folgen dieses Verfahrens hat Lenin in seiner Rede 'Der Kampf ums Brot' trefflich ausgeführt.“ (E. Varga, Die wirtschaftspolitischen Probleme der proletarischen Diktatur“ Wien 1920, Raubdruck, S.86)

Anm. 6: „Es genügte jedoch eine sehr kurze Zeit, um den Bauern die Augen zu öffnen. In kurzer Zeit hatten sie praktische. Erfahrungen gesammelt, und bald sagten sie: 'Ja. die Bolschewiki sind recht unangenehme Leute, wir haben sie nicht gern, immerhin aber sind sie besser als die Weißgardisten und die Konstituierende Versammlung.'“ (Lenin, a. a. 0. S. 509)

Anm. 7: „ ... wir, das Proletariat Rußlands, mit unserer politischen Ordnung, mit der Stärke der politischen Macht der Arbeiter (sind) England, Deutschland oder jedem beliebigen anderen Land v o r a u s ...“ (Lenin, Über die Naturalsteuer, 1921 Werke Bd. 32, S.351) 

Anm. 8: “Aber außer dieser Ausbeuterklasse gibt es in fast allen kapitalistischen Ländern, England vielleicht ausgenommen, die Klasse der Kleinproduzenten und der kleinen Landwirte. Die Hauptfrage der Revolution ist jetzt der Kampf gegen diese zwei letzten Klassen. Um sie aus der Welt zu schaffen, muß man andere Methoden anwenden als im Kampf gegen die Großgrundbesitzer und Kapitalisten. Diese beiden Klassen konnten wir einfach expropriieren und fortjagen - was wir auch getan haben. Aber mit den letzten kapitalistischen Klassen mit den Kleinproduzenten und den Kleinbürgern, die in allen Ländern existieren, können wir nicht so verfahren. In den meisten kapitalistischen Ländern stellen diese Klassen eine sehr starke Minderheit, etwa 30 - 45 % der Bevölkerung dar. Wenn wir die kleinbürgerlichen Elemente der Arbeiterklasse (!) hinzunehmen, kommen sogar mehr als 50 % heraus. Man kann sie nicht expropriieren oder fortjagen ...“ (Lenin, 3.Kongreß der Kommunistischen Internationale Referat über die Taktik der KPR, 1921, Werke Bd.32, S.507)

Ein solcher Plan verbot sich allein schon wegen der oben erwähnten Zerrüttung des Verkehrswesens. Die Leistung im Personenverkehr betrug Ende 1920 nur 27 % gegenüber dem Vorkrieg (1913). Siehe auch Pollock a.a.0., S.65

Anm. 9: „ ... denn die Ummodelung des kleinen Landwirts, die Ummodelung seiner ganzen Mentalität und seiner Gewohnheiten ist eine Sache, die Generationen erfordert. Diese Frage inbezug auf den kleinen Landwirt lösen, sozusagen seine ganze Mentalität gesunden (!) lassen, kann nur die materielle Basis, die Technik ... Das würde den kleinen Landwirt von Grund aus und mit enormer Geschwindigkeit ummodeln.“ (Lenin, 10.Parteitag, Referat über die Ersetzung der Ablieferungspflicht durch die Naturalsteuer, 1921, Werke Bd. 329, S.219) 

Anm. 10: Hier stimmt Lenin mit manchen Kritikern von links überein: „Die kapitalistische Parole: 'Das Land den Bauern' bedeutete darum in Rußland die Verwirklichung der Freiheit und Gleichheit ... wie die französischen Bauern sie 1789 eroberten. Sie verschafften sich ein Stück Privatbesitz, auf dem sie nach eigenem Belieben wirtschaften konnten. Der russische Bauer verlangte auch als Kapitalist, als Warenproduzent auf der gesellschaftlichen Bühne aufzutreten, warum er auch bald gegen die Sowjetregierung agierte und die Freiheit des Innenhandels erzwang.“ (Gruppe Internationale Kommunisten GIK, Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung, 1930, Berlin 1970)

Als Warenproduzent gewiß - aber als Kapitalist? 

Anm. 11: „Die ganze Lehre von Marx zeigt: Setzt man die Kleinbesitzer als Eigentümer der Produktionsmittel und des Grund und Bodens voraus, so erwachsen aus dem Austausch zwischen ihnen unbedingt (!) das Kapital und zugleich damit die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit.“ (Lenin, Rede auf dem Verbandstag ..., Werke Bd. 32, S. 284/5)

Marx hat niemals „Kleinbesitzer als Eigentümer der Produktionmittel“ vorausgesetzt. Er hat Kleinbesitzer vorgefunden, die durch die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise enteignet, proletarisiert wurden. Die Marx'schen Ausführungen über die sogenannte ursprüngliche Akkumulation zeigen, daß zur Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise wesentlich mehr Bedingungen gehören als austauschende Kleinbesitzer.

“Die Trennung zwischen Kauf und Verkauf macht mit dem eigentlichen Handel eine Masse Scheintransaktionen vor dem definitiven Austausch zwischen Warenproduzenten und Warenkonsumenten möglich. Sie befähigt so eine Masse Parasiten, sich in den Produktionsprozeß einzudrängen und die Scheidung auszubeuten. Dies heißt aber wieder nur, daß mit dem Geld als der allgemeinen Form der bürgerlichen Arbeit die M ö g 1 i c h k e i t der Entwicklung ihrer Widersprüche gegeben ist.“ (Marx, MEW 13, S.79)

Ein Zeuge der besonderen Gegebenheiten der russischen Revolution berichtet von einem nicht-kapitalistischen Fortschreiten der Kleineigentümer.

Die Kommunen entstanden nicht etwa aus Eigensinn, oder um ein Beispiel damit zu geben, sondern ausschließlich, weil sie den Bauern lebensnotwendig waren, jenen Bauern nämlich, die vor der Revolution nichts besessen hatten und sich nun nach dem Siege daran machten, ihre Wirtschaften auf kommunaler Grundlage einzurichten. Das waren nicht künstliche Kommunen der KP, in denen gewöhnlich ein zufällig gesammeltes Element arbeitet, das Saat und Acker verschandelt, die größtmögliche Hilfe des Staates in Anspruch nimmt und auf diese Weise auf Kosten des Volkes lebt, dem es richtige Arbeit beibringen will. Hier handelt es sich um wirkliche Bauernkommunen, die aus der Arbeit heraus geboren waren und gerade diese Arbeit an sich selber und an den anderen zu schätzen wußten. In diesen Kommunen a r b e i t e t e n die Bauern vor allen Dingen und waren darauf bedacht, sich ihren täglichen Lebensunterhalt zu verschaffen.“ (Arschinoff, Geschichte der Machno - Bewegung 1918 – 21, Berlin 1959, S.108)

Der Plan der Bolschewiki ist für die ukrainischen Bauern Zufall, ihre Ökonomie Vergeudung.

Anm. 12: „Einige Bakuer Genossen wollten sich nicht mit dem Gedanken abfinden, daß auch für Baku ... Konzessionen notwendig sind und daß man in Baku den größten Teil der Ölfelder als Konzessionen vergeben soll. Die Argumente waren außerordentlich verschiedenartig, angefangen damit, daß wir selber 'schürfen' werden, wozu sollen wir Ausländer rufen, und weiter, daß die alten, im Kampf mit den Kapitalisten erprobten Arbeiter nicht darauf eingehen werden, sich wieder unter das Joch eines Kapitalisten zu beugen, usf. Ich will darüber jetzt nicht urteilen, inwieweit solche Argumente von Prinzipienfestigkeit zeugen oder aber, sozusagen, von Bakuer ... Kirchtumspolitik. Von mir selbst muß ich sagen, daß ich diese Ansicht aufs entschiedenste bekämpft habe ...“ (Lenin, Referat über die Konzessionen, 1921, Werke Band 32,S.310/11)

Anm. 13: „Es soll deshalb in einem umfassenden Plan festgestellt werden, was zur wirtschaftlichen Durchdringung Großrußlands deutscherseits unternommen werden muß. Es handelt sich im wesentlichen um die Einflußnahme auf Eisenbahnen, Kohle- und Erzgruben, Industrie- und Verkehrsunternehmungen sowie jede Art Rohstofferzeugung (auch Landwirtschaft), während von der Förderung der Industrie voraussichtlich abgesehen werden muß.“ (Waldeck, Aufzeichnung über die Sitzung vom 4.Juni 1918 im Reichswirtschaftsrat, zitiert nach G. Rosenfeld, Sowjetrußland und Deutschland 1917 -1922, Berlin 1960, S.90,)

 Anm. 14: Nicht nur die Kapitalisten, auch die Arbeiter zerfallen in nützliche und schädliche, in „echte Froletarier“ und „Drückeberger“:

„Wenn man von 'Arbeitern' spricht, so meint man sehr häufig, das bedeute Fabrikproletariat. Das bedeutet es durchaus nicht. Seit dem Krieg sind bei uns Leute in die Fabriken und Werke gegangen, die gar keine Proletarier sind, die vielmehr hineingingen, um sich vor dem Krieg zu drücken; und sind heute die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse bei uns etwa derart, daß echte Proletarier in die Fabriken und Werke gehen? Das trifft nicht zu. Das ist richtig nach Marx, aber Marx hat nicht über Rußland geschrieben, sondern über den gesamten Kapitalismus als Ganzes, angefangen mit dem 15. Jahrhundert. Für den Zeitraum von 6oo Jahren ist das richtig, aber für das Rußland von beute trifft es nicht zu. Sehr häufig sind diejenigen, die in die Fabriken gehen, nicht Proletarier, sondern zufällige Elemente.“ (Lenin, Politischer Bericht des ZK der KPR auf dem 11. Parteitag, 1922, Werke Bd. 33, S.286)

„W.I. sagte gestern, daß das Proletariat als Klasse im marxistischen Sinn nicht existiere. Erlauben Sie mir, Ihnen zu gratulieren, daß Sie die Avantgarde einer nicht existierenden Klasse sind.“ (G. Schljapnikow, zitiert nach I. Deutscher: Der unbewaffnete Prophet, Stuttgart 1962, S.459)

Anm. 15: Die nützlichen Kapitalisten sind Garant für das Wiedererstehen einer nützlichen Klasse:

„Wenn der Kapitalismus wiederersteht, so heißt das, daß auch die Klasse des Proletariats wiedererstehen wird, das mit der Produktion materieller, für die Gesellschaft nützlicher Güter beschäftigt ist, das in maschinellen Großbetrieben tätig ist und sich nicht mit Spekulation ... befaßt.“ (Lenin, Die NEP und die Aufgaben der Ausschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung, 1921, Werke Bd. 33, S.46)

Anm. 16: Im Resultat entsteht auch in den sozialisierten Staatsbetrieben auf der Seite der Arbeiter ein vollkommen falscher Schein: „ ... während andrerseits die sozialisierten Staatsbetriebe auf das sogenannte Prinzip der wirtschaftlichen Rechnungsführung, d.h. auf kommerzielle Grundlage, übergeführt werden, was bei der allgemeinen kulturellen Rückständigkeit und Erschöpfung des Landes unvermeidlich dahin führen wird, daß im Bewußtsein der Massen die Betriebsleitung und die im Betrieb beschäftigten Arbeiter als einander entgegengesetzt erscheinen.“ (Lenin, Über die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften unter den Verhältnissen der NEP, 1922, Werke Bd. 33, S.169/70)

Anm. 17: Bis in die Reihen der linken Oppositionellen hatte sich die Einsicht durchgesetzt, daß zur Beherrschung der Arbeiterklasse ihre Spaltung nötig ist: „Zur Leitung ist am besten geeignet, wer ein gutes Gespür hat, wohin der Wind der Revolution weht, wer sich gut mit den Arbeitern zu stellen weiß, aber auch rasch Brennstoffe, Rohstoffe u.a.m. ausfindig machen kann. Hier richten ein guter Techniker und Betriebsverwaltungsfachmann manchmal überhaupt nichts aus, aber ein gescheiter Arbeiter kann mit der Sache fertig werden.“ (W. Ossinski, Zur Frage der Militarisierung der Wirtschaft, 1920, in: Arbeiterdemokratie und Parteidiktatur, herausgegeben vom [sic!] Kool und Oberländer, Freiburg, 1967, S.148/9)

Anm. 18: Mit dem feudalen Privileg der Geburt räumt die russische Revolution gründlicher als die bürgerliche auf. Im gleichen Maß jedoch, wie ihr die Beseitigung dieser Ungleichheit gelingt, legt sie die Wurzeln des Fortbestehens der Spaltung der Gesellschaft bloß:

Die besondere Produktionsweise, die die Kommunisten von den Kapitalisten lernen, beinhaltet schön die Trennung in die Klasse der ausgebeuteten Produzenten einerseits und die der über die Produktionsmittel verfügenden Organisatoren andererseits. Das bürgerliche Privateigentum an Produktionsmitteln scheint nur dem als die notwendige Voraussetzung der Mehrwertproduktion, der als das wesentliche Ziel des privaten Aneigners und Verfügers über den Mehrwert das luxurierende Privatleben und nicht die Kapitalakkumulation sieht. Die Abschaffung des bürgerlichen Privateigentums an Produktionsmitteln kritisiert dann nur die Abzweigung von Mehrwert zugunsten des privaten Luxuskonsums, nicht aber die private, d.h. nicht-geseIlschaftliche Verfügung über den Mehrwert, soweit er akkumuliert wird. Die Akkumulation als Organisation der Produktion für die Gesellschaft wird mit dem Sozialismus gleichgesetzt. Sie wird nicht aufgehoben in einer Form der Produktion, in der die unmittelbaren Produzenten selbst sich die Planungs- und Organisierungsgewalt aneignen. 

Anm. 19: Die „neue, ... höhere gesellschaftliche Bindung, gesellschaftliche Disziplin“, die das Proletariat erwirkt, charakterisiert Lenin als “die Disziplin bewußter und vereint arbeitender Menschen, die über sich keine Gewalt kennen und keine Macht außer der Macht ihrer eigenen Vereinigung, ihrer eigenen bewußteren, kühnen, festgefügten, revolutionären, standhaften Avantgarde“. (Lenin, „Die große Initiative“.1919, Werke Band 29, S. 412) 

Anm. 20: “Das Einparteiensystem war ein begrifflicher Widerspruch: die alleinstehende Partei selbst konnte im üblichen Sinn keine Partei bleiben.“ (Deutscher, a. a.O., S.29) 

Anm. 21: „Die Aufgabe, die man sich stellt, besteht darin, das Kommando über die Arbeiter allumfassend und so zentral wie möglich zu organisieren; ... Wenn die Arbeiter selbst über den Gang der Produktion bestimmen wollen, wird dieses Streben als ein Ausfluß.bürgerlichen Denkens hingestellt und ... diese Arbeiter werden als Konterrevolutionäre behandelt. ... (Wir lenkten schon die Aufmerksamkeit auf das Dekret bezüglich der Arbeiterkontrolle vom 14.November 1917, worin die Einmengung der Arbeiter in die tägliche Leitung des Betriebes verboten wurde. Am 20.April 1918, auf dem 3. Gewerkschaftskongreß, wußte die Regierung die individuelle Leitung des Betriebes und die Verantwortung 'von oben' teilweise durchzusetzen. ... 1920 wurde die individuelle Leitung und damit auch die individuelle Verantwortung allgemein durchgeführt. (Nach den Diskussionen des 9. Parteikongresses)).“ (Gruppe Internationale Kommunisten, Ausgangspunkte der Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung, in „Grundprinzipien ...“, S.165/6)

Anm. 22: „Der Kommunismus beginnt dort , wo e i n f a c h e A r b e i t er in selbstloser Weise, harte Arbeit bewältigend, sich Sorgen machen um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität ...“ (Lenin, a.a.0. S.417)

In „Staat und Revolution“, also vor dem Oktober, charakterisiert Lenin die „höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft“ an einer Stelle dadurch, daß „ ... die Menschen sich so an das Befolgen der Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewöhnt haben werden und ihre Arbeit so produktiv sein wird, daß sie freiwillig nach ihren Fähigkeiten arbeiten werden. Der 'enge bürgerliche Rechtshorizont', der dazu zwingt, mit der Hartherzigkeit eines Shylock bedacht zu sein, nur ja nicht eine halbe Stunde länger zu arbeiten als der andere und keine geringere Bezahlung zu erhalten als der andere - dieser enge Horizont wird dann überschritten sein.“ (Werke Band 25, S.483) Die Hartherzigkeit des Wucherers Shylock schreibt Lenin den Arbeitern zu. Wie der Jude auf seinen Geldsäcken sitzen die faulen Proleten auf den Werten, die als Potenz in ihrer unausgenutzten Arbeitskraft schlummern. Hier tritt der Proletarier bei Lenin klar als Wertreservoir auf, das überhaupt erst voll erschlossen sein will.

Anm. 23: „Die p o l i t i s c h e R e v o l u t i o n löst das bürgerliche Leben in seine Bestandteile auf, ohne diese Bestandteile selbst zu r e v o l u t i o n i e r e n und der Kritik zu unterwerfen.“ (Marx, Zur Judenfrage, MEW Bd.1 S.369)

Anm. 24: „Der Staatskapitalismus ist jener Kapitalismus, den wir zu organisieren verstehen werden, dieser Kapitalismus ist mit dem Staate eng verknüpft, der Staat aber, das sind die Arbeiter, das ist der fortschrittlichste Teil der Arbeiter, das ist die Avantgarde, das sind wir.“ (G. Sinowjew.1922, zit. nach A. Müller-Lehning, Anarchismus und Marxismus in der russischen Revolution, 1929, Berlin (Raubdruck) S.115) 

Anm. 25: „Und ebenso, wie wir einen Kommunisten, der darauf ausginge, mit einer bürgerlichen Macht einen Vertrag auf Grund kommunistischer Prinzipien abzuschließen, ins Irrenhaus sperren und ihm sagen würden: 'du taugst nicht als Diplomat in einem bürgerlichen Land, obwohl du ein vorzüglicher Kommunist bist', so wäre auch ein Kommunist reif fürs Irrenhaus, der in bezug auf die Konzessionspolitik seinen Kommunismus in einem Vertrag dokumentieren wollte.“ (Lenin, Referat über die Konzessionen, 1921, Werke Bd. 32, S. 323/4) Von der konkret - historischen Wirklichkeit abstrahierende “kommunistische Prinzipien“ sind in der Tat untauglich. Lenin selbst setzt die kommunistischen Prinzipien erst ideal, um dann das Verlangen nach deren Einfluß auf seine politischen Entscheidungen als irrsinnig abtun zu können. Seine realpolitischen Entscheidungen rückt er damit außerhalb jeder kommunistischen Kritik. 

Anm. 26: Nach der Vertreibung der Gutsbesitzer und Bourgeois fanden die Bolschewiki noch einen Klassengegensatz in den produktiven Massen selbst.

„ln der Tat, wenn das Reich der Arbeiter und Bauern nimmer enden sollte, so würde das bedeuten, daß es niemals Sozialismus geben wird, denn Sozialismus bedeutet Aufhebung der Klassen: solange aber Arbeiter und Bauern bestehen bleiben, bleiben auch verschiedene Klassen bestehen und kann es folglich keinen vollen (!) Sozialismus geben.“ (Lenin, Rede auf dem Verbandstag... , Werke Bd. 32, S. 278)

Solange Arbeiter und Bauern verschiedene Klassen bilden, gibt es in der Tat keinen “vollen Sozialismus“:

Entweder - die Arbeiter sind im „proletarischen Staat“ selbst Eigentümer ihrer Produktionsmittel. Dann unterscheiden sie sich inbezug auf das Verhältnis zu den Produktionsmitteln in keiner Weise von den Bauern bzw. Kleinbürgern.

Beide sind sowohl Arbeitende als auch Eigentümer und bilden von daher keine verschiedenen Klassen.

Oder - die Arbeiter sind nicht, Eigentümer der Produktionsmittel.

Dann sind Arbeiter und Bauern zwei verschiedene Klassen, denn sie unterscheiden sich im Verhältnis zu den Produktionsmitteln.

Die Bauern aber - obwohl Besitzer ihrer eigenen Produktionsmittel - besitzen nicht die Produktionsmittel, an denen die Arbeiter arbeiten. Es muß also eine dritte Klasse geben, die als Eigentümer dieser Produktionsmittel fungiert. Welche Klasse ist das?

Wir haben hier einen der seltenen Fälle vor uns, in denen Lenin von der “Avantgarde des Proletariats“ absieht.

Eine moderne Zweiklassengesellschaft ist nur denkbar als Gesellschaft von Produktionsmittelbesitzern und produktionsmittellosen Arbeitern. Eine Gesellschaft, in der zwei Produzentenklassen existieren, ist undenkbar ohne eine dritte, nur aneignende (und die Bedingungen dieser Aneignung organisierende) Klasse. 

Anm. 27: „Die Bolschewiki - das angeführte Beispiel zeigt es mit aller Deutlichkeit - handeln als Vertreter der Interessen des gesamten Volkes, handeln im Interesse der Sicherung von Ernährung und Versorgung und der Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Arbeiter und Bauern... „ (Lenin, Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, 1917, Werke Bd.25, S. 363) (Hervorhebungen von Lenin) 

Anm. 28: Auch der traditionelle Kapitalist erscheint auf dem Markt als Vorhut seiner Arbeiter:

„Ob der Warenproduzent der wirkliche Produzent seiner Ware oder ihr kapitalistischer Produzent, in der Tat also nur Repräsentant ihrer wirklichen Produzenten, ändert nichts an den Lebensbedingungen der Ware.“ (Marx, Kapital II, MEW Bd. 24, S. 147)

„Repräsentant der wirklichen Produzenten“ zu sein - das haben die traditionellen Kapitalisten mit den die Produktion leitenden KP - Kadern gemein. Hier zeigt sich auch der Kapitalist als „Avantgarde des Proletariats“.

Anm. 29: „Die Innenpolitik der Bolschewiki wurde von ihrem Verhältnis zu den Bauern bestimmt. Deren Zufriedenstellung konnte nur auf Kosten der Arbeiter geschehen, die Interessen der Arbeiter nur auf Kosten der Bauern wahrgenommen werden. Um an der Macht zu bleiben, verschrieb sich die bolschewistische Politik mal der einen, mal der anderen Klasse, um sich zuletzt durch den Aufbau eines absolutistischen Staatsapparates, der die ganze Gesellschaft beherrschte, von beiden unabhängig zu machen,“ (P. Mattick, Der Leninismus und die Arbeiterbewegung des Westens, Frankfurt 1970, S. 29)

Auch Mattick geht von dem Zwei - Produzentenklassen - Modell aus und kann deshalb das Interesse der Bolschewiki nicht als Klasseninteresse bestimmen. Dessen Inhalt war ja nicht die Macht an sich. 

Anm. 30: „Der vom Prinzip der Rentabilität geleitete Kapitalist stellt Arbeiter nur an, wenn sich die Möglichkeit der Mehrwertproduktion bietet. Für den Proletarierstaat ist der Gesichtspunkt maßgebend, d a ß w o m ö g l i c h a l l e a r b e i t s f ä h i g e n B ü r g e r p r o d u k t i v e A r b e i t v e r r i c h t e n, s e l b s t w e n n d a s P r o d u k t i h r e r A r b e i t d e n W e r t d e s A r b e i t s l o h n e s n i c h t e r r e i c h t. Eine derartige Arbeit ist im kapitalistischen Sinne verlustbringend. Für den Proletarierstaat ist auch eine derartige Arbeit vonnutzen, da dieser ja alle Arbeiter ohnedies erhalten muß.“ (Varga, a. a. 0., S. 60)

Anm. 31: „Das Proletariat als Klasse ist die einzige Klasse, der im großen und ganzen Besitzvorurteile fremd sind.11 (N. Bucharin, Ökonomik der Transformationsperiode, 1920, Reinbek, 1970, S. 156)

Anm. 32: „Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation. Es ist die Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaften der kapitalistischen Ära: der Kooperation ... „ (Marx, Kapital I, MEW Bd. 23, S. 791)

Anm. 33: „Die russische Revolution hat uns die praktische Durchführung von der Theorie des Staatssozialismus gebracht. Die Bolschewiki haben nie die Propaganda geführt, daß die Arbeiter die Betriebe besetzen sollten, um diese unter Leitung der Arbeiter weiter zu führen. Die Enteignung der Besitzer war für sie nie die Angelegenheit der Fabrikarbeiterschaft, sondern eine Angelegenheit der Staatsgewalt. Die Arbeiterschaft sollte nur den Staatsapparat der Bourgeoisie zerschlagen und die Bolschewiki in die Leitung des neuen Staates bringen. Die allmähliche Durchführung des Kommunismus war dann die Funktion der neuen Leitung ...“ (GIK, a.a.O. S. 161)

Editorische Anmerkungen

Der Text erschien 1972 und wurde vom "Papiertiger" archiviert.
Das damalige Impressum lautete

Die SCHWARZEN PROTOKOLLE erscheinen vierteljährlich
Nr. 1 1.Juli 1972
Preis des Einzelheftes: 2.8o DM

Bestellungen nimmt die Redaktion entgegen. Anschrift der Redaktion:
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Tel.: XXXXXXXX
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Presserechtlich verantwortlich für diese Nummer: Peter Ober

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