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Nr. 03-04
Notausgabe
5. März 2004

9. Jahrgang online

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Angst vor dem Anderen
Über den Zusammenhang und Unterschied von Antisemitismus und Fremdenhaß

Von Detlev Claussen

Ich betrachte Antisemitismus wie Fremdenhaß als Bestandteile einer Alltagsreligion. Ich wähle diese Kategorie "Alltagsreligion" bewußt, weil ich davon ausgehe, daß die Säkularisierung, die vom modernen Europa sich über die ganze Welt in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten ausgebreitet hat, mißglückt ist. Das läßt sich am besten daran ablesen, daß tatsächlich so etwas existiert wie eine Verarbeitung von gesellschaftlicher Realität, die sich nicht rein rational aufklären läßt. Und dieser Bestandteil, dieses Residuum, das nenne ich Alltagsreligion, ein Set von Bewußtseinsvorstellungen, die allerdings sehr viel auch mit dem Nichtbewußtsein, mit dem Unbewußten zu tun haben.

Auf der einen Seite müssen wir versuchen, diese Bewußtseinsbildung auf der Stufe der Einzelnen nachzuvollziehen. Gleichzeitig ist aber ein ganz wesentlicher Wert, den diese Alltagsreligion für den Einzelnen hat, daß sie den Einzelnen aus der Vereinzelung herausholt und ihn tatsächlich vergesellschaftet, ihn mit anderen zusammenbringt. Alltagsreligion ist eine Form von Kollektivität. Von Adorno stammt der Grundgedanke, daß die Alltagsreligion ein Massenmedium ist. Denken Sie dabei bitte jetzt nicht gleich an Fernsehen, sondern ein Massenmedium ist eine Form der Alltagsvergesellsellschaftung. Da haben wir Antisemitismus, Xenophobie, Nationalismus, Antiintellektualismus, man könnte auch sagen, esoterische Weltverarbeitung, positives Denken und auch etwas ganz Allgemeines, kulturindustrielle Wirklichkeitsauffassung, kulturindutrielle Verarbeitungsformen. Das alles gehört zusammen zu einem Bündel, das die Alltagsreligionen ausmacht. Der Wert dieser Alltagsreligion ist der, daß er das magische Viereck des modernen Menschen miteinander vermitteln kann. Das magische Viereck möchte ich grob bestimmen: die Kategorien Arbeit und Tausch, Gewalt und Autorität. Dieses Koordinatensystem ist ständig in Bewegung. Und dadurch wird für den Einzelnen eine Unübersichtlichkeit geschaffen, in der er sich schwer zurechtfinden kann. Die Alltagsreligion und die Massenmedien der Alltagsreligion bieten Orientierung an, sich in diesem magischen Viereck zurechtzufinden. Gegen das beunruhigende Gefühl ständiger Veränderung bietet die Alltagsreligion Kontinuität an, ein Gefühl von Kontinuität.

Schon die Wahrnehmung des Fremden setzt die Existenz eines Vertrauten voraus. Aber wie jeder aus seiner eigenen Erfahrung weiß, dieses Vertraute ist im modernen gesellschaftlichen Leben außerordentlich gefährdet, wird jeden Tag aufs Neue in Frage gestellt. Auch im Antisemitismus wird das Vertraute zusammengeschlossen mit etwas, was anscheinend frei Haus geliefert wird, nämlich Natürlichkeit: Es gibt etwas Natürliches und das andere, das Fremde das Künstliche. Auch diese Kategorie Natur hat immer diese Unterbedeutung, Nebenbedeutung und den Assoziationshorizont des Vertrauten. In den Alltagsreligionen ob Antisemitismus, Xenophobie oder Fremdenhaß, immer wird das Vertraute ausgespielt gegen ein Fremdes. Das Fremde wird assoziiert mit der Kategorie der Mobilität, der Beweglichkeit. Die Beweglichkeit, die in der gesellschaftlichen Realität zu beobachten ist, wird auf anderes projiziert. Tatsächlich ist es ja auch so, daß das Vertraute bedroht ist, sich in ständiger Veränderung befindet und von außen verändert wird. Das entspricht nicht dem Wunsch der überwiegenden Mehrheit der Menschen. Tatsächlich wird das Fremde, das Andere, als Bedrohung des Vertrauten empfunden. Die Kategorie der Fremdenfeindlichkeit scheint die übergreifende zu sein. Gesellschaftliche Realität wird ganz offensichtlich verzerrt wahrgenommen. In der Wahrnehmung steckt das richtige Moment, daß die Bedrohung des Statischen in der gesellschaftlichen Realität eine Tatsache ist - ein soziales Faktum, mit dem man leben muß, aber mit dem man schwer umgehen kann.

Wie kommt das zustande, diese Bedrohung des Vertrauten? Was sind die Triebkräfte, die diese Bedrohung zustande bringen? Dem ist zunächst einmal schwer nachzuspüren, weil die normalen Menschen - wir alle - nicht als Gesellschaftstheoretiker an die Alltagsrealität herangehen. Wir verarbeiten Erfahrung nicht immer in den Formen von kritischer Selbstreflexion, sondern nach Verhaltensmustern, die sich daran orientieren, was sich bewährt hat und was nicht. Dieser Punkt kommt in der Vorurteilsforschung meines Erachtens viel zu kurz: Die Verarbeitung von Realität in Vorurteilsformen ist eine allgemein verbreitete Erscheinung. Es ist selber ein Vorurteil, daß Vorurteile immer nur die anderen haben, sondern wir haben alle Vorurteile. Wir brauchen auch Vorurteile, weil wir uns nämlich in der Realität ohne sie gar nicht orientieren könnten. Wenn wir bei jedem Tauschakt überlegten, was steckt da eigentlich dahinter, an gesellschaftlichen Beziehungen, wir würden schlichtweg handlungsunfähig. Wir würden hilflos vor der Kasse im Supermarkt stehen und uns die ganze Dynamik des Tauschaktes überlegen und kämen überhaupt nicht zu unserem Einkauf. Wir kämen niemals zur Arbeit, wenn wir uns überlegen würden: Wie ist das nun eigentlich mit unserer Ware Arbeitskraft? Vorurteile braucht man, denn es sind Abbreviaturen, verkürzte Formen gesellschaftlicher Erfahrung, die durchaus zur Selbsterhaltung notwendig sind.

Es gehört eine bestimmte Dynamik dazu, daß die Vorurteile sich verfestigen, gegenüber jeder Form der neuen Erfahrung und so hat Horkheimer in einem sehr hübschen Aufsatz über das Vorurteil (ca. 1956) unterschieden zwischen dem Vorurteil der Selbsterhaltung und dem Vorurteil des Hasses. Vorurteile der Selbsterhaltung sind in der Alltagserfahrung begründet. Wir brauchen auch Vorurteile, um uns in der gesellschaftlichen Realität zurechtzufinden. Nicht jedes Mal, wenn wir bei Grün über die Straße gehen, überlegen wir uns alle möglichen Gefahren, sondern wir machen das einfach so. Abgekürzt, in dieser Form machen wir gesellschaftliche Erfahrungen. Das hat sich irgendwie bewährt, das so zu machen, in Grenzen natürlich, jeder weiß das und bei Unfällen sieht man das auch. Vorurteile soll man nicht verabsolutieren; denn es gibt Fälle, da geht man über Grün und dann kommt plötzlich ein Auto vorbei und gefährdet Leib und Leben. Vorurteile zur Selbsterhaltung - sagen wir, man geht in New York über die Straße und sieht plötzlich eine Gruppe junger Leute mit Baseballschlägern und Turnschuhen einem entgegenkommen. Da sagt der eine sich: Angst vor Fremden habe ich nicht, sondern ich gehe mal mutig auf sie zu. Ich würde lieber vorschlagen, ganz schnell zu werden und um die nächste Ecke zu biegen. Das mag man für ein Vorurteil halten, aber es erweist sich im Sinne der Selbsterhaltung für ganz vorteilhaft.

Aber es gehört ein gewisser Prozeß dazu, daß sich ein Vorurteil verfestigt, gegen neue Erfahrungen abschottet. Dieser Prozeß der Verfestigung des Vorurteils, das ist eigentlich das, was durch dieses Massenmedium Alltagsreligion zustande kommt. Die Alltagsreligion knüpft an bestimmte unbewußte Triebkräfte an, die für den Einzelnen eine Unübersichtlichkeit des gesellschaftlichen Lebens produzieren, und ordnet sie für das Bewußtsein, damit der Einzelne sich besser orientieren kann. Wir haben das allgemeinsten Medium gefunden: das allgemeinste ist, daß etwas fremd ist. Tatsächlich erfährt es jeder Einzelne in seiner Entwicklung, daß das Vertraute ihm fremd wird. Jeder weiß das, denn jeder macht es schmerzhaft durch. Beim Erwachsenwerden kann einem das Vertraute doch sehr fremd werden mit der Zeit. Das ist die eine Seite der Erfahrung. Aber die individualgeschichtliche Erfahrung verknüpft sich mit einer Erfahrung von Vergesellschaftung. Diese Erfahrung von Vergesellschaftung bringt einen immer wieder zusammen mit gesellschaftlichen Situationen, in denen das Vertraute auf diese gesellschaftliche Situation nicht paßt. Wir haben gar kein anderes Instrumentarium, diese neuen Situationen zu verarbeiten, als das, was wir in vorherigen Situationen gewonnen haben. Unsere Erfahrungsverarbeitung der gesellschaftlichen Situation, mit der wie zusammentreffen, hinkt immer hinterher.

Auf diese Weise kommt ein Widerspruch zustande, der schwierig zu verarbeiten ist. Um diesen Widerspruch zwischen individuellen Erfahrungsmöglichkeiten, dem individuellen Wissen und der gesellschaftlichen Situation, die sehr oft schnelles Handeln erfordert, aufzuarbeiten, braucht es Abstand und Muße. Aber wo wird dieser Abstand geboten in der Gesellschaft? Eigentlich sollten die Bildungsinstitutionen wie Schule, Universitäten, Erwachsenenbildungsinstitutionen Gelegenheit dazu bieten, bieten es aber doch nur in begrenzten Maße. Auch wenn man sich das überlegt, wem solche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, müssen wir leider immer noch vom Bildungsprivileg sprechen, das die Chance bietet, solche Situationen aufzuarbeiten. Die Attraktivität der Alltagsreligion besteht darin, daß sie Lösungsmöglichkeiten anbietet, wie wir diese komplizierten Situationen ohne nachzudenken verarbeiten können. Wesentlich dafür, daß die Alltagsreligion etwas anbietet und attraktiv ist, ist der Zeitmangel, unter dem die Individuen stehen - Zeitmangel, der auch keine Abstraktion von der eigenen Lebenssituation erlaubt. Unter diesem Zeitmangel bietet die Alltagsreligion etwas außerordentlich Attraktives an: Sie bietet die Triebregungen des Einzelnen zusammen mit der Interpretation der Situation.

Kommen wir zurück auf die Problematik des Fremden als umfassende Kategorie. Auch die gesellschaftliche Zukunft ist einem fremd. Die Xenophobie, die Fremdenfeindlichkeit bietet die Lösung an, daß man schuldige findet, persönliche Schuldige, und eine Erklärung, woher diese Angst vor der Fremdheit kommt. Man weiß plötzlich Bescheid, obwohl man gar nicht Bescheid weiß. Diese vielen Fremden, die kommen hierher und sie nehmen uns Arbeitsplätze weg, damit habe sie die eine Seite des magischen Vierecks, Arbeit. Die andere: überall wird man bedroht, von Fremden, man kann gar nicht in Ruhe durch die Innenstadt gehen. Das ist die andere Seite des magischen Vierecks: die Gewalt. Sie können sich das so weiter überlegen, wie eine ständige Bedrohung, die durch Fremdheit ausgeht, durch den Haß auf die Fremden handhabbar gemacht wird. Die Alltagsreligion vermittelt das Gefühl, den Fall erkannt zu haben; Schuld sollen nämlich die Fremden sein.

Zunächst läßt die Fremdheit der eigenen Zukunft im Einzelnen ein Gefühl der Ohnmacht aus. Aber auf der Ebene des Vorurteils weiß der Einzelne jetzt genau Bescheid: Die Bedrohung der Zukunft kommt von den Fremden her; aber er weiß es noch nicht: wie kommt die Abhilfe von dieser Bedrohung? Die Abhilfe von dieser Bedrohung hat mit dem zweifelhaften, dem ambivalenten Verhältnis zur Autorität zu tun. Jetzt wird etwas eingeklagt von der Autorität, nämlich Autorität in abgeleiteter säkularisierter Form, von der Autorität der Staatsgewalt. Die Staatsgewalt soll das Problem der Zukunft lösen, d.h. man ruft nach dem Staat, um das Problem der Fremden zu regeln. Bleiben wird bei dem Beispiel Arbeitsplätze: Durch die staatliche Regelung des Zustrom von Fremden soll dann die Sicherheit der eigenen Zukunft hergestellt werden. Im Grunde genommen ahnt es schon jeder, daß das nicht die Lösungsmöglichkeit sein kann. Hier ist der springende Punkt. An dem Punkt, wo man das Vorurteil nach den Interessen hin auflösen könnte, wo man fragen könnte: liegt es überhaupt in meinem Interesse oder entsprechen solche staatlichen Lösungen überhaupt der gesellschaftlichen Realität, verfestigt sich das Problem zu einem Vorurteil des Hasses; denn der Staat sorgt gar nicht für den Einzelnen, der Staat als stellvertretende väterliche Autorität sorgt gar nicht für mich. Daher klage ich mich ein, ich klage das Handeln dieser Autorität ein, von dem ich sowieso weiß, das es so nicht stattfinden wird. Beim Appell an an den Staat spielt die Kategorie der Natürlichkeit eine Rolle: der Staat als der natürliche Vertreter einer Gruppe, die einen Anspruch hat, von diesem Staat vertreten zu werden. Hier sehen Sie, wie sich das, was auf der individuellen Ebene das Vertraute ist, zu einem Gesellschaftsbild verfestigt. Die Gesellschaft soll nur eine Gesellschaft von Vertrauten sein, was sie ja nun keineswegs ist und keineswegs sein kann.

Die moderne Gesellschaft zeichnet sich ja gerade dadurch aus, daß sie Vertrautheit auflöst, aufhebt. In der Fremdenfeindlichkeit verfestigt sich ein gesellschaftliches Ohnmachtsgefühl zum Ressentiment. Die anerkannte gesellschaftliche Gewalt, nämlich die staatliche Autorität soll es sein, die die Vertrautheit wieder herstellt. Und Sie sehen, in diesem Vorurteil steckt tatsächlich ein Anspruch auf Gewalt und das macht das Ganze so gefährlich. Ein Anspruch auf Gewalt begründet, daß hier eine gesellschaftliche Beziehung gewalttätig werden soll. Es existiert eine Beziehung zwischen dem fremdenfeindlichen Vorurteil und der Gewalt. Das Vorurteil ist deswegen mehr als bloße Meinung. Wenn Sie -nehmen wir mal ein Beispiel - mit jemanden in eine Kneipe stehen und der sagt, die Fremden nehmen uns die Arbeitsplätze weg, und Sie fangen jetzt an zu argumentieren, ganz schnell werden Sie erleben, daß sie vollkommen scheitern mit Ihrer rationalen Argumentation über Arbeitsmarkt und Arbeitskräftestruktur. Da wird der sich nur an die Stirn tippen und sagen, Sie sind ein weltferner Spinner. Weil nämlich dieses Vorurteil einen ganz anderen Gewinn hat, nämlich nicht die rationale Erkenntnis der Gesellschaft, sondern weil es eben die Möglichkeit dieses Ressentiments erlaubt und das ist der zweite Gewinn auf der individuellen Ebene des Vorurteils, daß es nämlich einen Anspruch auf etwas Tabuiertes artikuliert: auf Gewalt gegen andere Personen.

Das Vorurteil erlaubt es, schlecht zu sein und sich gut dabei zu fühlen. Das macht Vorurteile so außerordentlich attraktiv, nämlich, daß sie erlauben, einen ansonsten tabuierten Anspruch auf Gewalt zu artikulieren. Wenn man den gleichzeitig fragen würde, sind Sie für oder gegen Gewalt, dann würde er sagen, ich bin vollkommen gegen Gewalt. Aber in dem Vorurteil äußert sich dieser Anspruch auf Gewalt. Auf der Ebene der psychischen Realität steckt in jedem Vorurteil eine potentielle Gewalt und das ist der Gewinn, man könnte fast sagen, der Lustgewinn, der in jeder Äußerung eines Vorurteils auch drin steckt. Und hier haben wir auch eine Grenze gefunden, die sehr verschiebbar ist zwischen Fremdenfeindlichkeit, Xenophobie und Antisemitismus. Wenn Sie die empirischen Meinungsumfragen über alle westeuropäischen Länder betrachten, finden Sie ein extrem hohes Maß an Fremdenfeindlichkeit. In bloßen Meinungsumfragen finden sie ein relativ hohes Maß an antisemitischen Einstellungen. Die antisemitischen Einstellungen sind verkleidet, treten nicht so offen zutage. Diejenigen, die ganz harte antisemitische Stereotypen äußern, sind relativ selten., d.h. hier gibt es fließende Grenzen. Fremdenhaß und Antisemitismus treten nie isoliert auf. Wo Fremdenhaß ist, ist auch Antisemitismus und wo Antisemitismus ist, ist auch Fremdenhaß.

Tatsächlich ist der Antisemitismus traditionell verbunden mit Fremdenhaß. Denken Sie an die ganzen Vorstellungen, daß die Juden von außerhalb kommen, daß sie kein Anrecht haben, daß sie nicht an diesen jeweiligen Grund und Boden gebunden sind, daß die ganze traditionelle Vorstellung verbunden ist mit den Juden als Fremden auch in einer vertrauten christlichen Umgebung. Aber umgekehrt ist es auch so, daß sich die These tatsächlich aufrechterhalten läßt, nämlich wo Fremdenhaß ist, ist auch Antisemitismus. Der Fremdenhaß deckt die Oberfläche gesellschaftlicher Wahrnehmung ab. Die Fremdheit wird projiziert auf die Fremden. Sie kennen das alle, diese stereotypen Vorurteile, die Fremden sind schmutzig, die Fremden sind sexuell ausschweifend, halten zusammen wie Pech und Schwefel, halten sich nicht an Gesetze. Sie sehen diese Indikationen der eigenen Wünsche, die auf die Fremden projiziert werden. Da haben Sie die beiden Ebenen, zwischen denen sich der Fremdenhaß bewegt und eben eine Connection herstellt: Fremdheit der eigenen gesellschaftlichen Zukunft und Fremdheit der eigenen unbewußten Wünsche.

Nun bezeichnet aber der Antisemitismus in diesem Set von Alltagsreligion etwas Spezifisches. Er ist verbunden mit einer ganz bestimmten Geschichte, mit der Geschichte nämlich der Herausbildung der modernen Gesellschaft, d.h. also dieses ganze Schema des Vorurteils von Fremden wird noch einmal gebunden an die Spezifik der Herausbildung der modernen Gesellschaft, d.h. also dieses ganze Schema des Vorurteils von Fremden wird noch einmal gebunden an die Spezifik der Herausbildung der modernen Gesellschaft. Die moderne Gesellschaft etabliert sich, indem sie auch Tabus etabliert. In der Alltagsreligion drückt sich auch ein Stück Rebellion aus gegen die herrschende Meinung. Aber diese Rebellion ist ambivalenter Natur. Die Rebellion traut sich nicht, das andere auch zu artikulieren. Man weiß, daß der Wunsch nach dem anderen, wenn man ihn artikuliert, auch mit gesellschaftlichen Sanktionen verbunden ist. Das Vorurteil ermöglicht eine Rebellion gegen die offizielle herrschende Meinung und zugleich vermittelt sie ein Gefühl, daß man mit der Mehrheit in Kontakt steht. Es ist also dieses Phänomen einer konformistischen Rebellion, das sich im Vorurteil, in der Alltagsreligion äußert. Also, das was man einmal ein soziologisches Wunder bezeichnet hat, nämlich daß man zugleich Mitglied einer Elite und der Mehrheit ist. Niemand traut sich das zu sagen, aber ich sage es mal, ich spreche es offen aus. Denken Sie an unseren verflossenen Bundespräsidenten, der sagte "in Deutschland kann man doch nicht die Wahrheit sagen", während die "Wahrheit" plötzlich aus ihm herausbricht, eine Wahrheit, die einen ganz konformistischen Gehalt hat, d.h. also auf der einen Seite dieser Gestus der Rebellion, der da drin steckt, und auf der anderen Seite die Sicherheit, daß man zugleich sich in einer gesicherten Mehrheit befindet. In der Alltagsreligion sind die Fremden immer Mehrheit und Minderheit zugleich. Es kommt jeweils auf den Gesichtswinkel an und dadurch ist nämlich genau dieses Vexierspiel möglich, daß man zugleich Mitglied einer Elite ist, wenn man von den Fremden überflutet wird, zugleich sind aber die Fremden nur Minderheit, da kann man sich natürlich auch sicher sein. So werden die Opfer des Vorurteils herausgesucht, ob sie diese Möglichkeit bieten.
Im Antisemitismus wurde die Sache auf die Spitze getrieben, weil hier ein noch ungreifbarer Zusammenhang für das Alltagsbewußtsein scheinbar erklärt wird. Der Antisemitismus verschärft den Fremdenhaß, weil er die verzerrte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität noch einmal verzerrt. Antisemitismus ist die verzerrte Wahrnehmung einer verzerrten Realität. Wenn man sich das klar macht, daß es sich hier um die verzerrte Wahrnehmung jener verzerrten Wahrnehmung handelt, kann man begreifen, warum man mit einer rationalen Argumentation Argumentation überhaupt nichts ausrichtet gegen ein Vorurteil. Einer einfachen verzerrten Wahrnehmung kann ich eine bessere Interpretation der Welt gegenüberstellen und wenn der andere nur eine verzerrte Wahrnehmung hat, wird er sicherlich der besseren Interpretation zustimmen, aber so ist es beim Vorurteil nicht. Sondern hier gibt es keinen Gewinn, der in dieser Verzerrung einer verzerrten Wahrnehmung drinsteckt. Der Antisemitismus interpretiert etwas, was ganz schwer zu begreifen ist, er interpretiert den gesellschaftlichen Beziehungszusammenhang. Der Antisemitismus erlaubt es, von der gesellschaftlichen Realität zu abstrahieren und zugleich gibt er den Antisemiten die Möglichkeit, persönliche Schuldige für diesen Abstraktionszusammenhang herauszufinden. Der Antisemitismus besitzt als Alltagsreligion einen besonderen Wert, weil er etwas Ambivalentes interpretiert, interpretieren kann.

Der Antisemitismus kann den gesellschaftlichen Zusammenhang der Individuen interpretieren - die Tatsache, daß nämlich im Normalprozeß, wie Individuen miteinander verkehren, Fremde miteinander verkehren, Fremde miteinander umgehen, die unterschiedlich bleiben können, obwohl sie etwas Identisches haben. Nun ist es aber so, daß die gesellschaftliche Ohnmacht, die Menschen empfinden, gerade das ist, was für die Menschen schwer erträglich ist, d.h. also, sie müssen jemanden erfinden, der eine gesellschaftliche Macht, über die sie selber wieder eine Macht haben und so suchen sie sich den Privilegierten, den Verwandten zur Macht. Das ist das, was das antisemitische Vorurteil leistet: Einen Privilegierten herauszufinden - das hat nichts damit zu tun, wer real privilegiert ist - sondern das hat etwas damit zu tun, wen man als Privilegierten phantasieren kann.

Mit der Herausbildung der modernen Gesellschaft ist die Veränderung der Beziehung der Menschen zur Autorität verbunden. In der traditionalen agraisch bestimmten - im europäischen Kontext christlichen - Gesellschaft gibt es die persönliche Abhängigkeit, eine Welt von persönlichen Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen. Durch die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft wird dieses traditionelle Verhältnis verwandelt in ein sachlich vermitteltes Verhältnis, nämlich tatsächlich, daß wir uns jetzt nicht über unmittelbare Abhängigkeit aufeinander beziehen, sondern daß wir uns vermittelt über den Markt, also über anonyme gesellschaftliche Verhältnisse aufeinander beziehen.
Nicht nur individualgeschichtlich, auch geschichtlich verarbeiten wir das Moderne mit den Erfahrungen des Vormodernen. Wir verarbeiten nämlich moderne gesellschaftliche Beziehungen mit den Erfahrungen des Vormodernen. Es ist schwer erträglich, sich das klar zu machen, nämlich daß wir uns nur sachlich aufeinander beziehen sollen in der modernen Gesellschaft. Diese Erfahrung, nämlich das Sachliche ist ja das Fremde, das Fremde gegenüber dem Subjekt, dem Subjektiven, - an dieser Stelle versuchen wir etwas Vertrautes einzusetzen. Dieses Vertraute ist wiederum die Beziehung zur Autorität, einer traditionalen Autorität, d.h. individualgeschichtlich gesprochen, zu einer familialen Autorität und diese familiale Autorität liefert das Muster, in der die Alltagsreligionen Gesellschaft interpretieren.

Alltagsreligion interpretiert immer nach diesem traditionellen Muster. Und nun bestätigt sich das Vorurteil, weil die gesellschaftliche Autorität, der Staat, der ja objektiv andere Funktionen hat in der modernen Gesellschaft, nie diesen Erwartungen entspricht. Deswegen äußert sich immer dieses Begehren als Ressentiment wie als Appell gegenüber der Staatsgewalt: Einerseits als Rebellion, der macht ja gar nichts, der Staat, er vertritt ja gar nicht unsere Interessen, dieser Staat, und auf der anderen Seite der Wunsch, daß der Staat diese Interessen vertreten soll. Tatsächlich traut sich die konformistische Rebellion nicht, Staat und Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt ihre Veränderbarkeit zu betrachten, sondern sie artikuliert sich ressentimenthaft. Deswegen muß die Alltagsreligion gleichzeitig jemand designieren, der etwas schwächer ist als der Staat; denn was schwächer ist als der Staat, das kann ich tatsächlich zum Objekt meiner Gewaltphantasie machen. Es sind auf der allgemeinen Ebene die Fremden und auf der spezifischen die Juden, an denen sich Phantasien von Macht und Ohnmacht, Arbeit und Tausch festmachen. Auch dem widerspricht überhaupt nicht, was viele Menschen so verwundert, daß es einen Antisemitismus ohne Juden gibt. Das hat es auch traditionell schon gegeben. Die Verwunderung über dieses Faktum "Antisemitismus ohne Juden" sollte man produktiv wenden. In ihr steckt immer noch die Vorstellung, daß es von der tatsächlichen Zahl, von der tatsächlichen gesellschaftlichen Realität abhängt, ob das Vorurteil sich artikuliert. Es hängt tatsächlich von der gesellschaftlichen Realität ab, aber diese Realität ist eine andere, die nicht mit der Zahl der Fremden oder der Zahl der Juden zusammenhängt, sondern mit dem Grad der Fremdheit zu tun hat, mit der die gesellschaftliche Realität den Einzelnen überfordert.

 


Editorische Anmerkungen

Es handelt sich bei diesem Text um einen Vortrag, gehalten auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Arnoldshain und abgedruckt in: links 4 /91

Die vorliegende Fassung ist eine Spiegelung von
http://www.comlink.de/cl-hh/m.blumentritt/agr60s.htm

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