Kapitalismus und Lebenswelt
Zur Theorie des bürgerlichen Individuums bei Marx  Teil 2

von Günter Jacob
03/05

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Ideale Oberfläche der
bürgerlichen Gesellschaft und realhistorische Analyse
 
Zur Theorie des bürgerlichen Individuums bei Marx  Teil 1

Historische Fakten können nicht umstandslos auf das Kapitalverhältnis bezogen werden, sondern nur in der Vermittlung über dessen gesamte ideale Oberfläche. Es ergibt sich hier also eine weitere Unterscheidung und zwar die zwischen der "Empirie", wie sie aus dem Begriff des Kapitals folgt und der realhistorischen Empirie. Dies jedoch nicht in dem Sinne, daß "die Geschichte" das Kapitalverhältnis "verunreinigt".  

Der jeweilige Kapitalismus entstand "im Schöße" der vorangegangenen Gemeinwesen und ist deshalb tatsächlich auch "Kind" dieser gewesenen Verhältnisse. Das Kapital tendiert dazu, diese Voraussetzungen nach und nach unter seine Logik zu subsummi3ren, aber eben diese bestimmten Voraussetzungen, so daß der Prozeß des Subsummierens ihm dann auch anzusehen ist. Ex-post bezeichnet man solche Prozesse gerne als Modifikationen, wodurch u. U. der Eindruck entsteht, ein fertiger Kapitalismus hätte durch die äußeren Umstände Mutationen erlitten. Eine solche Vorstellung wäre jedoch eine Verwechslung der theoretischen Ableitung dort müssen bestimmte Formen als Modifikation einer zentralen Kategorie begrifflich entwickelt werden mit der wirklichen Geschichte. Konkrete Staatsformen etwa sind deshalb nicht als berechenbare Abweichung von einem theoretisch konstruierten bürgerlichen Idealstaat zu behandeln, sondern haben Gegenstand historischer Analyse zu sein. Nichtsdestoweniger läßt sich an dem Material dieser Analyse ebenso eine Unterscheidung treffen wie beim Kapitalverhältnis, d. h. "der bürgerliche Staat im allgemeinen" kann nach dem Detailstudium wissenschaftlich begrifflich entwickelt, d.h. "abgeleitet" werden.  

Auf einige Aspekte des Zusammenhangs zwischen Logik und Historie soll noch hingewiesen werden: Es gibt viele Versuche, die gegenwärtigen Zustände mit dominierenden Strukturmerkmalen in Verbindung zu bringen.  

Vom "Maschinenzeitalter" über die "Bildungsgesellschaft" bis zur "Kommunikationsgesellschaft" waren und sind verschiedene Bezeichnungen im Umlauf, von denen es heißt, sie würden die gegenwärtige Gesellschaft wesentlich charakterisieren. Wie schon gezeigt, hat Marx in der Art und Weise der Produktion und Aneignung des Mehrprodukts ein Kriterium zur Abgrenzung verschiedener gesellschaftlicher Verhältnisse gefunden.  

Die materielle Existenzbedingung aller nicht unmittelbar in der Produktion von Gebrauchswerten absorbierten Individuen ist die im Mehrprodukt materialisierte und sowohl durch das Entwicklungsniveau der Produktivkräfte als auch durch gesellschaftliche Auseinandersetzungen bestimmte Mehrarbeitszeit der unmittelbaren Produzenten. Auf ihrer Überarbeitszeit und auf dem von ihnen so geschaffenen Überschuß der Produktion beruht die ganze übrige Gesellschaftskonstruktion, d. h. sowohl der Umfang der Arbeit, die sich nicht mit Kapital, sondern mit Revenuen tauscht (die abgeleiteten Einkommen) als auch die Macht des Kapitals. Alle Entwicklung menschlicher Fähigkeiten und Potenzen (Kunst, Wissenschaft), alle Staatstätigkeit, alle Leitungstätigkeit usw. ist Anwendung freier Zeit.  

In diesem Sinne existiert ein Primat der "Ökonomie", verstanden als eine Gesamtheit aus Entwicklungsniveau der Produktivkräfte und der damit korrespondierenden Hauptlinien der sozialen Beziehungen -, gegenüber dem "Überbau" verstanden als die Art und Weise, in der sich die Menschen über ihre Beziehungen Rechenschaft ablegen, d. h. mit ihnen praktisch (Handlungen, Institutionen etc.) wie theoretisch umgehen. Es versteht sich von selbst, daß hierzu auch diejenigen Momente gehören, die nicht auf den Kapitalismus zurückzuführen sind, schon vorher existierten und daher als "in ihn eingebaut" erscheinen.  

Gerade deshalb stellt sich der real existierende Kapitalismus in "unendlichen Variationen und Abstufungen" dar. Auf derselben ökonomischen Basis derselben "den Hauptbedingungen nach" existieren zahllose "verschiedene Umstände, Naturbedingungen, Racenverhältnisse, von außen wirkende geschichtliche Einflüsse, usw. (...) die nur (!) durch Analyse dieser empirisch gegebenen Umstände zu begreifen sind. (12) Die Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft entfaltet sich also als historischer Prozeß. In der theoretischen Analyse erscheint dies, wie bereits erwähnt, als "Modifikation" der Natur des Kapitals (13). Praktisch zeigt sich dieser Zusammenhang als gesellschaftliche Auseinandersetzung und darin ist der Klassenkampf nur ein wenn auch wichtiger Aspekt. So wirkt beispielsweise die "Natur des Kapitals" (konkret: der Kapitalist oder sein Manager) dahin, die Konstruktionsmerkmale der Maschinerie so zu gestalten, daß die Conti-Schicht als "Sachzwang" erscheint. Ob es jedoch zur Nachtarbeit kommt, das hängt vom "Klassenkampf" ab, der seinerseits z. B. von moralischen Auffassungen oder von zur Institution gewordener Moral etc. reguliert wird (etwa bestimmte Vorstellungen einer "heilen Familie" und deren Institutionalisierung) (14).  

Weil das Kapital auch ein Herrschaftsverhältnis ist und weil Herrschaft national organisiert ist, "verbindet" sich der entstehende Kapitalismus mit den bestehenden Mächten und zieht etwa aus vorgefundenem Rassismus oder aus der Unterdrückung von Frauen^jederzeit seine Vorteile, obwohl die theoretische Analyse eindeutig zeigt, daß das Kapital darauf "nicht angewiesen" ist, daß seinem Begriff vielmehr die Gleichgültigkeit gegenüber Herkunft, Rasse und Geschlecht entspricht, so daß man sagen kann, daß selbst der Ruf der Diskriminierten nach der vorenthaltenen Chancengleichheit (idealisierte Konkurrenz) innerhalb der Logik des Kapitals verbleibt. Die realhistorische Empirie erschließt sich durch die Detailanalyse aller (gewordenen) gegebenen Umstände, jedoch es geht hier um Probleme marxistischer Theoriebitdung nachdem die ökonomische Basis bereits als spezifisch kapitalistische erkannt ist, weswegen die nun folgenden soziologischen, psychologischen, politologischen usw. Detailuntersuchungen auch materialistisch genannt werden können. Jetzt kann bei solchen Untersuchungen davon ausgegangen werden, daß es sich bei den sehr gegensätzlichen Gegenständen der Forschung um Erscheinungsformen bzw. um "Modifikationen" von etwas handeln muß. Über den verborgenen inneren Zusammenhang gibt es nun eine Theorie, die sich nun allerdings ihrerseits in der weiteren Ableitung bewähren muß, denn diese Theorie kann nur Bestand haben, wenn sich die selbstständig und für sich zu analysierenden Erscheinungen mittelbar (nicht direkt!) auf sie zurückführen lassen. Wenn dies gelingt, dann erweisen sich die "untersten" Kategorien, sowohl die der "Wesensebene" (etwa "Mehrwert") als auch die der idealen Oberfläche(n) (etwa: "Durchschnittsprofit" oder "Umwandlung des Profits in Zins und Unternehmergewinn") als wirklich existierende Momente der Empirie.  

Es wurde oben ausgeführt, daß sich die immanenten Gesetze des Kapitals hinter dem Rücken der Produzenten durchsetzen, daß also die Individuen, indem sie ihre Zwecke verfolgen (z.B. ein hohes Einkommen erzielen, "glücklich" sein, etc.), eine bestimmte "Gesellschaftsstruktur" mit spezifischen "Eigenschaften" reproduzieren. Alle verfolgen ihre je besonderen Interessen, aber weil diese Interessen selbst schon gesellschaftlich bestimmt sind, d.h. nur innerhalb der von der Gesellschaft gesetzten Bedingungen und mit den von ihr gegebenen Mitteln erreicht werden können, reproduzieren sie den gesellschaftlichen Zusammenhang, der sich letzlich im Tauschwert ihres Produkts bzw. im Geld ausdrückt (15). Was ist es nun genau, was die bürgerlichen Individuen reproduzieren? Zum einen zweifellos die "Kernstruktur" der kapitalistischen Produktionsweise: sie produzieren Waren, eine Waren- und Geldzirkulation und damit die Vorraussetzung von Kapital. Sie produzieren desweiteren Mehrwert und Arbeitslöhne und somit die Voraussetzung der Kapitalakkumulation usw., und sie tun all dies, indem sie miteinander konkurrieren.  

Nun ist ja nicht zu übersehen, daß die wirkliche Welt mit diesen wenigen Bestimmungen noch nicht erfaßt ist, denn es gibt darüber hinaus z. B. Staaten mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen, es gibt Wissenschaften, Religionen, Traditionen, eine Kultur und über alles auch noch äußerst gegensätzliche Auffassungen. Es entsteht somit die Frage, auf welche Weise solche Institutionen, Denkformen etc. immer wieder erneuert werden, denn nur was täglich erneuert wird, kann Bestand haben. Die Individuen vollstrecken mit ihrem Tun auf jeden Fall mehr als die Gesetze des Kapitals und dieses "Mehr" ist wiederum Gegenstand ihres praktischen Handelns und somit ihres Bewußtseins. Wie sie die "Kernstruktur" reproduzieren und in welcher Weise diese dann an der Oberfläche erscheint, das ist bei Marx nachzulesen. Wie die darüber hinaus existierenden Formen mit dieser Kernstruktur zusammenhängen, das hat Marx teilweise selbst gezeigt und dort, wo er das nicht konnte, hat er wichtige Hinweise über Charakter und Richtung der Analyse gegeben.  

Hierbei hob Marx hervor, daß nicht alle Momente der Realität bloße Durchsetzungsformen der Logik des Kapitals sind, insbesondere wegen der "von außen wirkenden geschichtlichen Einflüsse", aber auch wegen verschiedenen Naturbedingungen, Rassenverhältnissen etc. Damit nicht genug: die Menschen haben Bewußtsein und Versland, somit einen Willen, machen sich Bilder von den Verhältnissen und ihrer eigenen Stellung darin, fechten mit diesen Bildern im Kopf ihre Gegensätze aus, deren Resultate selbst wieder "geschichtsmächtig" werden, weil sie sich in Institutionen, in der Gestalt der Maschinerie, in Normen etc. materialisieren, in Zuständen also, die nun ihrerseits wieder je nachdem zu Schranken oder Förderern des Kapitals werden, die dessen konkrete Entwicklung immerhin "modifizieren". Akzeptiert man diese Feststellungen, so läßt sich auch sagen, daß damit der Wissenschaft eine Hierarchie aufgezwungen ist. Aus dem Nachweis, daß es sich bei dieser Gesellschaft um eine Formation handelt, die Resultat (und Voraussetzung!) der kapitalistischen Produktionsweise ist, in der daher, das Kapitalverhältnis (Lohnarbeit und Kapital" mit allen bereits erwähnten Implikationen) das grundlegende Verhältnis ist, zudem alle anderen Verhältnisse entweder in einer "abgeleiteten" (16) oder subsummierenden oder es selbst modifizierenden Beziehung stehen, aus diesem Nachweis also folgt eine spezifische Gliederung der damit befaßten Sozialwissenschaft: Erstens werden die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen einer Ableitung aus der Logik des Kapitals sichtbar.  

Abgeleitet werden können etwa die Revenuen aus unproduktiver Arbeit, d. h. die ökonomische Basis der objektiv existierenden Hauptund Mittelklassen. Abgeleitet werden können auch das Kreditsystem und die Aktiengesellschaften und noch vieles mehr und wohlgemerkt immer im "idealen Durchschnitt". Nicht mehr ableitbar, aber ohne diese Ableitung auch nicht verständlich, ist das wirkliche Einkommen des konkreten Einzelhandelskaufmannes, das im Austausch mit Revenuen aus Lohn und Kapital in bestimmten Proportionen entsteht, die ihrerseits aber in ihrer konkreten Gestalt durch vielfältige Momente bestimmt sind und zwar nicht nur durch Verteilungskämpfe, sondern eben auch durch "historische" Momente, Moral usw. bis hin vielleicht zum "Ost-West Konflikt."  

Damit sind zweitens die Betätigungsfelder der Geschichtswissenschaft, der Psychologie usw. sowie der jeweiligen Teildisziplinen wie etwa der Technikgeschichte, der Erforschung von Lebensstilen etc. gegeben, die ihrerseits alle auf die "Kernstruktur" bewußt (und nicht reduktionistisch) Bezug zu nehmen haben, wollen sie nicht ahistorisch und ungesellschaftlich in purer Deskription versinken.  

Anmerkungen:

(12)Marx1974b,S.800.
(13) Historische Bestimmungen finden sich auch in den Kategorien selbst, z.B. in der Kategorie "Arbeit", vgl. Marx 1974a, S. 24f.
(14) zur "moralischen Ökonomie" vgl. Thompson 1980.
(15) vgl. Marx 1974a, S. 374.
(16) vgl. Marx 1974bll, S. 372.

Editorische Anmerkungen

Der vorliegende Text erschien in der Hannoveranischen Zeitschrift SPEZIAL links & radikal, Nr. 89, 1993, S. 28ff, OCR-Scan by red. trend

Der für die SPEZIAL gekürzte Text von Günter Jacob wurde unter dem Titel "Kapitalismus und Lebenswelt" in der Nr.3 der linken Zeitschrift "17 Grad Celsius" abgedruckt. Vorher ist bereits eine (andere) Kurzfassung unter dem Titel "Persönliches Pech" in "Spex" 3/89 erschienen, die vom "ak", der "Volkszeitung" und in dem Buch "Die Radikale Linke" (Konkret-Veriag) nachgedruckt wurde.