Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
03/05

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VII. ZEITALTER NAPOLEONS UND DER RESTAURATION

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1. Krieg, Weltpolitik und Handelsspekulation.

Nach der Hinrichtung Babeufs und Darthes sowie der Verbannung Buonarrotis und Genossen verschwand die französische Sozialrevolutionäre Bewegung auf drei Jahrzehnte von der Bildfläche. Das Direktorium hielt alle Opposition nieder und bereitete den Weg zur Herrschaft Napoleons. 1799 wurde es von ihm gestürzt und 1804 erhielt er die Kaiserwürde. Die Franzosen genossen die Gleichheit — die Gleichheit vor dem Despotismus, der aber ihre Phantasie mit Kriegen und Siegen füllte und ihre Taschen mit den klingenden und papiernen Ergebnissen des Handels, der Kriegslieferungen und Kriegsindustrie. Für Händler, Spekulanten, Wucherer und Börsenmänner waren die Jahre der Revolution und der Napoleonischen Kriege sehr einträglich und bewegt. Aufkauf der beschlagnahmten Kirchen- und Emigrantengüter, Preissteigerungen der Kornfrüchte, kapitalistische Monopolisierung der heimischen und überseeischen Rohstoffe, insbesondere infolge der Blockade der französischen Häfen durch die englische Flotte, machten den Aufstieg Napoleon Bonapartes auch zu einem Aufstieg der französischen Bourgeoisie.

Die Weltpolitik verdrängte alle innerpolitischen und konstitutionellen Fragen; eifrig forschte man nach den geographischen Bedingungen der weltpolitischen Erfolge, des wirtschaftlichen Aufschwungs und der kriegerischen Verwicklungen, nach der Bedeutung der Seemacht usw. Schon in Fichtes „Geschlossenem Handelsstaat" finden sich darüber beachtenswerte Bemerkungen, die den Gegensatz zwischen England und Frankreich auf die insulare Lage des ersteren zurückführen (1). Noch merkwürdiger sind die Beobachtungen Charles Fouriers, der u. a. aus der insularen Lage Japans schließt, daß diesem Reiche eine große maritime und wirtschaftliche Rolle bevorsteht und in ihm den zukünftigen Konkurrenten Rußlands in bezug auf China erblickt (2). Fourier schildert auch als Kaufmann und Augenzeuge die wilden Orgien der schwindelhaften Spekulationen, der räuberischen Preispolitik, die Börsenmanöver der Finanzleute und Händler während jener Periode. Falsche Kriegsnachrichten bildeten die Mittel zur Baisse und Hausse (Senkung und Steigerung) der Kurse der französischen Kreditpapiere (A.a. 0. S.347).

Die französische Bourgeoisie bereicherte sich und vergaß die Revolutionskämpfe und Konstitutionen, solange Napoleons Stern ungetrübt glänzte, das heißt bis ungefähr 1811.

2. Charles Fourier. 

Das geistige Produkt dieser außerordentlich bewegten Zeit (1792—181 o) ist — auf sozialem Gebiete  — Charles Fourier (1772—1837), ein Mann, der eine ' ausschweifende Phantasie, maßlosen Optimismus und wahnsinnige Überhebung mit scharfem Verstande, durchdringender Beobachtungsgabe und großem Freimut verband. Ein ganz unausgeglichener Charakter. Ursprünglich Kaufmann und Ladengehilfe, wurde er während seines Aufenthalts im Industriezentrum von Lyon durch die scharfe Konkurrenz und die Zersplitterung des Wirtschaftslebens, die den Untergang vieler kleiner Existenzen — darunter auch seiner eigenen — verursachten, sozialkritisch angeregt, während die von L' Ange (Lange) damals veröffentlichten Assoziationspläne ihm den Ausweg aus dem Chaos zu zeigen schienen. Hier haben wir bereits den ganzen Fourier: sozialkritisch gegen Konkurrenz und Zersplitterung; sozialpositiv für Assoziation durch genossenschaftliche Aktienunternehmungen. Seine Gedanken legte er in seinem angeblich in Leipzig gedruckten und 1808 erschienenen Werke „Quatre Mouvements" nieder. Das ist sein Hauptwerk. Was er nachher geschrieben, ist s nur Erweiterung und Kommentar. Folgende Grundgedanken durchziehen seine ganze Lebensarbeit: 1. die menschlichen Triebe und Leidenschaften sind sämtlich gut, die, bei richtigem Spielraum, zur Glückseligkeit führen würden: die Aufgabe ist, durch passende soziale Einrichtungen ihnen diesen Spielraum zu gewähren; 2. der Handel ist moralisch und materiell verderblich und korrumpiert die menschlichen Anlagen: er ist die schmutzige Seele der Zivilisation, die ihrem Ende entgegengeht und durch die assoziierte, genossenschaftliche Wirtschafts- und Lebensweise ersetzt werden wird; 3. die Ehe ist allgemeine Heuchelei und schließt die Sklaverei der Frau ein; sie muß durch die freie Liebe ersetzt werden; 4. die Zivilisation, die gegenwärtige Stufe der Menschheitsgeschichte, ist voll Übel; sie schafft jedoch die Kräfte zur Erhebung der Menschheit auf die Stufe der Assoziation und Harmonie, wo die menschlichen Triebe den ihnen angemessenen Spielraum finden, Reichtum, Annehmlichkeiten und Frieden schaffen werden.

Fourier trat mit dem Anspruch auf, endlich hinter die Geheimnisse der göttlichen Schöpfung und der Natur gekommen zu sein. Was Kolumbus, Kopernikus und Newton für die Erkenntnis der materiellen Welt geleistet, das leiste er für die Erkenntnis der Bewegungsgesetze der organischen und sozialen Welt. Er hält seine „Erfindung" für wichtiger „als alle wissenschaftlichen Arbeiten seit der Entstehung des Menschengeschlechts" (Introduktion). „Soll man darüber trauern" — fragt er —, „daß die Plato und Seneca, die Rousseau und Voltaire und sämtliche Wortführer der alten und modernen Ungewißheiten — soweit ihre Werke sich mit Politik und Moralphilosophie beschäftigen — im Flusse der Vergessenheit untergehen werden?" (S. 26.) Die Philosophen fragt er, wozu ihre Ideologie denn tauge: „Ich, der den ganzen Mechanismus der Ideen ignoriere und weder Locke noch Condillac gelesen, — hatte ich nicht Ideen genug, um das ganze System der allgemeinen Bewegung zu entdecken, wovon ihr nur den vierten, d. i. den materiellen Teil entdeckt habt? Und dies obendrein nach 2500 Jahrhunderten wissenschaftlicher Anstrengungen!... Mir allein werden die gegenwärtigen und künftigen Generationen die Initiative ihrer immensen Glückseligkeit verdanken ... Als Besitzer des Buches der Bestimmungen zerstreute ich die politischen und moralphilosophischen Nebel, und auf den Trümmern der unsicheren Wissenschaften er-

baute ich die Theorie der allgemeinen Harmonie." (S. 268). Der Anfang dieser neuen Wahrheiten war das Nachdenken über eine „Association agricole" (landwirtschaftliche Genossenschaft), die, wie oben gezeigt, von L'Ange (Lange) 1793 vorgeschlagen wurde. Von diesen Gedanken ausgehend, glaubt Fourier das ganze mathematische Geheimnis der menschlichen Bestimmungen entdeckt zu haben. Die Erlösung der Menschheit hängt ab vom Übergange zur Assoziation, zur Genossenschaftlichkeit. Und dieser Übergang werde sich bald vollziehen: „Wir werden Augenzeugen eines Schauspiels sein, wie man es nicht zweimal auf dieser Erdkugel sehen kann: des plötzlichen Übergangs von der Zusammenhanglosigkeit zur gesellschaftlichen Kombination; es ist die glänzendste Wirkung der Bewegung, die im Weltall vollzogen werden kann; sein Erwarten müßte die gegenwärtige Generation entlohnen für alle ihre Unglücksfälle. Jedes Jahr, das während dieser Metamorphose verstreicht, wird Jahrhunderte wert sein." (S. 30—31.)

Doch genug der Zitate. Sie dürften bereits unsere Charakteristik der Unausgeglichenheit des Geistes Fouriers vollauf rechtfertigen. Gehen wir zu seinen Lehren über.

Fouriers Naturanschauung ist die des 17. und 18. Jahrhunderts. Alle Erscheinungen sind ihm mathematisch sich vollziehende Bewegungen. Dieser Bewegungen — sagt er — gibt es vier: soziale, animalische, organische und materielle. Das Gesetz der materiellen Bewegung hat Newton entdeckt. Es ist das Gravitationsgesetz. Es gilt nunmehr das soziale Bewegungsgesetz zu entdecken. Im Gesellschaftsleben bergen die Triebe oder Passionen das Bewegungsgesetz. Die Triebe sind auf bestimmte Ziele gerichtet, die die „destinees sociales" (gesellschaftliches Schicksal) sind. Erhalten unsere Triebe das richtige Milieu, so dürfen wir ohne weiteres ihnen folgen, denn in ihrem Auswirken, in der „attraction passionee" (triebhaften Anziehung), wie Fourier immer wieder hervorhebt, werden wir unsere Bestimmung und die volle Befriedigung unserer höchsten Wünsche finden. Höchst verderblich war deshalb die Lehre der Moralisten und Philosophen von der Notwendigkeit der Niederhaltung unserer Triebe und Leidenschaften; diese Lehren haben ja auch nichts genützt: sie blieben wirkungslos und hatten nur zum Ergebnis, daß ganze Bibliotheken entstanden, die nur Makulatur sind. An die Stelle der Moralisten traten die Ökonomisten, die den Handel förderten, also nur dem Schwindel, dem Preiswucher, den Bankrotteuren und Börsenmanövem Vorschub leisteten und eine totale Demoralisation und viel Unglück hervorriefen.

Es gibt drei Herde oder Anziehungsziele, zu denen die menschlichen Passionen hinstreben: 1. Sinnliche (5 Sinne); 2. Geistig leidenschaftliche (Freundschaft, Verehrung, Liebe, Familiensinn); 3. Verfeinerte Leidenschaften (Wetteifer, Abwechslung oder Liebe zu Neuerungen, Zusammenfassung der Kräfte).

Die erste Gruppe hat also fünf Triebe, die zweite Gruppe hat vier, die dritte hat drei, — zusammen zwölf. Diese sind wie zwölf Nadeln, die die Seele nach den drei Herden oder Anziehungszielen treiben. Am wichtigsten ist Gruppe 3, denn diese strebt nach allgemeiner und sozialer Einheit. Aber nur, wenn sie sich nicht individuell, sondern in Gruppenorganisationen, in Genossenschaften äußern und dort freien Spielraum genießen. (S. 113 ff.)

Aus der Mischung der zwölf Triebe entstehen die verschiedensten Charaktere. Aus einer Kombination der zwölf Triebe ergeben sich etwa 800 verschiedene Charaktere, so daß man in einer Vereinigung von 800 Menschen die Keime aller Vervollkommnung finden kann; und wenn man diese Menschen von Kindheit auf richtig erzieht, kann man unter ihnen die größten Talente entfalten: Männer wie Homer, Cäsar, Newton usw. „Teilt man z. B. die französische Bevölkerung, die 36 Millionen zählt, durch 800, so wird man finden, daß sich unter ihr 45000 Individuen befinden, die fähig sind, einem Homer, Demosthenes, Moliere usw. gleichzukommen." (S. 116—117.) Dies jedoch unter der Voraussetzung, daß diese Triebe und Talente in genossenschaftlicher Lebensordnung und nach Fourierscher Idee entfaltet werden.

Und diese Neuordnung der Menschheit kommt. Die Stufe der Assoziation folgt auf die Stufe der Zivilisation, die jetzt sichtbar zu Ende geht. Die Menschheit hat bis jetzt folgende Stufen durchgemacht: 1. Naturzustand: paradiesisches Zeitalter im Garten Eden, oder Edenismus, wo Freiheit und Gleichheit herrschten, Überfülle an Früchten, Fischen und Wild vorhanden war; die Menschen in jeder Beziehung gemeinschaftlich in Gruppen lebten; Individualismus , und Einehe unbekannt waren. 2. Wildheit: infolge '' Vermehrung des Menschengeschlechts und des Mangels an bewußt-vernünftiger, planvoller Vereinigungen entstand Mangel an Lebensmitteln, worauf Zwist, Angriffe, Beraubungen eintraten. 3. Patriarchat: die Starken und Brutalen warfen sich zu Herren der Familien auf, erniedrigten die Frau, führten ausschließliches Eigentum ein, wie man dies bei allen Völkern sehen kann, die in patriarchalischer Ordnung lebten oder noch leben: so in biblischer Zeit bei den Juden, ferner in China, und in anderen Teilen Asiens. 4. Barbarei: das ist das Mittelalter, wo der Feudalismus sich entwickelte, der nur das Gute hatte, daß manche Frauen geehrt wurden, im übrigen aber entstanden unter dem Feudalismus die Keime der Zivilisation: Handel und Gewerbe. 5. Zivilisation: vollständige Zusammenhanglosigkeit und Atomisierung der Menschen, die einander als Feinde betrachten und sich demgemäß behandeln. Vollständiger Mangel an Organisation; der Handelsgeist vernichtet alle höheren Empfindungen; Menschlichkeit, Vaterland, Gerechtigkeit, Gegenseitigkeit verschwinden. Kornwucher, Hausse und Baisse, Konjunktur, Hinterlist, Prellerei, Heuchelei, Bereicherung der Reichen, Verarmung der Armen, Verachtung der Nichtbesitzenden, Konkurrenz, Zersplitterung, wirtschaftliche Anarchie, Verschwinden des Familiensinns: Sohn kämpft gegen Vater, Arbeiter gegen Unternehmer, Kapital unterdrückt die Arbeit, Beherrschung der Regierung durch die Reichen, Rebellionen und Revolutionen der Verzweifelten, — das sind die Kennzeichen der Zivilisation. Besonders leidet darunter die Frau; sie wird gekauft und verkauft, denn die Ehe ist nichts anderes als ein Kauf von Mädchen, die von Jugend auf dazu abgerichtet werden, sich einen Käufer zu verschaffen; aber der Geschlechtstrieb läßt sich nicht unterdrücken: die „honetten" Frauen haben ihre Hausfreunde, die Männer ihre Mätressen; Hahnrei und Prostitution sind die unvermeidlichen Begleiterscheinungen der Einehe-Heuchelei. Die Zivilisation hat jedoch Gutes geschaffen: sie förderte Wissenschaft und Technik, zeigte die Möglichkeit zur Erhöhung der Produktivität und gab den reichen Unternehmern die Gelegenheit, Landwirtschaft und Manufaktur rationelleren Betriebsformen zu unterwerfen. Es bereitet sich ein kommerzieller und gewerblicher Feudalismus vor. Eine geringe Anzahl von Reichen wird die wirtschaftlichen Kräfte des Landes leiten, oder der Staat wird umfassende landwirtschaftliche Betriebe schaffen, wo eine gewisse Organisation und Zusammenfassung Platz greifen und den Arbeitern eine Existenz garantieren wird. Auf die Zivilisation folgt demgemäß die 6. Stufe, die Fourier Garantismus nennt — eine Art sozialpolitische Periode als Übergang vom Individualismus zur 7. Stufe: zum Sozialismus— Fourier nennt dies Soziantismus (Nouveau monde 1829, S. XI) —, der zur vollen Harmonie und zur Glückseligkeit führen wird. Die Menschen werden sodann in Phalansterien: in genossenschaftlich betriebenen großen Hotels wohnen und genossenschaftlich in Gruppen von 1600 bis 1800 Personen (zweimal 800 und etwas darüber, um die beste Charaktermischung zu erhalten) arbeiten, wo die drei „verfeinerten Leidenschaften" (Wetteifer, Abwechslung und Konzentration der Kräfte) freien Spielraum haben werden. Der Vergleich dieser von Fourier aufgestellten Stufen der menschlichen Entwicklung mit denen von Engels-Morgan zeigt, wie weit dieser Utopist bereits Erkenntnisse der späteren Forschung vorwegnimmt, wieviel ihn aber auch von der dialektischen Methode des historischen Materialismus trennt.

Von einer Sozialisierung der Produktionsmittel weiß Fourier nichts und will auch nichts wissen; die Phalansterien werden freie Vereinigungen von Kapitalisten, Arbeitern und Verwaltungstalenten sein, und das Produkt der Arbeit wird folgendermaßen geteilt: die Arbeiter erhalten 5/12, das Kapital 4/12, die Verwaltung 3/12.

Freie Liebe, Erziehung der Kinder auf Kosten der Gruppe, sieben Mahlzeiten täglich, Oper und Drama, Frohsinn und Lebenslust, — all das wird das Phalansterium möglich machen, so daß die Menschen sich ertüchtigen, ein durchschnittliches Lebensalter von 144 Jahren und eine Körpergröße von sieben Fuß erreichen werden (Quatre Mouvements, 8.251).

Fourier war politisch indifferent, haßte die Revolution und die Juden, verehrte Napoleon und war immer auf der Suche nach einem großen, reichen, guten Manne, der seine Pläne m Angriff nehmen sollte. Seine Schriften sind nur stellenweise lesbar. - Die beste Darstellung des Fourierismus gab Victor Considerant in seinem Buche „Destinee sociale", das 1837, im Todesjahre Fouriers, erschien und dem König „Louis Philippe, dem Herrscher und größten Eigentümer Frankreichs", gewidmet ist. Das Buch enthält jedoch mehr als den Fourierismus: es ist ein sehr wichtiges Dokument der sozialkritischen Arbeit, die in Frankreich bis zum Eintreffen Marxens in Paris (1843) geleistet wurde. Ich gebe hieraus folgende zwei Stellen: „Wir sind daran", sagt Abel Transon, ein Anhänger Saint-Simons und Fouriers, „England als Muster zu betrachten. Aber was sagt uns die Wissenschaft? Sie sagt uns, daß diese riesenhafte Industrie zum Grundsatz hat, den Grund und Boden und die Kapitalien in immer weniger Hände zu konzentrieren. Und was sagt uns die Erfahrung? Sie schreit euch zu: das Ergebnis all dieser Wunder ist die Unterdrückung der unteren Klassen, die Herstellung eines industriellen Feudalismus, der noch hassenswerter und schamloser ist als der Feudalismus des Mittelalters“ (3) (Considerant, Destinee sociale, S. 223). Das andere Zitat lautet: „Der Ökonomismus ist im Begriff, den liberalen Geist zu töten durch die Politik der Interessen, die den liberalen Geist als Fopperei und Narretei brandmarkt, ebenso wie einst der Geist der Ritterlichkeit durch den Liberalismus getötet wurde und ihn als Donquichoterie lächerlich machte" (a. a. 0. S. 200). Wer Marx' „Heilige Familie" kennt, wird den französischen Einfluß bald bemerken.

3. Saint-Simon. 

Man muß zwischen Saint-Simon und den Saint-Simonisten ebenso streng unterscheiden wie zwischen Kant und den Neukantianern. Saint-Simon war ebenso wenig Sozialist wie Kant (4); vielmehr gehörten beide der liberalen Gedankenwelt an; Kant war ein philosophischer Liberaler, Saint-Simon ein ökonomischer Liberaler; beide betrachteten die Religion als die Lehre von der praktischen Ethik.

Erst die jüngere Generation der Anhänger Saint-Simons, die mit der Assoziationstheorie Fouriers, mit den englischen Arbeiterkämpfen und sozialen Lehren (1810—1826) und mit den sozialdemokratischen Ideen Buonarrotis (1828) bekannt wurden, begannen Seit 1829 — vier Jahre nach dem Tode ihres Meisters — den ihnen hinterlassenen Gedanken eine sozial reformatorische Tendenz zu geben, ebenso wie die Neukantianer, die den modernen Sozialismus kennen gelernt haben, ihren Meister in engste Verbindung mit dem Marxismus zu bringen bestrebt sind.

Graf Henri de Saint Simon war Abkömmling einer hohen Adelsfamilie Frankreichs; er war ein Verwandter des berühmten Memoirenschriftstellers Herzog von Saint-Simon (unter Ludwig XIV.) und führte seinen Stammbaum auf Karl den Großen zurück. Seine Erziehung war seinem Stande angemessen:

höfisch und militärisch. Als junger Offizier focht er an der Seite Lafayettes im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen England und lernte dort das rein bürgerliche Wesen der Vereinigten Staaten bewundern. Er hatte schon damals Pläne für den Bau des Panamakanals, wie er überhaupt für bürgerlich-industrielle und kommerzielle Probleme sehr empfänglich war. Nach Frankreich zurückgekehrt, nahm er an der Revolution keinen Anteil, sondern benutzte die Konjunktur, um beschlagnahmte Güter aufzukaufen und zu verkaufen und soviel Geld zu erwerben (140000 Franken), um ihn zu befähigen, die Lücken seines Wissens auszufüllen und aller Genüsse teilhaftig zu werden, die ihm das Leben bieten konnte. Bald war das Geld auf aristokratisch-intellektuelle Weise verjubelt, Saint-Simon lebte dann kümmerlich und oft in große Not, bis der jüdische Bankier Rodrigues und dessen Freunde ihm die Mittel gewährten, den Lebensabend sorgenlos zu verbringen. Er entwickelte in den Jahren 1802—1825 eine lebhafte schriftstellerische Tätigkeit. Seine Ideen entsprangen bürgerlichindustriellen Interessen und seinen persönlich humanitären Neigungen. Ein Blick auf die damaligen Zustände zeigt dies deutlich:

Die während der Revolution und der hierauf folgenden Kriege reich gewordene Bourgeoisie duldete still den Napoleonischen Despotismus, solange der Sieg ihn mit einem Glorienschein umgab. Nach der Katastrophe von Moskau und Leipzig (1812 und 1813) brach sie in Opposition aus, und als Napoleon von Elba nach Paris zurückkehrte, fand er eine starke konstitutionelle Bewegung vor, der er Konzessionen machen mußte. Nach seiner endgültigen Niederlage (1815) kamen die Bourbonen (Ludwig XVIII., i8i4bis 1824, und Karl X., 1824—1830) wieder zur Macht, ignorierten alle Lehren der Revolution, führten Adel und Geistlichkeit an ihre alten Stellungen zurück, worauf die Bourgeoisie rebellisch wurde; wirtschaftlich war sie viel stärker als ihre Vorgänger von 1789, denn inzwischen hatten Technik und Industrie erhebliche Fortschritte gemacht, so daß ihre Träger sich mehr denn je als die eigentliche Macht im Staate fühlten, aber von den Bourbonen zur politischen Einflußlosigkeit verurteilt waren. Eine rebellische Bourgeoisie sucht immer die Teilnahme der unteren Volksmassen und hält sich für die Vertreterin des Volkes gegenüber Königtum und Reaktion. Auf Saint-Simon und seine „religiös sozialistischen" Nachfolger, vor allem Lamennair, hat Marx im Kommunistischen Manifest das Wort geprägt, das wir bereits zitiert haben.

Das geistige Produkt dieser Zustände waren Saint-Simon (1760—1825) und noch mehr die Saint-Simonisten, denn letztere traten auf am Vorabend der Julirevolution (1830), als die bürgerlichen Kreise in scharfer Opposition gegen die Bourbonen sich befanden, während Saint-Simon nur Augenzeuge der ersten Anfänge dieser Rebellion war und für eine Aussöhnung zwischen Königtum und Bourgeoisie gewirkt hatte.

Der Kern der Lehre Saint-Simons besteht in dem Gedanken, daß es die vornehmste Aufgabe der Gesellschaft sein muß, die Produktion des Reichtums zu fördern, daß deshalb die Industriellen (die Fabrikanten, Techniker, Gutspächter, Handwerker, Bankiers, Kaufleute) einen wichtigeren Faktor in der Gesellschaft bilden als Adel und Geistlichkeit, daß deshalb die bürgerlichen Kapazitäten die Verwaltung des Landes übernehmen müßten. „Nicht die politische Verfassung, sondern das Eigentumsrecht hat den größeren Einfluß auf das Wohlergehen der Gesellschaft. Das Recht auf Eigentum muß so gestaltet sein, daß es dessen Besitzer anspornt, die Produktion möglichst zu fördern... Das Recht auf Eigentum sollte begründet sein auf dem Wachsen des Reichtums und der Freiheiten der Industrie... Das Gesetz, das das Eigentum begründet, ist das wichtigste von allen; dieses ist es, das als Basis des gesellschaftlichen Baues dient. Das Gesetz aber, das die Teilung der Gewalten festlegt und deren Gebrauch regelt (d. h. die Verfassung), ist nur ein sekundäres Gesetz" (Saint-Simon, Oeuvres, herausgegeben von Rodrigues, Paris 1841, erster Teil, S. 248, 257, 259, 267). Saint-Simon unterscheidet zuweilen zwischen Eigentumsrecht und -gesetz. Jenes hält er für progressiv: „Da der menschliche Geist Fortschritte macht, so darf man auch nicht das Eigentumsgesetz, wie es einmal besteht, verewigen" (S. 265). Er glaubt ferner, daß das Eigentum des Adels auf Eroberung, auf Gewalt begründet sei, während das der Industriellen (Fabrikanten, Gutspächter, Bankiers, Kaufleute, Handwerker) das Ergebnis ihres rechtmäßigen Schaffens sei. Seine Auffassung über Eigentum ist eine Verteidigung des bürgerlichen und eine Verurteilung des adligen Eigentums und der politischen Ansprüche der Hofleute, hochgestellten staatlichen und kirchlichen Würdenträger. Eine populäre Zusammenfassung dieser Gedanken gibt die Parabel, die Saint-Simon 1819 veröffentlichte und wegen welcher er angeklagt, aber von den Geschworenen für nichtschuldig erklärt wurde. In dieser Parabel vergleicht er den eventuellen Verlust der fünfzig ersten Physiker, Chemiker, Techniker, Industriellen, Reeder, Kaufleute und Handwerker mit dem von fünfzig Prinzen, Hofleuten, Ministern und hohen Geistlichen. Der Verlust der ersteren wäre unersetzlich, während die fünfzig vakanten Stellen der letzteren leicht zu füllen wären. Saint-Simon rät deshalb dem Bourbonenkönig Ludwig XVIII., sich mit den Industriellen zu verbinden und Bürgerkönig zu werden. Die französische Bourgeoisie sehnte sich ja auch nach einem Bürgerkönig und sie erhielt ihn 1830 — nach dem Sturz der Bourbonen — in der Person des Königs Ludwig Philipp (1830—1848).

Saint-Simon machte auch einige geschichtsphilosophische Ausflüge und versuchte, die Vergangenheit im Lichte seiner Anschauungen darzustellen. Wir werden sie im Zusammenhang mit dem Saint-Simonismus im folgenden Kapitel behandeln. Inzwischen ist daran festzuhalten: das ökonomische Denken Saint-Simons war, wie wir gesehen, rein bürgerlich. Auch sein Verhältnis zu den Arbeitern war vorerst durchaus bürgerlich. In seinem ersten Werke: „Lettres d'un habitant de Geneve" (1802) teilt er die Gesellschaft in drei Klassen: „1. in Liberale (Gelehrte, Künstler sowie alle Personen, die fortschrittliche Ideen haben); 2. in Besitzer, die keine Neuerungen wünschen; 3. in diejenigen Personen, die sich um die Parole ,Gleichheit’ scharen." Den Arbeitern, die nach Gleichheit J streben, erklärt er: „Die Besitzenden haben die Macht über die Nichtbesitzenden erlangt nicht infolge ihres Besitzes, sondern infolge ihrer geistigen Überlegenheit" (Oeuvres, zweiter Teil, S. 24, 27, 40). „Seht mal" — sagt er den Arbeitern — „was in Frankreich geschah, als eure Kameraden dort herrschten: sie brachten die Hungersnot hervor" (S. 40). Saint-Simon meint die Zeit des Konvents (1792—94); er wußte nicht, daß es gar nicht die Arbeiter waren, die damals herrschten; er wußte auch nicht, daß die Hungersnot das Werk der Gegner der Jakobiner war: der Aufkäufer und Wucherer, der Preistreiber und Agioteure. Saint-Simon hält überhaupt die Konventsherrschaft für „die vollendetste Anarchie" (S. 136). „Der Konvent vernichtete Ludwig XVI., den edlen Menschenfreund, und das Königtum, die fundamentale Einrichtung der gesellschaftlichen Organisation Frankreichs. Der Konvent schuf eine demokratische Verfassung, die den Ärmsten und Unwissendsten den größten Einfluß gab" (S. 136).

Saint-Simon blieb zwar Liberaler, also Anhänger der Herrschaft der Industriellen, aber er war auch als aufgeklärter Mann ein sorgfältiger Beobachter der Bewegungen unter den Arbeitern. Er bemerkte, wie die englischen Industriearbeiter seit 1810 sich gegen die Industriellen auflehnten, die Maschinen zerstörten (Luddistenbewegung), in Kämpfe für Wahlrecht und Fabrikschutz eintraten (1816—1818), überdies war er selber in Not und besaß ein starkes sittlich-religiöses Gemüt, was ihn veranlaßte, sich mit den sozialen Lehren des Christentums zu beschäftigen; er kannte Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts" und wurde von deren Gedanken beeinflußt. Seit etwa 1819 betonte Saint-Simon in wachsendem Maße die Notwendigkeit, den Arbeitern zu helfen. Im „Catechisme des Industries" mahnt er die Unternehmer, sich der Arbeiter anzunehmen: „Die Leiter der industriellen Arbeiten sind die geborenen Beschützer, die natürlichen Führer der Arbeiterklasse. Solange die Leiter der Industrie sich nicht mit den Arbeitern vereinigen, werden diese sich durch Intriganten und Radikale verleiten lassen, um eine Revolution zu machen und sich der politischen Gewalt zu bemächtigen" (Oeuvres, erster Teil, S. 221). Er exemplifiziert auf die Vorgänge in England. In den letzten Jahren seines Lebens überwog sein Interesse für das Wohlergehen der Arbeiter alle anderen Interessen; seine Gedanken hierüber legte er in seiner unmittelbar vor seinem Tode veröffentlichten Schrift „Le nouveau christianisme" (1825) nieder: das neue Christentum soll die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit so regeln, daß „eine möglichst rasche Verbesserung des Loses der ärmsten Klasse" herbeigeführt wird; das neue Christentum löst sich von den katholischen und protestantischen Dogmen und Kultusformen los und wird zur sozialen Ethik, deren Hauptforderung ist, daß die Menschen einander als Brüder behandeln sollen. „Das neue Christentum wird aus Teilen bestehen, die in der Hauptsache mit jenen übereinstimmen, die den verschiedenen ketzerischen Sekten Europas und Amerikas eigen sind... Das neue Christentum wird, wie ehedem das Urchristentum, durch die Macht der Moral und der öffentlichen Meinung gestützt, geschützt und gefördert werden." Saint-Simon erzählt sodann, daß er sich mit dieser Lehre vorerst an die Reichen wandte, um sie hierfür zu gewinnen, indem er ihnen klar machte, daß seine Lehre „durchaus nicht ihren Interessen entgegenstünde, da augenscheinlich eine Hebung der Lage der Armen nur möglich ist durch Mittel, die eine Zunahme der Annehmlichkeiten des Lebens auch der reichen Klasse verbürgen. Ich habe den Künstlern, Gelehrten und großen Unternehmern begreiflich machen müssen, daß ihre Interessen wesentlich identisch sind mit denen der Volksmassen, daß sie selbst einerseits zur Arbeiterklasse gehören und andererseits deren natürliche Führer sind, daß der Beifall des Volkes für die ihm erwiesenen Dienste die einzige ihres glorreichen Wirkens würdige Belohnung ist." Auch der Heiligen Allianz und den übrigen Königen und Fürsten ruft er zu: „Vereinigt euch im Namen des Christentums und erfüllet die Pflichten, die es den Mächtigen auferlegt; wisset, daß es diesen befiehlt, alle Kräfte der möglichst raschen Steigerung des sozialen Glückes der Armen zu widmen!"

Nach der Verkündigung dieses „neuen" Evangeliums starb Saint-Simon. Zusammenfassend darf gesagt werden: Saint-Simon war weder Sozialist noch Demokrat, sondern ein sozial-ethisch veranlagter Liberaler, der nur infolge seiner Intellektualität und seiner Loslösung vom Gelderwerb seine liberal-ethischen Theorien konsequenter ausdrücken konnte. Dies trifft insbesondere auf seine Eigentumslehre zu, die — beim Aufstieg der Arbeiterklasse zu Beginn des proletarischen Klassenkampfes — eine Auslegung erfahren konnte, die gegen das bürgerliche Eigentum sich richtete. Und diese Umbiegung der Lehre ihres Meisters unternahmen die Saint-Simonisten. 

4. Die Saint-Simonisten. 

Die geringe Zahl der Anhänger, die sich um die Lehren Saint-Simons scharte, gehörte fast ausnahmslos der gebildeten und begüterten Schicht der Bevölkerung an. Seit 1827 fielen die Kammerwahlen immer oppositioneller aus, aber schon seit 1821 bildete die Pariser intellektuelle Jugend geheime Verbindungen, um die Bourbonen zu stürzen, die Souveränität der Nation herzustellen und „das Volk zu befreien." Sie trat mit den italienischen Carbonari in Verbindung, lernte ihre Verschwörungsmethoden, studierte die Französische Revolution, die englischen sozialen Zustände und Theorien und war überhaupt für alle neuen Ideen empfänglich, wie sich dies bei einer revolutionären Jugend, die sich noch überdies geheim organisieren muß, von selber versteht. Unter diesen jungen Leuten befanden sich Saint-Amand Bazard (1791—1832), ein logischer, klar denkender Kopf, und P. B. J. Buchez (1796—1865), der sich später der Propaganda für Produktivgenossenschaften (mit Staatshilfe) widmete. Bazard wurde 1825 Saint-Simonist, 1828 las er Buonarroti, 1829 ging er daran, in Vereinen den Saint-Simonisten Vorlesungen über die Lehren des Meisters zu halten. Sein Mitarbeiter war B. P. Enfantin (1796—1864), Leiter von Finanzinstituten, später Eisenbahndirektor, ein Mann, der viel Phantasie und Schwärmerei mit viel Tatkraft und Scharfsinn verband. Neben ihnen wirkten die Brüder Pereire, später Gründer von großen Finanzinstituten, dann Ferdinand Lesseps, später Erbauer des Suezkanals und Leiter der ersten Arbeiten am Panamakanal. Man sieht, wie das wirkliche Wesen der Lehren Saint-Simons: industriell-kommerzieller Liberalismus, sich schließlich durchsetzte; inzwischen aber traten die sozialen Momente in den Vordergrund und die Saint-Simonisten wurden für Sozialisten gehalten. In den gesammelten Werken von Saint-Simon und Enfantin (Oeuvres de Saint-Simon et d'Enfantin) findet sich in Band 41 und 42 (Paris 1877) die prächtige „Exposition de la doctrine Saint-Simonienne" (Darstellung der Lehre Saint-Simons), die Bazard in seinen Vorlesungen (1829—1830) gab. Er nahm gewisse Ideen von Saint-Simon, entwickelte sie mit Hilfe der Ergebnisse seiner eigenen Studien und Erfahrungen und verschmolz sie zu einem einheitlichen System. Die Grundzüge dieses Systems sind folgende: Saint-Simon lehrte, daß in der Menschheitsgeschichte organische und kritische Perioden einander ablösen. In der ersteren herrscht Einheit des Gedankens und Glaubens, eine gewisse soziale Interessengemeinschaft; derartige Perioden waren: Griechenland bis zum 5. Jahrhundert (v. Chr.), wo der Polytheismus unbestritten herrschte; ferner im Mittelalter bis zum Auftreten Luthers, wo die katholische Kirche die geistige Einheit bildete. Auf die organischen Perioden folgen die kritischen, wo die Gedankeneinheit zerfällt und soziale Disharmonien entstehen; so in Griechenland seit dem 5. Jahrhundert (v. Chr.), wo mannigfache philosophische Systeme entstanden; im Mittelalter beginnt die kritische Periode mit der Reformation, die von verschiedenen Gedankensystemen und Revolutionen begleitet ist, worauf eine organische Periode folgen wird; sie einzuleiten, sei die Mission Saint-Simons, der sie im „Neuen Christentum" formulierte und die von Luther eingeleitete kritische Periode abschließen werde.

Hieran anknüpfend, erklärt Bazard, daß die einander abwechselnden organischen und kritischen Perioden sich durch Assoziation respektive Antagonismus (Vereinigung und Gegensatz oder Konflikt) bemerkbar machen. Die Gegensätze, die Konflikte sind jedoch vorübergehender und sekundärer Natur, das Hauptbestreben der Menschheit und das Hauptgesetz der Geschichte ist Assoziation. Die Gegensätze und Kämpfe zwischen Familien und Städten hatten zum Ziele die Vereinigung zur Nation, die Kämpfe und Gegensätze zwischen Nationen zielten auf Vereinigung unter der Herrschaft eines Glaubens, einer geistigen Einheit. Jetzt strebt die Menschheit nach der großen, universellen organischen Zusammenfassung, wo Liebe, Wissen und Reichtum sich vermehren werden.

Die Gegensätze und Konflikte (Antagonismen) wurden stets verursacht durch die Herrschaft der physischen Gewalt, die zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen führte. Aber die Wirkung dieser Gewalt wird immer schwächer; die Abschwächung zeigt sich in dem Fortschritt, den der Sklave bis zum heutigen Arbeiter machte. Die aufsteigenden Stufen sind: Sklaverei, Hörigkeit, Lohnarbeit. Hier zeigt sich deutlich die Abnahme der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Der Sklave gehörte mit seiner Person dem Herrn; der Hörige hatte schon einige Freiheit; der moderne Arbeiter ist schon politisch frei; was dem letzteren noch fehlt, ist die Befreiung von wirtschaftlicher Abhängigkeit. Dieser Fortschritt zeigt sich auch im Wachsen der Assoziation, aber dieses Wachstum wird noch behindert durch das starre Festhalten am überlieferten Eigentumsgesetz, das die Besitzer instand setzt, ohne Arbeit zu leben und andere Menschen zu beherrschen. Allerdings sagt man, ,daß das Eigentum die Basis der ganzen politischen Ordnung sei.' Auch wir (Saint-Simonisten) sind im allgemeinen dieser Ansicht, aber das Eigentum ist eine soziale Tatsache, die, gleich anderen sozialen Tatsachen, dem Gesetze des Fortschritts unterworfen ist. Das Eigentum kann also zu verschiedenen Zeiten auf verschiedene Weise verstanden, definiert und geregelt werden" (Band 41, S. 231). Heinrich Heine, der das deutsche Publikum in seinen Pariser Korrespondenzen an die „Augsburger Allgemeine Zeitung" über diese Bewegung informierte, meinte damals ironisch: „Die Saint-Simonisten wollen das Eigentum nicht abschaffen, sondern hinwegdefinieren".

Die Saint-Simonisten verlangten jedoch die Aufhebung des Erbrechts. „Die Güter des Verstorbenen fallen dem Staate zu, der zu einer Assoziation der Werktätigen geworden ist. Die ganze Nation soll Erbe sein und nicht die betreffende Familie. Die Privilegien der Geburt, die ohnehin so viele Abschwächungen erfahren haben, sollen vollständig beseitigt werden" (S. 243). Warum soll jemand zu Reichtum gelangen, nur weil er Sohn seines Vaters oder Verwandter irgendeiner Person ist? Das einzige Recht auf Reichtum ist die Fähigkeit, ihn zu produzieren. In dem assoziierten Staate, in der Assoziation der Werktätigen, wird jeder nach seiner Fähigkeit eine Stellung einnehmen und jede Fähigkeit wird nach ihren Leistungen belohnt werden. Der Staat verwandelt sich in eine wirtschaftliche Verwaltung, an deren Spitze die besten Verwaltungstalente stehen werden; ebenso wie es heute Offiziersschulen und Stabsakademien gibt, um fähige Armeeführer heranzuziehen, so wird es im assoziierten Staate Schulen und Akademien für industrielle Führer geben. Aufgabe dieser Führer wird es sein, die Wirtschaft zu leiten, die Werktätigen nach ihren Fähigkeiten zu klassifizieren, an die geeigneten Plätze zu stellen und sie nach ihren Leistungen zu belohnen. Nicht Demokratie, sondern eine hierarchisch gegliederte Leitung wird den Wirtschaftsprozeß regeln. Nur auf diese Weise wird es möglich sein, Müßiggang, Überarbeit, Armut, Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Überreste der Sklaverei zu beseitigen und die neue organische Periode, das Zeitalter der sozialen Harmonie herzustellen.

Der moderne Arbeiter, der politisch frei geworden ist, muß auch industriell befreit werden. Aber das darf nicht durch gewaltsame Revolution geschehen. „Die Lehre Saint-Simons will keinen Umsturz, keine Revolution; sie will nur eine Umwandlung, eine Evolution; — eine neue Erziehung, eine endgültige Wiedergeburt bringt sie der Welt" (S. 279). Bis jetzt haben sich die Entwicklungen gewaltsam, katastrophal vollzogen, weil die Menschen die Gesetze des Fortschritts nicht kannten. Es war die Unwissenheit, » die die Evolutionen zu Revolutionen machte; jetzt weiß die Menschheit, daß sie fortschreitet; sie kennt bereits das Gesetz der sozialen Krisen; es ist deshalb leicht, die Umwandlung vorzubereiten und gewaltsamen Überraschungen vorzubeugen. „Die Änderungen in der sozialen Organisation, die wir ankündigen, — zum Beispiel, daß die gegenwärtige Eigentumsordnung ganz anderen Eigentumseinrichtungen wird Platz machen müssen —, werden sich weder plötzlich noch gewaltsam vollziehen, sondern durch einen friedlichen und schrittweisen Übergang" (S.281). Im Saint-Simonistisch assoziierten Staate wird die höchste soziale Stufe von der Religion (von den Predigern des Neuen Christentums) eingenommen werden; die zweite Stufe von den Naturwissenschaftlern; die dritte von den Industriellen. Sittlich-religiöse Begeisterung, klare, disziplinierte Vernunft, tüchtige industrielle Technik werden die Menschheit erlösen (Band 42, S. 388 ff.). —

Diese Vorlesungen Bazards erregten viel Aufsehen und waren wohl geeignet, Intellektuelle, Künstler und großherzige Liberale anzuziehen. Es brach jedoch bald eine Spaltung unter den Saint-Simonisten aus, die eine weitere erfolgreiche Propaganda unmöglich machte. Enfantin, im heftigen Gegensatz zu Bazard und Rodrigues, verfiel auf die Fourierschen Ideen von der Befreiung der Frau und versuchte das Prinzip der freien Liebe dem Saint-Simonismus beizufügen. Die meisten Mitglieder widersetzten sich; Enfantin zog mit einigen Anhängern nach Menilmontant, wo er als „sozialer Vater" mit seiner Gemeinde einige Zeit lebte. Der Saint-Simonismus als Bewegung wurde unmöglich, aber er hinterließ der sozialrevolutionären Bewegung 1830—1848 einen Schatz von sozialhistorischen und sozialwirtschaftlichen Ideen, der lange nachwirkte. —

Anmerkungen 

1) Da Inseln nur ein Anhang der Kontinente sind, so müßten Frankreich und England zusammengehören. Daher der Nationalhaß beider Völker gegeneinander und die fortgesetzten Versuche gegenseitiger Invasionen — so erklärt Fichte.

2) „Bald wird die Invasion Chinas durch Rußland die Japaner zwingen, eine Seemacht zu bilden, und nachdem sie zu einem Schutzwall gegen Rußland geworden, werden sie die Mittel haben, die Weltindustrie anzugreifen." (Fourier, Quatre Mouvements, 1808, S. 289.) 

3) Nebenbei: Fouriers Buch „Le nouveau monde industriel", das sich in der Preußischen Staatsbibliothek befindet, war im Besitze Abel Transons und trägt sein Autograph. 

4) Vgl. E. Schlund, „Die philosophischen Ideen des Kommunismus", München 1922, Verlag Pfeiffer.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 422-441

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html