Kommentare zum Zeitgeschehen
"Avantgardepädagogik"

von Peter Trotzig
03/05

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Manchmal sieht man beeindruckende Fernsehbilder.

  • Eine unüberschaubare Menschenmenge an den Pilgerstätten Saudi Arabiens, die keine Mühe gescheut hatte, um hierher zu kommen, Steinchen auf den Teufel zu werfen und sich ein wenig tot zu trampeln.
  • 83 000 Menschen im Westfalenstadion in Dortmund zum Rückrundenstart der Fußball-Bundesliga. Kommentar eines Fans: „Wenn Dortmund verliert, gehe ich Montag nicht zur Arbeit!“ Streikbereit?

Diese Bilder zeigen, dass auch heute noch Menschen bereit sind, sich in großen Massen zu versammeln, gemeinsame Interessen zu formulieren („Borussiaaaaaaaaaaaaaaaa“) oder zu gemeinsamen Aktionen zu schreiten (Steinchen auf den Teufel schmeißen). Sie tun das, wenn sie es wollen, und ihnen ist dann kaum ein Opfer zu groß. 

Wenn es allerdings um die Durchsetzung bestimmter sozialer Interessen geht, um Widerstand gegen das Kapital oder gar um seine Überwindung, dann schrumpft die Zahl derer, die bereit sind, sich zu versammeln und Aktionen durchzuführen. 

Was hält die Menschen vom Kampf um soziale Emanzipation ab und was können die wenigen tun, die noch immer oder erneut um soziale Emanzipation kämpfen wollen? 

Was sich Kommunismus nannte, ist Gott sei Dank verschwunden und die neoliberale Reaktion räumt kräftig auf mit den im Kapitalismus erkämpften sozialen Reformen. Die soziale Realität ändert sich rapide, die Entwicklung des Gegensatzes von Arm und Reich nimmt die Form einer unkontrollierten Kettenreaktion an, wie bei der Kernspaltung in einer Atombombe. Der sich regende Widerstand ist schwach und doch erfreulich. Es tut sich was und schon sind sie wieder da, die mehr oder weniger linksradikalen Politiker verschiedenster Couleur. Endlich kann mensch wieder richtig was tun, keimt Hoffnung auf die erwachenden Menschenmassen. Und so sitzt man wieder in Zirkeln zusammen und berät, wie man die Massen mobilisieren und organisieren kann. Wer sich nicht allzu sehr selbst belügt, dem fällt schnell auf, dass es nicht so viele neue Gesichter in den neuen Zirkeln gibt. Diejenigen, die so tun, als hätten sie aus Fehlern gelernt und wüssten nun, wie man die Menschen in Bewegung setzt und diejenigen, die einfach mit ihren Vorstellungen „überwintert“ haben, geben nicht selten den Ton an. Es fällt auf, dass eigentlich niemand der Versammelten aus seinem Bekanntenkreis oder von seinem Lohnarbeitsplatz Leute mitbringt. Aller Gewissheit über die richtige Agitation und Ansprache zum Trotz sind es nur vereinzelte Einzelne, die sich da treffen. Niemand legt sich Rechenschaft ab über sein alltägliches Scheitern in der „Massenagitation“. Dafür weiß man aber noch immer, wer die Massen abhält, den Aufrufen und Appellen zu folgen. Man hält sich nicht lange auf damit, die eigenen Politikvorstellungen zu hinterfragen. Gott sei Dank gibt es Sozialdemokraten und alle möglichen Leute mit falschen Linien, die man für ihr schäbbiges Werk der Massenbeeinflussung brandmarken kann. Eins ist doch nach wie vor und unausgesprochen klar: die Massen wollen gegen das Kapital kämpfen, man lässt sie nur nicht. 

Offenbar hat man mit diesem und jenem oder allem möglich gebrochen, aber nicht mit der guten alten Politikvorstellung der „Avantgardepädagogik“ (Postone).

„Die Massen“ sind aber sehr widerständig gegen diese „Avantgardepädagogik“. Offenbar ist es nicht die Agitation der Avantgarde, die gemeinsamen Widerstand auslösen kann, sondern nur die Erfahrung, die die einzelnen in diesem System machen und ihre ganz individuelle Verarbeitung dieser Erfahrung. Offenbar hängt das mit individuell empfundenem Leidensdruck zusammen. Die Menschen können sich jedenfalls so oder so entscheiden und sie entscheiden sich. Selbst die bürgerlichen Massenmedien veröffentlichen die sozialen Skandale ohne Ende. Aber erstens gibt es die segensreiche Erfindung der Fernbedienung, mit deren Hilfe man schnell weiterzappen kann und sich nicht mit dem Elend unserer Tage konfrontieren muss. Jeden Tag treffen Millionen in Bruchteilen von Sekunden wie selbstverständlich die Entscheidung: Lieber Heino als Monitor z.B. Wer nun gerade Heino nicht mag, der findet viele Alternativen für Momente des Glücks vor der Glotze.

Und auch für die, die sich einen Volker Pispers antun, sind deshalb noch längst nicht bereit an der nächsten Demo gegen Sozialraub teilzunehmen. Das ist ganz offensichtlich. Von Büchern wie „Nebensache Mensch“ will ich hier gar nicht sprechen. Es wurde so aufgebaut und geschrieben, dass es für die meisten Menschen verständlich ist. Es hat einen Preis, der für die meisten kein großes Opfer bedeutet. Lesen muss man es allerdings schon, die Anstrengung bleibt niemandem erspart. Das Buch ist auch nicht verboten und man muss keine Verfolgung fürchten, wenn man es liest.

Die meisten Leute sind sehr eindeutig in ihren Grundeinstellungen zu diesem System und in ihren Verhaltensweisen: Sie beklagen sich über soziale Missstände, soweit sie selbst betroffen sind. Solidarisches Kämpfen halten sie meistens für aussichtslos, weil man nie alle unter einen Hut bekommt. Überwindung des Kapitalismus halten sie nicht für wünschenswert oder meinen, dass der Kommunismus bestenfalls eine schöne Illusion sein mag, aber eben auch nicht mehr als eine Illusion. Insgesamt jedenfalls pflegen die Menschen ihre individuellen Lebensentwürfe und setzen all ihre Hoffnung darauf, dass diese glücken ... im Kapitalismus, versteht sich! ... und über allem thront der Wunsch nach möglichst viel Geld. 

Sollten diese Menschen wirklich auf Flugblätter und Aufrufe, auf die richtige Ansprache mit dem richtigen Thema, gewartet haben? 

Es gibt eine Menge von Dingen, die in den Medien nicht oder kaum angesprochen werden und viele Anklagen werden nicht erhoben. Es sind eben bürgerliche Massenmedien, in denen der Kapitalismus, trotz diverser Enthüllungen über seine Missstände, als beste aller Welten vorgestellt wird. Darum ist es wichtig die Kritik im „öffentlichen Raum“ zu führen, also Flugblätter schreiben und verteilen, Artikel ins Internet stellen usw. Diese Kritik kann dazu beitragen, dass Menschen anfangen, ihre Erfahrung anders zu verarbeiten. Sie ist ferner wichtig dafür, dass diejenigen, die aufgewacht und bereit sind gegen den Kapitalismus zu kämpfen, oder auch nur gegen seine schlimmsten Auswüchse, sich untereinander über die Art ihrer Kritik und ihre Ziele verständigen können.

Nur eins sollte man nicht damit verbinden, dass durch diese publizierten Kritiken Menschen unmittelbar „überzeugt“ und aktiv werden. 

Die ständige Räsonniererei darüber, dass man noch nicht den richtigen Dreh gefunden hat, diese Massen anzusprechen oder wach zu rütteln, wirkt auf mich nur noch komisch. Das ist nämlich weder eine Frage falscher Inhalte (z. B. „Vorbild“ China, oder „richtige“ Kritik an der Arbeit, etc.) noch eine Frage der „verständlichen“ Sprache. Die Massen sind ganz unbeeindruckt ... auch von „richtiger“ Kritik und „verständlicher“ Sprache. Die absolute Mehrheit der Menschen hat nämlich einen ganz klaren Standpunkt zu der Gesellschaft in der sie leben, sowie zu ihren eigenen Lebensvorstellungen. (Bei aller Unzufriedenheit über die Schlechtigkeit dieser Welt, soweit sie selbst betroffen sind, setzen sie doch ganz auf den „individuellen Lebensentwurf“ und halten die Gesellschaft insgesamt nicht für veränderbar.)

Dieser klare Standpunkt wird durch keinerlei „Überzeugungsarbeit“ von radikalen Kritikern des Kapitalismus zu knacken sein, sondern nur durch die soziale Erfahrung selbst und deren veränderte Wahrnehmung und Verarbeitung. Erst massenhaftes Scheitern der individuellen Lebensentwürfe und die Aussichtslosigkeit von sozialem Aufstieg können zum Anlass von massenhaftem Umdenken sein. Wohl gemerkt: Anlass zu ... keine Garantie, denn der Schuss kann auch nach hinten losgehen. Faschismus wie islamischer Fundamentalismus zeigen das deutlich genug. 

Was bleibt?

Wir können uns nur freuen, wenn z.B. in Berlin 100.000 statt der erwarteten 20.000 zum Protest gegen Hartz IV kamen. Wir sollten diese Zahl weniger auf unsere Agitation als auf die Politik der Bundesregierung, und damit auf die sich verändernden Verhältnisse zurückführen. Wir sollten nicht den Fehler begehen, nunmehr zu erwarten, dass durch unsere Agitation demnächst problemlos 500.000 oder 1 Million zu mobilisieren sei. Die Frage, ob demnächst 1 Million auf die Straße geht, ist keine Frage unserer Agitation, sondern eine Frage, wie sich die Verhältnisse entwickeln werden. Darum sollten wir uns nicht fragen, wie wir die Massen mobilisieren können, sondern unsere Kritik, d.h. die Kritik derjenigen, die bereits heute die Schnauze voll haben, öffentlich machen, möglichst gut und möglichst treffend. Wir sollten uns außerdem und besonders die Zeit nehmen, uns unter einander zu verständigen, sowohl über unsere Kritik, wie über unsere Ziele. (Das ist schon schwierig genug, und wir haben ja auf diesem Feld reichlich Erfahrung, wie wenig überzeugend „Überzeugungsarbeit“ ist. Wer von den versammelten Altlinken hätte sich denn schon mal überzeugen lassen ... bitte schön? Ich kenne keinen. Mich eingeschlossen! Woher nehmen wir also die wahnwitzige Gewissheit, andere überzeugen zu können? Aber selbstverständlich können wir alle lernen und viele tun das auch!)

„Wir“, das sind immer diejenigen, die sich gerade getroffen haben, um etwas zu unternehmen und niemand sonst ... nicht die Belegschaft, in deren  „wirklichem“ Interesse wir vermeintlich handeln, nicht „die Arbeiterklasse“ und nicht die „Massen“. Alles andere wird sich finden in Folge der kapitalistischen Revolutionierung des Alltags! 

Wir sollten endlich die Menschen mit ihren Standpunkten ernst nehmen und aufhören uns zu Kaspern zu machen!

Editorische Anmerkungen

Peter Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen. Dieser wurde am 20.2.2005 erstellt.