Manchmal sieht man
beeindruckende Fernsehbilder.
- Eine unüberschaubare
Menschenmenge an den Pilgerstätten Saudi Arabiens, die keine Mühe gescheut
hatte, um hierher zu kommen, Steinchen auf den Teufel zu werfen und sich ein
wenig tot zu trampeln.
- 83 000 Menschen im
Westfalenstadion in Dortmund zum Rückrundenstart der Fußball-Bundesliga.
Kommentar eines Fans: „Wenn Dortmund verliert, gehe ich Montag nicht zur
Arbeit!“ Streikbereit?
Diese Bilder zeigen, dass
auch heute noch Menschen bereit sind, sich in großen Massen zu versammeln,
gemeinsame Interessen zu formulieren („Borussiaaaaaaaaaaaaaaaa“) oder zu
gemeinsamen Aktionen zu schreiten (Steinchen auf den Teufel schmeißen). Sie
tun das, wenn sie es wollen, und ihnen ist dann kaum ein Opfer zu groß.
Wenn es allerdings um die
Durchsetzung bestimmter sozialer Interessen geht, um Widerstand gegen das
Kapital oder gar um seine Überwindung, dann schrumpft die Zahl derer, die
bereit sind, sich zu versammeln und Aktionen durchzuführen.
Was hält die Menschen vom
Kampf um soziale Emanzipation ab und was können die wenigen tun, die noch
immer oder erneut um soziale Emanzipation kämpfen wollen?
Was sich Kommunismus nannte,
ist Gott sei Dank verschwunden und die neoliberale Reaktion räumt kräftig auf
mit den im Kapitalismus erkämpften sozialen Reformen. Die soziale Realität
ändert sich rapide, die Entwicklung des Gegensatzes von Arm und Reich nimmt
die Form einer unkontrollierten Kettenreaktion an, wie bei der Kernspaltung in
einer Atombombe. Der sich regende Widerstand ist schwach und doch erfreulich.
Es tut sich was und schon sind sie wieder da, die mehr oder weniger
linksradikalen Politiker verschiedenster Couleur. Endlich kann mensch wieder
richtig was tun, keimt Hoffnung auf die erwachenden Menschenmassen. Und so
sitzt man wieder in Zirkeln zusammen und berät, wie man die Massen
mobilisieren und organisieren kann. Wer sich nicht allzu sehr selbst belügt,
dem fällt schnell auf, dass es nicht so viele neue Gesichter in den neuen
Zirkeln gibt. Diejenigen, die so tun, als hätten sie aus Fehlern gelernt und
wüssten nun, wie man die Menschen in Bewegung setzt und diejenigen, die
einfach mit ihren Vorstellungen „überwintert“ haben, geben nicht selten den
Ton an. Es fällt auf, dass eigentlich niemand der Versammelten aus seinem
Bekanntenkreis oder von seinem Lohnarbeitsplatz Leute mitbringt. Aller
Gewissheit über die richtige Agitation und Ansprache zum Trotz sind es nur
vereinzelte Einzelne, die sich da treffen. Niemand legt sich Rechenschaft ab
über sein alltägliches Scheitern in der „Massenagitation“. Dafür weiß man aber
noch immer, wer die Massen abhält, den Aufrufen und Appellen zu folgen. Man
hält sich nicht lange auf damit, die eigenen Politikvorstellungen zu
hinterfragen. Gott sei Dank gibt es Sozialdemokraten und alle möglichen Leute
mit falschen Linien, die man für ihr schäbbiges Werk der Massenbeeinflussung
brandmarken kann. Eins ist doch nach wie vor und unausgesprochen klar: die
Massen wollen gegen das Kapital kämpfen, man lässt sie nur nicht.
Offenbar hat man mit diesem
und jenem oder allem möglich gebrochen, aber nicht mit der guten alten
Politikvorstellung der „Avantgardepädagogik“ (Postone).
„Die Massen“ sind aber sehr
widerständig gegen diese „Avantgardepädagogik“. Offenbar ist es nicht die
Agitation der Avantgarde, die gemeinsamen Widerstand auslösen kann, sondern
nur die Erfahrung, die die einzelnen in diesem System machen und ihre ganz
individuelle Verarbeitung dieser Erfahrung. Offenbar hängt das mit individuell
empfundenem Leidensdruck zusammen. Die Menschen können sich jedenfalls so oder
so entscheiden und sie entscheiden sich. Selbst die bürgerlichen Massenmedien
veröffentlichen die sozialen Skandale ohne Ende. Aber erstens gibt es die
segensreiche Erfindung der Fernbedienung, mit deren Hilfe man schnell
weiterzappen kann und sich nicht mit dem Elend unserer Tage konfrontieren
muss. Jeden Tag treffen Millionen in Bruchteilen von Sekunden wie
selbstverständlich die Entscheidung: Lieber Heino als Monitor z.B. Wer nun
gerade Heino nicht mag, der findet viele Alternativen für Momente des Glücks
vor der Glotze.
Und auch für die, die sich
einen Volker Pispers antun, sind deshalb noch längst nicht bereit an der
nächsten Demo gegen Sozialraub teilzunehmen. Das ist ganz offensichtlich. Von
Büchern wie „Nebensache Mensch“ will ich hier gar nicht sprechen. Es wurde so
aufgebaut und geschrieben, dass es für die meisten Menschen verständlich ist.
Es hat einen Preis, der für die meisten kein großes Opfer bedeutet. Lesen muss
man es allerdings schon, die Anstrengung bleibt niemandem erspart. Das Buch
ist auch nicht verboten und man muss keine Verfolgung fürchten, wenn man es
liest.
Die meisten Leute sind sehr
eindeutig in ihren Grundeinstellungen zu diesem System und in ihren
Verhaltensweisen: Sie beklagen sich über soziale Missstände, soweit sie selbst
betroffen sind. Solidarisches Kämpfen halten sie meistens für aussichtslos,
weil man nie alle unter einen Hut bekommt. Überwindung des Kapitalismus halten
sie nicht für wünschenswert oder meinen, dass der Kommunismus bestenfalls eine
schöne Illusion sein mag, aber eben auch nicht mehr als eine Illusion.
Insgesamt jedenfalls pflegen die Menschen ihre individuellen Lebensentwürfe
und setzen all ihre Hoffnung darauf, dass diese glücken ... im Kapitalismus,
versteht sich! ... und über allem thront der Wunsch nach möglichst viel Geld.
Sollten diese Menschen
wirklich auf Flugblätter und Aufrufe, auf die richtige Ansprache mit dem
richtigen Thema, gewartet haben?
Es gibt eine Menge von
Dingen, die in den Medien nicht oder kaum angesprochen werden und viele
Anklagen werden nicht erhoben. Es sind eben bürgerliche Massenmedien, in denen
der Kapitalismus, trotz diverser Enthüllungen über seine Missstände, als beste
aller Welten vorgestellt wird. Darum ist es wichtig die Kritik im
„öffentlichen Raum“ zu führen, also Flugblätter schreiben und verteilen,
Artikel ins Internet stellen usw. Diese Kritik kann dazu beitragen, dass
Menschen anfangen, ihre Erfahrung anders zu verarbeiten. Sie ist ferner
wichtig dafür, dass diejenigen, die aufgewacht und bereit sind gegen den
Kapitalismus zu kämpfen, oder auch nur gegen seine schlimmsten Auswüchse, sich
untereinander über die Art ihrer Kritik und ihre Ziele verständigen können.
Nur eins sollte man nicht
damit verbinden, dass durch diese publizierten Kritiken Menschen unmittelbar
„überzeugt“ und aktiv werden.
Die ständige Räsonniererei
darüber, dass man noch nicht den richtigen Dreh gefunden hat, diese Massen
anzusprechen oder wach zu rütteln, wirkt auf mich nur noch komisch. Das ist
nämlich weder eine Frage falscher Inhalte (z. B. „Vorbild“ China, oder
„richtige“ Kritik an der Arbeit, etc.) noch eine Frage der „verständlichen“
Sprache. Die Massen sind ganz unbeeindruckt ... auch von „richtiger“ Kritik
und „verständlicher“ Sprache. Die absolute Mehrheit der Menschen hat nämlich
einen ganz klaren Standpunkt zu der Gesellschaft in der sie leben, sowie zu
ihren eigenen Lebensvorstellungen. (Bei aller Unzufriedenheit über die
Schlechtigkeit dieser Welt, soweit sie selbst betroffen sind, setzen sie doch
ganz auf den „individuellen Lebensentwurf“ und halten die Gesellschaft
insgesamt nicht für veränderbar.)
Dieser klare Standpunkt wird
durch keinerlei „Überzeugungsarbeit“ von radikalen Kritikern des Kapitalismus
zu knacken sein, sondern nur durch die soziale Erfahrung selbst und deren
veränderte Wahrnehmung und Verarbeitung. Erst massenhaftes Scheitern der
individuellen Lebensentwürfe und die Aussichtslosigkeit von sozialem Aufstieg
können zum Anlass von massenhaftem Umdenken sein. Wohl gemerkt: Anlass zu ...
keine Garantie, denn der Schuss kann auch nach hinten losgehen. Faschismus wie
islamischer Fundamentalismus zeigen das deutlich genug.
Was bleibt?
Wir können uns nur freuen,
wenn z.B. in Berlin 100.000 statt der erwarteten 20.000 zum Protest gegen
Hartz IV kamen. Wir sollten diese Zahl weniger auf unsere Agitation als auf
die Politik der Bundesregierung, und damit auf die sich verändernden
Verhältnisse zurückführen. Wir sollten nicht den Fehler begehen, nunmehr zu
erwarten, dass durch unsere Agitation demnächst problemlos 500.000 oder 1
Million zu mobilisieren sei. Die Frage, ob demnächst 1 Million auf die Straße
geht, ist keine Frage unserer Agitation, sondern eine Frage, wie sich die
Verhältnisse entwickeln werden. Darum sollten wir uns nicht fragen, wie wir
die Massen mobilisieren können, sondern unsere Kritik, d.h. die Kritik
derjenigen, die bereits heute die Schnauze voll haben, öffentlich machen,
möglichst gut und möglichst treffend. Wir sollten uns außerdem und besonders
die Zeit nehmen, uns unter einander zu verständigen, sowohl über unsere
Kritik, wie über unsere Ziele. (Das ist schon schwierig genug, und wir
haben ja auf diesem Feld reichlich Erfahrung, wie wenig überzeugend
„Überzeugungsarbeit“ ist. Wer von den versammelten Altlinken hätte sich denn
schon mal überzeugen lassen ... bitte schön? Ich kenne keinen. Mich
eingeschlossen! Woher nehmen wir also die wahnwitzige Gewissheit, andere
überzeugen zu können? Aber selbstverständlich können wir alle lernen und viele
tun das auch!)
„Wir“, das sind immer
diejenigen, die sich gerade getroffen haben, um etwas zu unternehmen und
niemand sonst ... nicht die Belegschaft, in deren „wirklichem“ Interesse wir
vermeintlich handeln, nicht „die Arbeiterklasse“ und nicht die „Massen“. Alles
andere wird sich finden in Folge der kapitalistischen Revolutionierung des
Alltags!
Wir sollten endlich die
Menschen mit ihren Standpunkten ernst nehmen und aufhören uns zu Kaspern zu
machen!
Editorische Anmerkungen
Peter
Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine
Kommentare zum Zeitgeschehen. Dieser wurde am 20.2.2005 erstellt.
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