Frankreich:
Zentrale Demo gegen den Kahlschlag der öffentlichen Dienste


von Bernhard Schmid
03/05

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"Das Treffen von Guéret gegen die französische Wüste" kündigte die Pariser Tageszeitung Le Monde am vorigen Samstag an. So wüstenhaft sieht die Gegend, um die es geht, freilich gar nicht aus: Bäume wechseln sich ab mit Feldern, des öfteren sieht man Kühe unter der Schneedecke grasen, und dazwischen liegen einige Sägewerke oder Fleisch und Milch verarbeitende Betriebe. Der Bus der linken Postgewerkschaft SUD PTT fährt von Paris aus quer durch das ländliche Zentralfrankreich, abseits der Autobahn, die wegen heftiger Schneefälle und Glatteis gesperrt ist ­ auf dem Weg nach Guéret, wo wir an diesem Samstag nachmittag (6. März) erwartet werden.   

Die Fotos wurden uns vom Autor zur Verfügung gestellt

Dort werden in wenigen Stunden über 6.000 Menschen demonstrieren und drei Stunden lang durch den Schneesturm ziehen: "Gegen die französische Wüste". Eine eher ungewohnte Erfahrung an diesem Ort, die aber von vielen Ortsansässigen neugierig-positiv aufgenommen wird, wenn sie sich nicht gleich dem Zug anschließen. Aufgrund der Temperaturen erscheint eine andere Metapher, die am Vortag von vielen Journalisten benutzt wurde, eher deplatziert: Sie hatten von einem "kleinen Porto Alegre" gesprochen.

La Creuse  

Guéret mit knapp 15.000 BewohnerInnen ist die Bezirkshauptstadt des innerfranzösischen Départements La Creuse. Die nächste größere Stadt ist das regionale Zentrum Limoges, das weiter westlich liegt. La Creuse, das sind heute etwa 124.000 Einwohner ­ gerade einmal halb so viel wie vor 100 Jahren. Heute leben in dem Département nur noch durchschnittlich 23 Einwohner pro Quadratkilometer. Dem war nicht immer so, aber die in Frankreich noch bis in die siebziger Jahre hinein anhaltende Landflucht und die agrarische Krise haben zur Entvölkerung beigetragen.  

Landflucht und die Politik der Bourgeoisie  

Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten in Frankreich noch 25 bis 30 Prozent der aktiven Bevölkerung von der Landwirtschaft, da die Industrialisierung sich bis dahin noch weitgehend auf die städtischen Ballungsräume rund um Paris, Lyon und Marseille beschränkte: Die Regierenden hatten Angst vor zu vielen Arbeiterstädten, die als potenzielle "Unruheherde" im ganzen Land verteilt wären - und zogen es deswegen vor, die gesamte Industriearbeiterschaft in wenigen Zonen zu konzentrieren. Die Früchte dieser Strategie sorgten einerseits für die überdimensionierte Ausdehnung der Banlieues, also der Vorstadtzonen oder Trabantenstädte der urbanen Zentren, in denen sich heute zahlreiche soziale Probleme wie in einem Brennglas konzentrieren.  

Andererseits aber blieben die ländlichen Zonen noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts weitgehend unverändert. Dann aber gerieten große Teile des Agrarsektors, aufgrund ihrer geringen Rentabilität, in die Krise: Zahllose Bauern machten Pleite und mussten ihre Höfe aufgeben. Um 1983 waren immer noch 13 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, heute sind es nur noch ein Viertel davon. Da aber das strukturelle Übergewicht etwa des Pariser Großraums erhalten blieb und sich nach wie vor die Mehrheit der Jobangebote dort konzentrierte, wanderten viele Franzosen aus dem Landesinneren noch bis vor wenigen Jahren ab.  

Kahlschlag bei den Services publics  

Heute ist es aber ein anderer Grund, der den Einwohnern des eher ländlichen Départements zu schaffen macht und der eine jetzt immer lauter werdende Kritik herausfordert. In jüngerer Zeit haben sich viele öffentliche Dienste, aufgrund der Tendenzen zur Privatisierung bisheriger Services publics (öffentlichen Dienste) oder - zumindest ­ ihrer Unterstellung unter die überall Einzug haltenden Rentabilitätsansprüche, aus den relativ schwach besiedelten Bezirken immer mehr zurückgezogen.  

Der französische Service public unterscheidet sich übrigens deutlich vom öffentlichen Dienst, seinem vermeintlichen deutschen Synonym. Denn erstens wurde in Frankreich ein Kriterienkatalog für den Begriff des Service public definiert, der einerseits vom universalistischen Anspruch der Französischen Republik (ein Restbestand ihres bürgerlich-revolutionären Erbes von einst) geprägt ist. Andererseits hinterließ auch die Periode der antifaschistischen Regierungskoalition unmittelbar nach der Befreiung von 1944 (unter Einschluss der KP) ihre Spuren, denn damals wurden die öffentlichen Dienste und die verstaatlichen Unternehmen als eine Art Vorwegnahme einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft betrachtet. Ja ja, lange ist¹s her... Zum strikt einzuhaltenden Kriterienkatalog für einen Service public gehört also (theoretisch!) die Nicht-Rentabilität, der gleiche Zugang für alle BürgerInnen unabhängig von Einkommen oder geographischer Situation... Aber auch der "péréquation" genannte Ausgleich zwischen finanzschwachen und ­starken Regionen durch Finanzierung der nicht-rentablen Regionen durch die rentableren.  

Im Übrigen gibt es in Frankreich kein Beamtenverhältnis im deutschen Sinne, d.h. im Sinne eines auf besondere Loyalität zur Staatsmacht verpflichteten Korps (mit Ausnahme der bewaffneten Staatsorgane). D.h., dass alle Staatsbediensteten beispielsweise das Streikrecht haben. Sie sind auch nicht wesentlich besser bezahlt als die Privatbeschäftigten, sondern im Gegenteil: Häufig verdienen die Staatsangestellten wesentlich schlechter als jene der Privatindustrie oder ­Dienstleistungsunternehmen, was mit dem (bisher) geringeren Entlassungsrisiko gerechtfertigt wird.  

Den neoliberalen Regierungen sind die "Services publics à la française" seit längerem ein Dorn im Auge. 1995 konnte im Laufe des Streikherbsts der Eisenbahner und anderer öffentlicher Dienste ein Regierungsplan gerade noch verhindert werden, der vorsah, 6.000 Streckenkilometer der französischen Bahn stillzulegen. Dessen Umsetzungen hätte ganze Regionen völlig vom Schienennetz abgekoppelt. Aber heute geht dieselbe Entwicklung in verschiedenen Bereichen weiterhin vor sich, nur eher "scheibchenweise" statt durch eine Art Generalangriff. Einwohner müssen viele Kilometer zurücklegen, um in ein Krankenhaus, zu einem Postbüros oder einer Außenstelle der Finanzamts zu gelangen.  

Spektakuläre Ämterniederlegungen  

Es war der Bezirk La Creuse, wo der massive Protest dagegen zum ersten Mal landesweit von sich hören machte. Im Oktober des Vorjahres 2004 traten dort 263 Bürgermeister und Gemeindeparlamentarier in einem spektakulären Schritt gemeinsam zurück: Wenn man ihren Kommunen die Postämter und Bahnhöfe dichtmache, sei das Leben für die Bevölkerung des Bezirks­ unter der sich heute 34 Prozent RenterInnen befinden ­ immer weniger erträglich.  

Dem Protest schlossen sich Stimmen aus den Nachbardépartements an, etwa aus dem Bezirk von Angoulême. Den hatte man erst vor anderthalb Jahren regierungsamtlich zum "Musterdépartement" erkoren, um eine angeblich erfindungsreiche neue Politik zu testen: Statt verschiedene Services publics in den einzelnen Kommunen zu behalten, sollten die unterschiedlichen Dienstleistungen stattdessen in einem gemeinsamen "Haus der öffentlichen Dienstleistung" fusioniert werden, wo man etwa gleichzeitig Briefmarken kaufen und Steuern bezahlen könnte. Heute ist die Ernüchterung allgemein. Nur eine Handvoll solcher Strukturen funktionieren, dafür ging der allgemeine Abbau unvermindert weiter, wie Angereiste aus diesem Nachbardépartement der Creuse erzählen ­ viele sind, mit ihrem "Kollektiv zur Rettung der öffentlichen Dienste", nach Guéret angereist.  

Dort, wo man nur schwer für einen Samstag nach Guéret anreisen konnte, wurde ebenfalls demonstriert. So fanden am 6. März auch drei Demonstrationen gegen die Zerstörung der Services publics im Département Französisch-Guyana statt (in Cayenne, Kourou und Saint-Laurent-du-Maroni).  

"In Stadt und Land, Ihr Arbeitsleute..."  

Aber nicht nur von dort, sondern aus dem ganzen Land sind UnterstützerInnen zu der Protestdemo vom Samstag angereist. Aus dem Bezirk Seine-Saint-Denis, der die nördlichen Trabantenstädte umfasst, ist eine größere Solidaritätsdelegation erschienen, die selbst durch die (freilich KP-geführte) Bezirksregierung unterstützt wird. Zur Begründung erklären die Großstädter, auch die so genannten "sozialen Brennpunkte" oder "Problemzonen" in ihrem Bezirk würden als nicht rentabel für die Aufrechterhaltung öffentlicher Dienstleistungen eingestuft, da die Kundschaft hier wenig finanzkräftig sei.  

Die Postbank, die bisher keine finanzschwachen KundInnen abweisen darf (für die Zukunft wird das Gegenteil befürchtet, da sie nach einem derzeit im Parlament anhängigen Gesetzentwurf in ein eigenständiges Kreditinstitut umgewandelt werden soll) ist der größte Finanzdienstleister in dem Département nördlich von Paris. Die Privatbanken erheben für zahlreiche Menschen dort zu hohe Gebühren, auch wenn ihr Service besser ist. Aber auch in Seine-Saint-Denis befürchtet man für die Zukunft einen Kahlschlag bei den "nicht rentablen" Services publics.  

Bereits heute allerdings ist die Lage für die Einwohner des insgesamt "finanzschwachen" Départements nicht rosig und drückt sich u.a. in oft extrem langen Warteschlangen an den Postschaltern aus. Denn bereits heute (wo La Poste noch immer ein Service public ist und noch nicht vollständig wie ein Privatunternehmern verwaltet wird) richtet sich die Zahl der an einem Ort oder in einem Stadtteil geöffneten Postbüros nach dem Kriterium des Umsatzes in Geld, nicht nach der Anzahl der Köpfe der Einwohnerschaft oder jener der registrierten PostkundInnen. Deswegen gibt es im relativ menschenarmen und superteuren 8. Arrondissement von Paris kaum Warteschlangen, da dort viele größere Unternehmen ihren Sitz haben ­ und die bestehen auf "ihrem" Service, ohne Verzögerung durch lästiges Warten! In den ärmeren Stadtteilen von Paris oder gar in den Banlieues sieht die Lage dagegen völlig anders aus. (Das ist übrigens auch ein Problem hinsichtlich der Schaffung politischen Bewusstseins für die Gefahr der Privatisierung öffentlicher Dienste. Denn wenn man in öffentlichen Aktionen darauf aufmerksam macht, wie ATTAC sie in der Vergangenheit unternahm und derzeit Gegner der neoliberalen EU-Verfassung sie vornehmen, dann bekommt man mitunter von ­ verständlicherweise entnervten ­ Postkunden in den langen Warteschlangen zu hören: "Na, er ist wirklich toll, Euer Service public! Und das soll ich verteidigen? Geschieht denen ganz recht!")  

Regierung versucht Gemüterberuhigung  

Die Regierung von Jean-Pierre Raffarin versuchte in den letzten Wochen bereits die Gemüter zu beruhigen. Anlässlich des Beginns der Parlamentsdebatte um das neue Postgesetz Ende Januar 05 erklärte er, nirgendwo würden zukünftig Postbüros einfach so geschlossen ­ stets werde für Ersatz durch so genannte "Points de service" gesorgt, darauf werde die Regierung achten.  

Das ist freilich eine Mogelpackung, denn diese Servicepoints werden in der Regel aus einem Briefmarkenverkauf beim Einzelhändler bestehen, der dazu durch die Post ermächtigt wird. Dort wird man aber weder Pakete und Einschreiben abschicken noch Postbankoperationen vornehmen können; allenfalls ist in den Auflagen das Abheben von maximal 150 Euros vom Postsparbuch "zur Nothilfe" (pour dépannage) vorgesehen. Die linke Postgewerkschaft SUD PTT hat im Übrigen auf einem vierseitigen Faltblatt, das in der Demo verteilt wird, haargenau aufgelistet, welche "opérations" (Dienstleistungen) in einem Postbüro möglich sind ­ und welche an einem "Point de service" nur noch angeboten werden. Ein tragbarer "Point Poste" wird symbolisch in den Reihen der SUD-Basisgewerkschafter mit herumgetragen.  

Die Linke ist dabei, aber Sozi-Oberkarnickel stößt auf kalten Empfang  

Neben den Kollektiven für den Erhalt der Services publics aus vielen Départements sind auch aus mehreren Teilen Frankreichs Gewerkschafter der CGT, der Lehrergewerkschaft FSU und (mit dem wohl stärksten Block dabei) der linksalternativen SUD-Gewerkschaften angereist.  

Auch politische Vertreter aus der gesamten Linken sind dabei. Das Spektrum reicht von den undogmatischen Trotzkisten (mit dem "Briefträger", dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der LCR und SUD-Gewerkschafter, Olivier Besancenot) bis hin zum Chef des Parti Socialiste (PS): François Hollande. Der bekommt freilich eine Ladung Schneebälle aus der Demonstration ab, von GegnerInnen der neoliberalen EU-Verfassung die durch Hollande ebenso wie durch die regierende bürgerliche Rechte unterstützt wird: Ein flagranter Widerspruch zu seinem Eintreten gegen die Folgen neoliberaler Politik in der Creuse, meinen viele Demonstranten. Auch einige PS-Mitglieder stimmen zu.  

Die KP ihrerseits hat recht massiv mobilisiert und hält 30 Minuten vor Demobeginn eine Pressekonferenz im Obergeschoss des Rathauses von Guéret ab ­ ohne Beteiligung der anderen Kräften, was man als leichte Vereinnahmung betrachten mag. Zusammen mit der KP-Chefin Marie-George Buffet treten mehrere örtliche Bürgermeister und Bezirksparlamentarier der KP auf. Ich schmuggele mich in die Pressekonferenz ein, zusammen mit meinem Kumpel Rafiq. (Das ist der, der an nur einem Wochenende 60 mal hintereinander in die französische KP eintrat. Doch doch: Auf dem jährlichen KP-Fest "Fête de l¹Humanité" gibt es nämlich für jedes Neumitglied Freibier. Am Ende übernachtete er unter dem Tisch im Bierzelt...) Marie-George Buffet verknüpft das Nein zum Kahlschlag bei den Services publics mit dem Nein zur neoliberalen EU-Verfassung, über die Frankreich am 29. Mai abstimmen wird. Einer von den lokalen KP-Bezirksparlamentariern ergreift das Wort: "Sie konnte alle die schöne Landschaft hier bewundern. Wir wollen auch die gute Luft und die Landschaft hier erhalten, aber deswegen wollen wir nicht in einem Museum leben, wo am Ende nur noch wenige Rentner für die Besucher ausgestellt sind."  

Die örtliche Rechte war dagegen wenig begeistert von der Mobilisierung für die Belange der Services publics in der Creuse, ebenso wenig wie der lokale Ableger des Unternehmerverbands MEDEF ("Das schafft ein schlechtes Image für die Region"). Unterwegs gibt es bei einem UMP-Büro in Guéret leichten Glasschaden ­ ja, schlimm, erschröcklich.  

Ausblick auf eine bewegte Woche und - heute  

Die Demo von Guéret bildete nur den Auftakt zu einer insgesamt bewegten sozialen Woche. Am Dienstag und Donnerstag mobilisieren erneut die französischen SchülerInnen, zusätzlich am Donnerstag die Gewerkschaften, die gegen Lohnverlust und Arbeitszeitverlängerung protestieren. Regierung und Patrioten fürchten, dass darüber die Pariser Bewerbung für die Olympischen Spiele von 2012 ins Wasser fallen dürfte. Denn just am Donnerstag (10. März) kommt das Internationale Olympische Komitee zu Besuch. Echtes Pech.  

Editorische Anmerkungen

Der Autor stellte uns seinen Text am 10.03. 2005 zur Veröffentlichung zur Verfügung. Eine stärker gekürzte Fassung erschien in der Wochenzeitung (WoZ), Zürich