"Das Treffen von Guéret gegen die französische Wüste" kündigte die
Pariser Tageszeitung Le Monde am vorigen Samstag an. So wüstenhaft sieht
die Gegend, um die es geht, freilich gar nicht aus: Bäume wechseln sich ab
mit Feldern, des öfteren sieht man Kühe unter der Schneedecke grasen, und
dazwischen liegen einige Sägewerke oder Fleisch und Milch verarbeitende
Betriebe. Der Bus der linken Postgewerkschaft SUD PTT fährt von Paris aus
quer durch das ländliche Zentralfrankreich, abseits der Autobahn, die wegen
heftiger Schneefälle und Glatteis gesperrt ist auf dem Weg nach Guéret, wo
wir an diesem Samstag nachmittag (6. März) erwartet werden.
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Die Fotos
wurden uns vom Autor zur Verfügung gestellt |
Dort werden in wenigen Stunden über 6.000 Menschen demonstrieren und drei
Stunden lang durch den Schneesturm ziehen: "Gegen die französische Wüste".
Eine eher ungewohnte Erfahrung an diesem Ort, die aber von vielen
Ortsansässigen neugierig-positiv aufgenommen wird, wenn sie sich nicht
gleich dem Zug anschließen. Aufgrund der Temperaturen erscheint eine andere
Metapher, die am Vortag von vielen Journalisten benutzt wurde, eher
deplatziert: Sie hatten von einem "kleinen Porto Alegre" gesprochen.
La Creuse
Guéret mit knapp 15.000 BewohnerInnen ist die Bezirkshauptstadt des
innerfranzösischen Départements La Creuse. Die nächste größere Stadt ist das
regionale Zentrum Limoges, das weiter westlich liegt. La Creuse, das sind
heute etwa 124.000 Einwohner gerade einmal halb so viel wie vor 100
Jahren. Heute leben in dem Département nur noch durchschnittlich 23
Einwohner pro Quadratkilometer. Dem war nicht immer so, aber die in
Frankreich noch bis in die siebziger Jahre hinein anhaltende Landflucht und
die agrarische Krise haben zur Entvölkerung beigetragen.
Landflucht und die Politik der Bourgeoisie
Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten in Frankreich noch 25 bis 30 Prozent
der aktiven Bevölkerung von der Landwirtschaft, da die Industrialisierung
sich bis dahin noch weitgehend auf die städtischen Ballungsräume rund um
Paris, Lyon und Marseille beschränkte: Die Regierenden hatten Angst vor zu
vielen Arbeiterstädten, die als potenzielle "Unruheherde" im ganzen Land
verteilt wären - und zogen es deswegen vor, die gesamte
Industriearbeiterschaft in wenigen Zonen zu konzentrieren. Die Früchte
dieser Strategie sorgten einerseits für die überdimensionierte Ausdehnung
der Banlieues, also der Vorstadtzonen oder Trabantenstädte der urbanen
Zentren, in denen sich heute zahlreiche soziale Probleme wie in einem
Brennglas konzentrieren.
Andererseits aber blieben die ländlichen Zonen noch bis in die Mitte des
20.
Jahrhunderts weitgehend unverändert. Dann aber gerieten große Teile des
Agrarsektors, aufgrund ihrer geringen Rentabilität, in die Krise: Zahllose
Bauern machten Pleite und mussten ihre Höfe aufgeben. Um 1983 waren immer
noch 13 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, heute sind es
nur noch ein Viertel davon. Da aber das strukturelle Übergewicht etwa des
Pariser Großraums erhalten blieb und sich nach wie vor die Mehrheit der
Jobangebote dort konzentrierte, wanderten viele Franzosen aus dem
Landesinneren noch bis vor wenigen Jahren ab.
Kahlschlag bei den Services publics
Heute ist es aber ein anderer Grund, der den Einwohnern des eher
ländlichen Départements zu schaffen macht und der eine jetzt immer lauter
werdende Kritik herausfordert. In jüngerer Zeit haben sich viele öffentliche
Dienste, aufgrund der Tendenzen zur Privatisierung bisheriger Services
publics (öffentlichen Dienste) oder - zumindest ihrer Unterstellung unter
die überall Einzug haltenden Rentabilitätsansprüche, aus den relativ schwach
besiedelten Bezirken immer mehr zurückgezogen.
Der französische Service public unterscheidet sich übrigens deutlich vom
öffentlichen Dienst, seinem vermeintlichen deutschen Synonym. Denn erstens
wurde in Frankreich ein Kriterienkatalog für den Begriff des Service public
definiert, der einerseits vom universalistischen Anspruch der Französischen
Republik (ein Restbestand ihres bürgerlich-revolutionären Erbes von einst)
geprägt ist. Andererseits hinterließ auch die Periode der antifaschistischen
Regierungskoalition unmittelbar nach der Befreiung von 1944 (unter
Einschluss der KP) ihre Spuren, denn damals wurden die öffentlichen Dienste
und die verstaatlichen Unternehmen als eine Art Vorwegnahme einer
nicht-kapitalistischen Gesellschaft betrachtet. Ja ja, lange ist¹s her...
Zum strikt einzuhaltenden Kriterienkatalog für einen Service public gehört
also (theoretisch!) die Nicht-Rentabilität, der gleiche Zugang für alle
BürgerInnen unabhängig von Einkommen oder geographischer Situation... Aber
auch der "péréquation" genannte Ausgleich zwischen finanzschwachen und
starken Regionen durch Finanzierung der nicht-rentablen Regionen durch die
rentableren.
Im Übrigen gibt es in Frankreich kein Beamtenverhältnis im deutschen
Sinne,
d.h. im Sinne eines auf besondere Loyalität zur Staatsmacht verpflichteten
Korps (mit Ausnahme der bewaffneten Staatsorgane). D.h., dass alle
Staatsbediensteten beispielsweise das Streikrecht haben. Sie sind auch nicht
wesentlich besser bezahlt als die Privatbeschäftigten, sondern im Gegenteil:
Häufig verdienen die Staatsangestellten wesentlich schlechter als jene der
Privatindustrie oder Dienstleistungsunternehmen, was mit dem (bisher)
geringeren Entlassungsrisiko gerechtfertigt wird.
Den neoliberalen Regierungen sind die "Services publics à la française"
seit
längerem ein Dorn im Auge. 1995 konnte im Laufe des Streikherbsts der
Eisenbahner und anderer öffentlicher Dienste ein Regierungsplan gerade noch
verhindert werden, der vorsah, 6.000 Streckenkilometer der französischen
Bahn stillzulegen. Dessen Umsetzungen hätte ganze Regionen völlig vom
Schienennetz abgekoppelt. Aber heute geht dieselbe Entwicklung in
verschiedenen Bereichen weiterhin vor sich, nur eher "scheibchenweise" statt
durch eine Art Generalangriff. Einwohner müssen viele Kilometer zurücklegen,
um in ein Krankenhaus, zu einem Postbüros oder einer Außenstelle der
Finanzamts zu gelangen.
Spektakuläre Ämterniederlegungen
Es war der Bezirk La Creuse, wo der massive Protest dagegen zum ersten
Mal
landesweit von sich hören machte. Im Oktober des Vorjahres 2004 traten dort
263 Bürgermeister und Gemeindeparlamentarier in einem spektakulären Schritt
gemeinsam zurück: Wenn man ihren Kommunen die Postämter und Bahnhöfe
dichtmache, sei das Leben für die Bevölkerung des Bezirks unter der sich
heute 34 Prozent RenterInnen befinden immer weniger erträglich.
Dem Protest schlossen sich Stimmen aus den Nachbardépartements an, etwa
aus
dem Bezirk von Angoulême. Den hatte man erst vor anderthalb Jahren
regierungsamtlich zum "Musterdépartement" erkoren, um eine angeblich
erfindungsreiche neue Politik zu testen: Statt verschiedene Services publics
in den einzelnen Kommunen zu behalten, sollten die unterschiedlichen
Dienstleistungen stattdessen in einem gemeinsamen "Haus der öffentlichen
Dienstleistung" fusioniert werden, wo man etwa gleichzeitig Briefmarken
kaufen und Steuern bezahlen könnte. Heute ist die Ernüchterung allgemein.
Nur eine Handvoll solcher Strukturen funktionieren, dafür ging der
allgemeine Abbau unvermindert weiter, wie Angereiste aus diesem
Nachbardépartement der Creuse erzählen viele sind, mit ihrem "Kollektiv
zur Rettung der öffentlichen Dienste", nach Guéret angereist.
Dort, wo man nur schwer für einen Samstag nach Guéret anreisen konnte,
wurde
ebenfalls demonstriert. So fanden am 6. März auch drei Demonstrationen gegen
die Zerstörung der Services publics im Département Französisch-Guyana statt
(in Cayenne, Kourou und Saint-Laurent-du-Maroni).
"In Stadt und Land, Ihr Arbeitsleute..."
Aber nicht nur von dort, sondern aus dem ganzen Land sind
UnterstützerInnen
zu der Protestdemo vom Samstag angereist. Aus dem Bezirk Seine-Saint-Denis,
der die nördlichen Trabantenstädte umfasst, ist eine größere
Solidaritätsdelegation erschienen, die selbst durch die (freilich
KP-geführte) Bezirksregierung unterstützt wird. Zur Begründung erklären die
Großstädter, auch die so genannten "sozialen Brennpunkte" oder
"Problemzonen" in ihrem Bezirk würden als nicht rentabel für die
Aufrechterhaltung öffentlicher Dienstleistungen eingestuft, da die
Kundschaft hier wenig finanzkräftig sei.
Die Postbank, die bisher keine finanzschwachen KundInnen abweisen darf
(für
die Zukunft wird das Gegenteil befürchtet, da sie nach einem derzeit im
Parlament anhängigen Gesetzentwurf in ein eigenständiges Kreditinstitut
umgewandelt werden soll) ist der größte Finanzdienstleister in dem
Département nördlich von Paris. Die Privatbanken erheben für zahlreiche
Menschen dort zu hohe Gebühren, auch wenn ihr Service besser ist. Aber auch
in Seine-Saint-Denis befürchtet man für die Zukunft einen Kahlschlag bei den
"nicht rentablen" Services publics.
Bereits heute allerdings ist die Lage für die Einwohner des insgesamt
"finanzschwachen" Départements nicht rosig und drückt sich u.a. in oft
extrem langen Warteschlangen an den Postschaltern aus. Denn bereits heute
(wo La Poste noch immer ein Service public ist und noch nicht vollständig
wie ein Privatunternehmern verwaltet wird) richtet sich die Zahl der an
einem Ort oder in einem Stadtteil geöffneten Postbüros nach dem Kriterium
des Umsatzes in Geld, nicht nach der Anzahl der Köpfe der Einwohnerschaft
oder jener der registrierten PostkundInnen. Deswegen gibt es im relativ
menschenarmen und superteuren 8. Arrondissement von Paris kaum
Warteschlangen, da dort viele größere Unternehmen ihren Sitz haben und die
bestehen auf "ihrem" Service, ohne Verzögerung durch lästiges Warten! In den
ärmeren Stadtteilen von Paris oder gar in den Banlieues sieht die Lage
dagegen völlig anders aus. (Das ist übrigens auch ein Problem hinsichtlich
der Schaffung politischen Bewusstseins für die Gefahr der Privatisierung
öffentlicher Dienste. Denn wenn man in öffentlichen Aktionen darauf
aufmerksam macht, wie ATTAC sie in der Vergangenheit unternahm und derzeit
Gegner der neoliberalen EU-Verfassung sie vornehmen, dann bekommt man
mitunter von verständlicherweise entnervten Postkunden in den langen
Warteschlangen zu hören: "Na, er ist wirklich toll, Euer Service public! Und
das soll ich verteidigen? Geschieht denen ganz recht!")
Regierung versucht Gemüterberuhigung
Die Regierung von Jean-Pierre Raffarin versuchte in den letzten Wochen
bereits die Gemüter zu beruhigen. Anlässlich des Beginns der
Parlamentsdebatte um das neue Postgesetz Ende Januar 05 erklärte er,
nirgendwo würden zukünftig Postbüros einfach so geschlossen stets werde
für Ersatz durch so genannte "Points de service" gesorgt, darauf werde die
Regierung achten.
Das ist freilich eine Mogelpackung, denn diese Servicepoints werden in
der
Regel aus einem Briefmarkenverkauf beim Einzelhändler bestehen, der dazu
durch die Post ermächtigt wird. Dort wird man aber weder Pakete und
Einschreiben abschicken noch Postbankoperationen vornehmen können;
allenfalls ist in den Auflagen das Abheben von maximal 150 Euros vom
Postsparbuch "zur Nothilfe" (pour dépannage) vorgesehen. Die linke
Postgewerkschaft SUD PTT hat im Übrigen auf einem vierseitigen Faltblatt,
das in der Demo verteilt wird, haargenau aufgelistet, welche "opérations"
(Dienstleistungen) in einem Postbüro möglich sind und welche an einem
"Point de service" nur noch angeboten werden. Ein tragbarer "Point Poste"
wird symbolisch in den Reihen der SUD-Basisgewerkschafter mit herumgetragen.
Die Linke ist dabei, aber Sozi-Oberkarnickel stößt auf kalten Empfang
Neben den Kollektiven für den Erhalt der Services publics aus vielen
Départements sind auch aus mehreren Teilen Frankreichs Gewerkschafter der
CGT, der Lehrergewerkschaft FSU und (mit dem wohl stärksten Block dabei) der
linksalternativen SUD-Gewerkschaften angereist.
Auch politische Vertreter aus der gesamten Linken sind dabei. Das
Spektrum
reicht von den undogmatischen Trotzkisten (mit dem "Briefträger", dem
ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der LCR und SUD-Gewerkschafter,
Olivier Besancenot) bis hin zum Chef des Parti Socialiste (PS): François
Hollande. Der bekommt freilich eine Ladung Schneebälle aus der Demonstration
ab, von GegnerInnen der neoliberalen EU-Verfassung die durch Hollande ebenso
wie durch die regierende bürgerliche Rechte unterstützt wird: Ein flagranter
Widerspruch zu seinem Eintreten gegen die Folgen neoliberaler Politik in der
Creuse, meinen viele Demonstranten. Auch einige PS-Mitglieder stimmen zu.
Die KP ihrerseits hat recht massiv mobilisiert und hält 30 Minuten vor
Demobeginn eine Pressekonferenz im Obergeschoss des Rathauses von Guéret ab
ohne Beteiligung der anderen Kräften, was man als leichte Vereinnahmung
betrachten mag. Zusammen mit der KP-Chefin Marie-George Buffet treten
mehrere örtliche Bürgermeister und Bezirksparlamentarier der KP auf. Ich
schmuggele mich in die Pressekonferenz ein, zusammen mit meinem Kumpel
Rafiq. (Das ist der, der an nur einem Wochenende 60 mal hintereinander in
die französische KP eintrat. Doch doch: Auf dem jährlichen KP-Fest "Fête de
l¹Humanité" gibt es nämlich für jedes Neumitglied Freibier. Am Ende
übernachtete er unter dem Tisch im Bierzelt...) Marie-George Buffet
verknüpft das Nein zum Kahlschlag bei den Services publics mit dem Nein zur
neoliberalen EU-Verfassung, über die Frankreich am 29. Mai abstimmen wird.
Einer von den lokalen KP-Bezirksparlamentariern ergreift das Wort: "Sie
konnte alle die schöne Landschaft hier bewundern. Wir wollen auch die gute
Luft und die Landschaft hier erhalten, aber deswegen wollen wir nicht in
einem Museum leben, wo am Ende nur noch wenige Rentner für die Besucher
ausgestellt sind."
Die örtliche Rechte war dagegen wenig begeistert von der Mobilisierung
für
die Belange der Services publics in der Creuse, ebenso wenig wie der lokale
Ableger des Unternehmerverbands MEDEF ("Das schafft ein schlechtes Image für
die Region"). Unterwegs gibt es bei einem UMP-Büro in Guéret leichten
Glasschaden ja, schlimm, erschröcklich.
Ausblick auf eine bewegte Woche und - heute
Die Demo von Guéret bildete nur den Auftakt zu einer insgesamt bewegten
sozialen Woche. Am Dienstag und Donnerstag mobilisieren erneut die
französischen SchülerInnen, zusätzlich am Donnerstag die Gewerkschaften, die
gegen Lohnverlust und Arbeitszeitverlängerung protestieren. Regierung und
Patrioten fürchten, dass darüber die Pariser Bewerbung für die Olympischen
Spiele von 2012 ins Wasser fallen dürfte. Denn just am Donnerstag (10. März)
kommt das Internationale Olympische Komitee zu Besuch. Echtes Pech.
Editorische Anmerkungen
Der Autor stellte uns seinen Text
am 10.03. 2005 zur Veröffentlichung zur Verfügung. Eine
stärker gekürzte Fassung erschien in der Wochenzeitung (WoZ), Zürich
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