ALGERIEN : « Rotes Tuch » für die Armee weggezogen ?
Nach mehreren Monaten ungewissen Wartens besteht jetzt Klarheit über die neue Post-Bürgerkriegs-Amnestie

von Bernhard Schmid (Paris)
03/06

trend
onlinezeitung

Nach über fünfmonatiger Ungewissheit wurde am Dienstag (21. Februar) erstmals klar, welche Konturen die neue Amnestieregelung in Algerien annehmen wird.

Am 29. September vorigen Jahres hatte Präsident Abdelaziz Bouteflika( je nach Transkription aus dem Arabischen auch Boutefliqa geschrieben) über den Grundsatz einer von oben initiierten « nationalen Aussöhnung » abstimmen lassen. Auf ihrer Grundlage sollten angeblich endlich alle Gräben, die während der Bürgerkriegsjahre 1992 bis 1999 aufgerissen worden waren, zugeschüttet werden. Eine solche Initiative hatte Abdelaziz Bouteflika erstmals öffentlich in einer Rede vom 31. Oktober 2004 angekündigt, aus feierlichem Anlass, am Vorabend des fünfzigsten Jahrestags der Eröffnung des algerischen Befreiungskriegs gegen den französischen Kolonialismus (1. November 1954). Damals zog Bouteflika/Boutefliqa noch öffentlich eine Generalamnestie für alle Teilnehmer am ehemaligen Bürgerkrieg, aber auch an den fortexistierenden bewaffneten Grüppchen in Erwägung.

Der Text der « Charta für Frieden und nationale Versöhnung », der als Abstimmungsvorlage beim Referendum vom 29. 09. 2005 diente, enthielt jedoch wenig Konkretes bezüglich der Regeln und Bedingungen für die neue Amnestie. Vielmehr steckte das Wesentliche im Schlusssatz : « Das Volk vertraut seinem Präsidenten und erteilt ihm den Auftrag, alle notwendigen Manahmen zu ergreifen ». Die längere Krankheit Bouteflikas (der die Monate November und Dezember 2005 überwiegend in einem Pariser Krankenhaus zubrachte) hat wohl dazu beigetragen, dass die Ausführungsbestimmungen, welche die notwendigen Präzisierungen beinhalten sollten, so lange ausblieben. Am 21. Februar 2006 hat das algerische Kabinett die konkreten Ausführungsbestimmungen jetzt angenommen, am folgenden Tag wurden sie durch die algerische Presse publiziert.

Amnestieregelung für bewaffnete Islamisten : Unter Bedingungen

Ähnlich wie bei der groen Amnestie von 1999 und Anfang 2000, am Ausgang des offenen Bürgerkriegs, gibt es jetzt eine sechsmonatige Ausschlussfrist. Jene Angehörigen bewaffneter Islamistengrüppchen – es bleiben einige hundert Bewaffnete übrig, die besonders im GSPC (Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf) zusammengeschlossen sind -, die von der Amnestie profitieren wollen, müsse sich innerhalb dieser Frist den Behörden stellen. Nach deren Ablauf sind sie erneut (ohne Sonderbedingungen) staatlicher Strafverfolgung ausgesetzt, das Amnestieangebot bleibt für sie wirkungslos.

Ausgeschlossen von der Amnestie bleiben die, denen eine individuelle Teilnahme an Kollektivmassakern nachgewiesen werden kann. Dieses Mal ist (anders als 1999/2000) jedoch der Nachweis einer individuellen Verübung von Mord, sofern es sich nicht um Kollektivmassaker oder Bombenanschläge auf öffentlichen Plätzen handelt, kein Ausschlussgrund mehr. Diese Debatte ist freilich theoretisch, denn all jene Mitglieder bewaffneter Gruppen, die sich im Rahmen der verschiedenen Amnestieregelungen der Vergangenheit (jener von 1999/2000, oder kleinerer Amnestieverordnungen) den Behörden stellten, wollen angeblich stets alle immer nur Schmiere gestanden oder ihre Mitkämpfer bekocht haben. Es ist nicht nachgewiesen, dass ein einziger von ihnen wegen konkreter, individuell (mit) verübter Taten belangt worden wäre. Dennoch: Von einer Generalamnestie für alle ehemals bewaffneten Islamisten, über die Bouteflika vor anderthalb Jahren öffentlich nachdachte, sind die jetzt ergriffenen Manahmen doch noch ziemlich weit entfernt.

Am Mittwoch, 01. März wurden ferner, im Rahmen der nunmehr sich präzisierenden Amnestieregelung, insgesamt 2.200 ehemalige Aktivisten aus der Haft entlassen. Nach Angaben des Kabinettschefs im Justizministerium, Abdelkader Sahraoui, gegenüber der Tageszeitung Liberté (vom 02. März) befanden sich bis dahin noch 3.000 Anhänger i slamistischer bewaffneter Gruppen in den Gefängnissen des Landes. Sie waren zum Teil wegen Terrorismusdelikten, zum Teil aber auch wegen «Propaganda für den» bzw. «Ermutigung des Terrorismus» sowie Finanzierung bewaffneter Gruppen in Haft. 1.000 von ihnen, die bereits verurteilt worden waren, seien nunmehr im Rahmen der neuen Amnestiewelle vom Präsidenten begnadigt worden. Bei 1.200 Häftlingen, die noch auf ihre rechtskräftige Verurteilung warteten, wird die Stratfverfolgung eingestellt und der staatliche Strafanspruch erlöscht. 800 weitere Gefangene, denen Anstifung zu, (Mit-)Täterschaft bei oder Beihilfe zu Kollektivmassakern oder Bombenanschlägen auf öffentlichen Plätzen vorgeworfen wird, kommen hingegen nicht sofort frei. Derselben Quelle zufolge wird ihr Strafma jedoch reduziert werden: Todesurteile werden in Haftstrafen umgewandelt, Freiheitsstrafen verkürzt werden.

Durch Staatsorgane « Verschwundene »: Entschädigung, aber keine Aufklärung oder Strafverfolgung

Ansonsten gibt es nun erstmals staatliche Entschädigungszahlen für die Angehörigen von « Verschwundenen », die mutmalich durch staatliche Sicherheitskräft e verschleppt wurden. Nach quasi-offiziellen Angaben staatlicher Stellen, die im Vorfeld des letztjährigen Referendums veröffentlicht wurden, räumt die Staatsmacht mittlerweile 6.200 « Verschwundene » ein. Das ist nur ein kleinerer Ausschnitt aus dem Gesamtkatalog der Schrecken des Bürgerkriegs, der insgesamt rund 150.000 Menschenleben forderte – die Toten gehen dabei insgesamt sowohl auf das Konto bewaffneter Islamisten als auch auf jenes von Staatsorganen. Aber zugleich beträgt die Zahl der jetzt offiziell staatlicherseits eingeräumten « Verschwundenen » durchschnittlich drei Personen pro Tag, während der Jahre des « heien » Bürgerkriegs. Das ist erschreckend genug.

Aber jegliche Strafvorstellung gegen Mitglieder von Staatsorganen wird definitiv ausgeschlossen, wie auch Ermittlungen über ihre genauen Verantwortlichkeiten. Äuerungen im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg, die « den Staat destabilisieren » oder « das Ansehen Algeriens in der Welt » in den Schmutz ziehen könnten, werden unter Strafe gestellt.

Gegen diesen staatlichen, autoritär verordneten « Schlussstrich » gibt es mittlerweile (genauer seit der Debatte, die dem Referendum vorausging) Proteste von beiden Seiten : sowohl von Angehörigen ehemaliger «Verschwundener» als auch von Familien der Opfer islamistischer Terrorgruppen. Erstmals arbeiteten beide jetzt auch zusammen, während diese Opfergruppen in der Vergangenheit häufig gegeneinander arbeiteten : Die Familien der mutmalich durch Staatsorgane Verschleppten wurden mitunter durch die radikal-islamistische Opposition und ihre Bündnispartner politisch instrumentalisiert ; die Angehörigen von « Terrorismusopfern » hingegen durch den Staat oder aber durch eine Fraktion in der Armee und der algerischen Presse, die gegen zu viel « Zugeständnisse » an die Islamisten im Rahmen der Beendigung des Bürgerkriegs eintrat. Diese Phase der wechselseitigen Instrumentalisierung realen menschlichen Leids ist jetzt ansatzweise überwunden. Etwa im Rahmen der neuen Führung der (oppositionellen) algerischen Menschenrechtsliga LADDH, die im September 2005 gewählt wurde und an ihrer Spitze den ehemaligen FLN-Linken und Anhänger des « Selbstverwaltungssozialismus » in den Jahren nach der Unabhängigkeit, Hocine Zahouane, hat, arbeiten beide Opfergruppen jetzt zusammen. Repräsentanten beider Gruppen bekamen im Vorfeld des Referendums vom 29. September 2005, aufgrund ihrer Proteste gegen die von Bouteflika verordnete Zustimmung zur « Versöhnung von oben », auch den Polizeiknüppel zu spüren.

Auch in der vergangenen Woche kam es, aufgrund der bekannt gewordenen präzisierenden Ausführungsbestimmungen zur Amnestie, erneut zu Protestaktionen. An ihnen nahmen vor allem Familienangehörige von «Verschwundenen» teil.

Fazit


Nachdem die schwelende Konflikte zwischen Bouteflika und hohen Militärs gelöst scheinen (die Armee musste 2004/05 einige Umbesetzungen an höherer Stelle, und Pensionierungen bisher führender Generäle hinnehmen), hört der Präsident jetzt auf, das « rote Tuch » vor ihren Augen zu schütteln. Bouteflikas zeitweiligen öffentlichen Überlegungen über eine « Generalamnestie », oder aber die erfolgte Quasi-Anerkennung des Schicksals von « Verschwundenen » - was potenziell die Möglichkeiten von Strafverfolgungen gegen Militärs eröffnete –, hatten genau die Funktion eines solchen « roten Tuchs ». Es ist nunmehr wieder eingesteckt worden. Mit den jetzigen Regelungen können auch die hohen Offiziere leben.
 

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns in der vorliegenden Fassung vom Autor am 3.3.2006 zur Verfügung gestellt.