Ilse Schwipper wurde 1937 geboren und saß im Zusammenhang mit
Aktionen der Bewegung 2. Juni 12 Jahre in Untersuchungshaft,
davon siebeneinhalb Jahr in Isolation. Sie lebt heute in Berlin
und veröffentlicht Artikel und Bücher zum Thema Isolationshaft.
30 Jahre nach dem »Deutschen Herbst« gibt es noch einmal ein
riesiges Medieninteresse am »bewaffneten Kampf«. Hat sich die
Berichterstattung im Vergleich zu anderen Jahrestagen verändert?
Teilweise. Was sich in all den Jahren aber nicht geändert hat
ist die Diffamierung der 68er Bewegung im Allgemeinen und des
militanten Teils der Bewegung im Besonderen. Eine gravierende
Änderung gibt es allerdings. Aktuell kommt zu den
Diffamierungen die Geschichtsverfälschungen hinzu.
Welche meinen Sie?
Eine der gravierendsten Geschichtsfälschungen besteht in der
Behauptung, dass es in der BRD weder politische Gefangene noch
weiße Folter gegeben hätte und hat. Weiße Folter ist die
Bezeichnung für die Bedingungen unter Isolationshaft. Mit
solchen Maßnahmen wollte der Staat Persönlichkeiten zerstören.
Gesundheitliche Dauerschäden bei den Betroffenen resultierten
vor allem aus der weit gehenden Reduzierung sämtlicher
Sinneswahrnehmungen durch die Isolation. In der Fachsprache
heißt das Sensorische Deprivation.
Warum wird gerade auf diesen Aspekt, die Leugnung von schlechten
Haftbedingungen damals, jetzt so großer Wert gelegt?
Die Leugnung der Isolationshaft sehe ich eindeutig im
Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion, die Folter wieder
gesellschaftsfähig machen soll. Die Tatsache, dass Bilder von
Folteropfern veröffentlicht werden, wird nicht mehr als
Skandal betrachtet. Vielmehr werden diejenigen angegriffen die
die Bilder veröffentlichen. Weitere Stichworte in dem
Zusammenhang sind die Debatten um den früheren Frankfurter
Vize-Polizeichef Wolfgang Daschner und um das Schicksal von
Murat Kurnaz. Dem werden alle möglichen Verhaltensweisen
angelastet, so dass der Eindruck entsteht, er sei
selbstverschuldet nach Guantanamo gekommen.
Warum gibt es so wenige Gegenstimmen von Betroffenen?
Das hat sicher mit der aktuellen Mainstream-Diskussion zu tun,
die sich gegen Protagonisten der damaligen Kämpfe richtet. Die
Beteiligten sind erschrocken über die verbale Gewalttätigkeit
die sich in der Diskussion äußert. Das macht es ihnen schwer,
eine Gegenstimme zu Gehör zu bringen.
Sie selbst sind auch von der Umschreibung der Geschichte
betroffen.
Ja. Kürzlich haben verschiedene Zeitungen Berichte über ein
Wohnprojekt aus den 70er Jahren mit »Mordkommune«
überschrieben und gefragt: »Wie geht unser Geheimdienst mit
Terroristen um?« Diese Kommune, die K3, war weder jemals im
Zusammenhang mit so genanntem Terrorismus noch wegen
irgendwelcher Morde beschuldigt worden. In der K3 haben auch
Kinder gelebt, die heute Erwachsene sind. Einer davon lebt
noch heute in Wolfsburg. Wenn dann solche Berichte kommen, ist
das eindeutig Rufschädigung und Geschichtsfälschung. Zumal
alle damals genau wussten wer die »rote Ilse« aus dem Artikel
ist. Nachbarn von damals haben mit die Berichte gleich
zugesandt.
In der gegenwärtigen Mediendebatte zur
früheren RAF und ihren noch inhaftierten Mitgliedern wird die
Isolationsfolter kontinuierlich geleugnet. Sie als frühere
Aktivistin im Zusammenhang mit der Bewegung 2. Juni waren selbst
zwölf Jahre in Haft, davon sechseinhalb Jahre in Isolationshaft.
Wie sehen Sie die Debatte?
Meine Erfahrung mit Isolationshaft
deckt sich mit der Definition von "weißer Folter" von amnesty
international. Die Leugnung von ihrer Anwendung in
bundesdeutschen und längst auch schon internationalen
Haftanstalten ist für mich deutlich gelenkt und motiviert. Die
öffentliche Diskussion soll darauf hingeführt werden, dass
Folter wieder gesellschaftsfähig sein kann.
Können Sie die "weiße Folter" kurz
umschreiben?
"Weiße Folter" darf man sich nicht
vorstellen wie blutige Folter, vielmehr ist es ein Gesamtpaket
isolierender Maßnahmen, wobei am wichtigsten der Entzug
sinnlicher Eindrücke ist. Der Fachbegriff dafür ist
sensorische Deprivation.
Wenn Mainstream-Medien über die
Haftbedingungen politischer Gefangener wenig Wahres berichten,
wie sieht es mit der Debatte zum politischen Hintergrund der
früheren RAF aus?
Die Debatte um die frühere
Stadtguerilla hat schon vor 20 Jahren begonnen, die
Diffamierung reicht lang zurück; im Verlauf dessen ist jetzt
allerdings eine neue verbale Gewalttätigkeit festzustellen,
die richtet sich gegen alle, die früher in der Stadtguerilla
aktiv waren oder mit ihr sympathisierten. Das Gnadengesuch von
Christian Klar lieferte einen weiteren willkommenen Anlass
dazu. Der Rundumschlag gegen die Aktivisten und ihre
Sympathisanten wird im Herbst dieses Jahres seinen Höhepunkt
zeigen, nämlich zum 30. Todestag der Stammheimer RAF-
Insassen.
Wenn man sich an den früheren
Rundumschlag der Springer- Presse gegen die 68-er erinnert - was
ist heute anders an den großen Medienkampagnen?
Beispielsweise hat der Historiker
Wolfgang Kraushaar, der in den Medien ständig präsent ist,
eine weitere Hürde genommen; er betreibt Geschichtsfälschung.
Kraushaar behauptet, die Stadtguerilla wäre, ideologisch und
praktisch, antisemitisch gewesen. Und das greift um sich. Man
scheut sich nun auch nicht mehr, die RAF direkt mit den Nazis
zu vergleichen. In der Taz zitiert ein Christian Schneider die
frühere Forderung der 68- er- Bewegung: "Sagt, wer geschossen
hat!", die sich gegen die NS- Täter wandte, und fordert nun
das gleiche von den früheren RAF- Mitgliedern; Schneider
schreibt, zu Beginn der 68- er Jahre hätte gerade Ulrike
Meinhof gefordert, Faschistentäter zu benennen und zu
bestrafen, und das gleiche sei jetzt von den ehemaligen
RAF-Tätern, u. a. Christian Klar, zu verlangen. Suggestiv soll
hier die RAF mit dem Holocaust gleichgesetzt werden, Christian
Schneider schlägt damit eine Bresche für die Herrschenden; das
Strafbedürfnis der Angehörigen, die sich als Opfer empfinden,
soll befriedigt werden.
Wird Geschichtsreflexion immer
primitiver oder steht irgendwann eine Kehrtwende ins Haus?
Für mich ist diese Debatte nicht
primitiv und nicht naiv, sondern reaktionäre Konterrevolution,
die den Sinn haben soll, allen künftigen Generationen die Lust
auf Freiheit und Revolution zu nehmen.
Zielte darauf auch der ARD- Report vom
vergangenen Montag über Christian Klar, der jetzt nach 25 Jahren
Haft sein Gnadengesuch eingereicht hat?
Sicher, diese Stimmungsmache war wohl
deutlich. Politik und Öffentlichkeit verlangen Reue und hetzen
gegen jegliche Äußerung von ihm. Da hatte Christian Klar ein
Grußwort an die Rosa-Luxemburg-Konferenz gerichtet, das
Kraushaar denn sofort aufgriff, um ihm zu unterstellen, er
befasste sich gedanklich noch mit Attentaten. Da findet Klar
analytische Worte zu politischen Begebenheiten, wie
Imperialismus, Krieg und Ausbeutung, und dann wird das wieder
gegen ihn gewendet. "Sound" nennt der blasierte Kraushaar den
linken Sprachgebrauch.
Kann linke anti-imperialistische Analyse
in Zukunft noch öffentliches Gehör finden?
Das ist nicht die Frage. Das Problem
ist die Entsolidarisierung und Entpolitisierung in der
Gesellschaft, die es zu überwinden gilt.
Editorische Anmerkung
Die Interviews wurden uns von Peter Nowak
zur Verfügung gestellt.