Das Drama der deutschen
ArbeiterInnenbewegung im 20. Jahrhundert ist von zwei Eckdaten
bestimmt – dem Scheitern der Novemberrevolution 1918 und der
Machtübergabe an die Nazis 1933. Die blutige Unterdrückung des
sozialen Aufstands der radikalen Teile der ArbeiterInnenklasse
1918/1919 war das gemeinsame Werk von Mehrheits-SPD um
Ebert-Noske und Freikorps. Sie bereitete, wie Sebastian Haffner
zu Recht schrieb, das faschistische Deutschland vor. Eine
zentrale Zwischenetappe auf dem Weg in den Abgrund war der
verpasste Oktoberaufstand 1923. Er bedeutete nicht nur eine
weitere Niederlage der stärksten ArbeiterInnenbewegung der
damaligen kapitalistischen Welt, sondern öffnete gleichzeitig
dem Stalinismus in der Sowjetunion das Tor. Dies waren
wesentliche Rahmenbedingungen für die weitere Entwicklung der
KPD, aus deren Reihen später eine linksoppositionelle,
„trotzkistische“ Strömung entstehen sollte. Einige Tage nach
Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 lieferte
Leo Sedow von Berlin aus seinem Vater und Genossen Leo Trotzki
eine ernüchternde Beschreibung der Lage: „Was wir durchleben
ähnelt einer Auslieferung der Arbeiterklasse an den Faschismus …
An der Spitze Unentschlossenheit, niemand weiß, was er tun soll;
an der Basis kein Vertrauen in unsere eigenen Kräfte … Wenn
jetzt nicht eine entschlossene Aktion geschieht …, ist eine
schreckliche Niederlage unvermeidlich. Diese Aktion … ist …
meiner Meinung nach nicht mehr sehr wahrscheinlich.“ (Leo Sedow,
05.02.1933, zit. nach Pierre Broué, Trotzki, Köln o. J. [2003],
S. 880.)
ZUR VORGESCHICHTE DES
DEUTSCHEN „TROTZKISMUS“
Im Unterschied zu Frankreich existierte hierzulande relativ
lange Zeit keine Gruppierung innerhalb der KPD, die mit der
antibürokratischen russischen Linken Opposition um Trotzki
sympathisierte. Dies resultierte vor allem aus der Tatsache,
dass die „Oktoberniederlage“ 1923 sogleich zu einem bedeutenden
Thema des heftigen Fraktionskampfes in der russischen
Kommunistischen Partei geworden war. Die „literarische Debatte“
zwischen Trotzki und dem Triumvirat um Kamenew, Sinowjew und
Stalin im Herbst 1924 war nicht nur die Geburtsstunde einer
langlebigen und immer bedrohlichere Züge annehmenden Kampagne
gegen den sogenannten Trotzkismus. Gleichzeitig stellte sie mit
der Verkündung von Stalins Dogma des „Sozialismus in einem
Lande“ als Gegenstück zur Theorie der permanenten Revolution ein
wesentliches ideologisches Fundament für den Stalinismus bereit.
Die Moskauer Propaganda- Offensive gegen den angeblich „rechten
Führer“ Trotzki kam der damaligen KPD-Linken um Ruth Fischer und
Arkadij Maslow sehr gelegen. Sie nutzten sie für ihre eigenen
fraktionellen Angriffe gegen die Berliner Partei-Zentrale um
Heinrich Brandler. Erst nach der Vereinigung von Sinowjews Neuer
Opposition mit der Linken Opposition um Trotzki begann sich auch
in Deutschland das Verhältnis zum „Trotzkismus“ zu ändern. Dies
galt sowohl für die mittlerweile von Moskau ausgeschaltete
Fraktion um Fischer-Maslow als auch für die „ultralinke“
Weddinger Opposition. Allerdings wirkte das vergiftete Erbe der
scharfen innerparteilichen Auseinandersetzungen der KPD auf
politischer und persönlicher Ebene im linksoppositionellen
Spektrum noch lange nach. Dies war nicht zuletzt ein Ergebnis
der vom sowjetischen Geheimdienst seit Mitte der 20er Jahre
begonnenen Zersetzungsarbeit gegenüber linksoppositionellen
KommunistInnen. Die deutsche Geheimpolizei konnte diese
Aktivitäten übrigens detailliert überwachen. (Vgl. hierzu Günter
Wernicke, Operativer Vorgang [OV] „Abschaum“; in: Andreas G.
Graf [Hg.], Anarchisten gegen Hitler, Berlin 2001, S. 284 f.)
SCHWIERIGE ANFÄNGE
Trotzki stellte sich gleich nach seiner Ausweisung aus der
Sowjetunion im Februar 1929 der Aufgabe, die heterogenen Kräfte
der internationalen linksoppositionellen Gruppen zu bündeln.
Damals setzte er sich noch dafür ein, eine weltweit handelnde
Fraktion der bereits stalinisierten Kommunistischen
Internationale (Komintern) aufzubauen. Ziel war die Reform und
politische Wiederbelebung der Komintern auf Grundlage der
revolutionären Tradition des Oktobers, die damals
„Bolschewismus- Leninismus“ genannt wurde. Trotzkis mit strenger
Beharrlichkeit verfolgte damalige Linie lässt sich wie folgt
skizzieren: Die internationale linke Opposition wird nur dann
als Fraktion der Komintern erfolgreich sein können, wenn sie
einerseits in prinzipieller Weise die theoretischen Grundlagen
ihrer politischen Praxis klärt und sich andererseits strikt von
anderen kommunistischen Strömungen abgrenzt. Eine wesentliche
Stellung in Trotzkis politischer Konzeption nahm seine Analyse
der Sowjetunion als bürokratisch deformierter Arbeiterstaat ein.
Durch die politische und organisatorische Reform vor allem der
KPdSU, aber auch der Gewerkschaften und des Sowjetsystems könne
die ArbeiterInnenklasse von der Herrschaft der „zentristischen“,
das heißt stalinistischen Bürokratie befreit werden. Die
bedeutendste linkskommunistische Organisation in Deutschland war
der im April 1928 gegründete Leninbund. Er stand in einem
scharfen Konkurrenzverhältnis zur Weddinger Opposition, die seit
1927 ebenfalls direkte Kontakte zur russischen Linksopposition
geknüpft hatte. Im Sommer 1929 bereitete ein offener Streit
zwischen der Mehrheit der Organisation um Hugo Urbahns und einer
Minderheit um Anton Grylewicz die Spaltung des Leninbundes vor.
Bereits im Februar 1930 wurde die Minderheit ausgeschlossen. Bei
diesem Disput ging es im Kern um die Frage: Reform der KPD oder
Schaffung einer neuen Kommunistischen Partei? Fraktionelle
Streitigkeiten, persönliche Feindseligkeiten und nicht zuletzt
die von der GPU gesteuerte Zersetzungsarbeit stalinistischer
Agenten wie Roman Well (d.i. Ruvin Sobolevicius), dessen Bruder
Adolf Senin (d.i. Abraham Sobolevicius) oder Jakob Frank
verzögerten die Gründung einer neuen Organisation.
Trotzki setzte sich 1929 für eine Fraktion in der
stalinistischen Komintern ein
DIE VEREINIGTE LINKE OPPOSITION
Schließlich konnte am 30. März 1930 die Vereinigte Linke
Opposition der K.P.D. (Bolschewiki-Leninisten) (VLO) nur unter
großen Schwierigkeiten gegründet werden. Mitglied der neu
gewählten Reichsleitung (RL) der VLO war auch der eben erwähnte
Provokateur und Spitzel Roman Well. Als Zentralorgan
veröffentlichte die VLO die zweiwöchentlich erscheinende Zeitung
Der Kommunist.
Seit 1930 können wir von der organisierten Existenz eines
deutschen „Trotzkismus“ sprechen. Allerdings zeigte sich, dass
die rund 200 Mitglieder zählende VLO keineswegs eine
einheitliche, geschweige denn eine wirklich handlungsfähige
Organisation war. Die Vereinigung der Leninbund- Minderheit um
Anton Grylewicz und der Weddinger Opposition um Kurt Landau war
nicht auf der Grundlage einer ernsthaft diskutierten politischen
Plattform vollzogen worden, sondern lediglich auf der formalen
Basis der Parität. Hinzu kam das Auseinanderklaffen zwischen
Anspruch und Wirklichkeit. Die Bürokratisierung der
Kommunistischen Partei ließ nur sehr bescheidenen Spielraum für
die von der VLO angestrebte „Eroberung der Partei für die Lehren
des Marxismus-Leninismus“. In den Organisationsrichtlinien des
ZK der KPD hieß es: „Jedes trotzkistischer Ideen verdächtige
Parteimitglied ist ohne Verfahren unverzüglich auszuschließen.“
Die zeitgenössische linksoppositionelle Presse berichtete über
53 Ausschlüsse von Mitgliedern der Linken Opposition in den
Jahren 1930 bis 1933. Am 6. April 1930 wurde in Paris die
Internationale Linken Opposition (ILO) als „Fraktion der
Komintern“ gegründeten. Die VLO konnte als deutsche Sektion der
ILO anfangs nur begrenzte organisatorische und politische Hilfe
erwarten – wenn wir von der außerordentlichen Unterstützung
Trotzkis einmal absehen. Die internationale Koordination der
meist schwachen und oft in sich zerstrittenen Oppositionsgruppen
wirkte sich für die deutsche VLO erst später positiv aus.
Bereits im Juni 1930 verschärfte sich ein Disput in der VLO, der
mehrere Monate lang die Kräfte der Organisation beanspruchte.
Kern der Auseinandersetzungen war ein schwer zu durchschauendes
Knäuel von Meinungsverschiedenheiten, Intrigen und
Provokationen. Das jahrelang kultivierte Zirkelwesen der
linksoppositionellen Gruppen bot dafür einen fruchtbaren
Nährboden.
KONFLIKT MIT LANDAU
Die zentrale Streitfrage über das aktuelle Ausmaß der Bedrohung
der ArbeiterInnenbewegung durch den Faschismus wurde erbittert
zwischen der Mehrheit der Reichsleitung um Landau und der
Minderheit um den Agenten Well debattiert. Eine weitere
Verschärfung erfuhr diese Polemik durch die Verknüpfung mit
fraktionellen Kämpfen in der österreichischen und französischen
Linksopposition. Trotzki verfolgte mit Sorge diese Entwicklung.
Eindringlich mahnte er größere gegenseitige Toleranz an. Er
warnte davor, durch nicht gerechtfertigte interne Debatten
weitere Zeit zu verlieren. Vergeblich, wie sich bald zeigen
sollte. Auf Initiative des Internationalen Sekretariats der ILO
fand am 31. Mai 1931 eine Plenarsitzung der Reichsleitung in
Berlin statt. Landau und seine Anhänger weigerten sich jedoch,
an dieser Sitzung teilzunehmen, so dass der Bruch endgültig
vollzogen war. Vierzehn Monate nach der Gründung zerfiel die VLO
in zwei Teile, die fast identisch waren mit der ehemaligen
Minderheit des Leninbundes und der Weddinger Opposition. Die GPU
konnte einen weiteren Erfolg verbuchen. Mit der Trennung von
Landau fand die Anfangsphase des deutschen „Trotzkismus“ ihren
Abschluß. Mehr als ein Jahr lang hatten interne Querelen die
Linke Opposition weitgehend gelähmt. Der bescheidene Zuwachs an
neuen Kräften war durch die Spaltung wieder verloren gegangen.
80 Mitglieder verließen mit Landau die Organisation. Sie
verteilten sich auf Berlin, Ludwigshafen, Leipzig und
Hamburg-Harburg.
EIN NEUBEGINN
Insgesamt 150 Mitglieder in Bautzen, Berlin, Bruchsal, Forst,
Goldap, Hamborn, Hamburg, Heidelsheim, Königsberg, Leipzig und
Magdeburg wagten den Neuanfang. Da Landau die Kontrolle über die
Zeitung Der Kommunist erfolgreich verteidigt hatte, musste die
Linke Opposition zunächst mittels eines hektographierten
Mitteilungsblattes den Kontakt zu den Gruppen aufrechterhalten.
Im Juli 1931 erschien dann endlich die erste Nummer der neuen
Zeitschrift Permanente Revolution. Noch im Oktober 1931 sprach
die LO selbst von einer „Periode der gewissen Stagnation“, aber
im Dezember meinte sie, das „Stadium der Schwächung“ verlassen
zu haben und eine langsame Aufwärtsentwicklung feststellen zu
können. Erst jetzt konnte sich die eigentliche Stärke der LO,
die scharfsinnige Analyse der Endphase der Weimarer Republik,
besser entfalten. Besondere Aufmerksamkeit widmete die LO dem
bedrohlichen Ansteigen der braunen Flut vor allem seit den
Reichstagswahlen im September 1930. Die sich verschärfende Krise
des kapitalistischen Wirtschaftsystems und des Parlamentarismus,
der nur scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der Nazi-Bewegung und
das katastrophale Versagen der Führungen der
ArbeiterInnenbewegung waren zentrale Themen der
LO-Publikationen. Die auch heute noch beeindruckende Klarheit
ihrer Kommentare, Einschätzungen und Aktionsvorschläge
verdankten sie vor allem den Stellungnahmen Trotzkis. Von seinem
Exil in Prinkipo aus verstand er es wie kein zweiter, immer
wieder überzeugende, aktualisierte Antworten auf die
„Schicksalsfragen des deutschen Proletariats“ zu geben.
Unermüdlich plädierten Trotzki und die Linke Opposition für die
Schaffung einer Einheitsfront der ArbeiterInnenbewegung gegen
die faschistische Gefahr. Alle ihr zur Verfügung stehenden
Mittel konzentrierte die LO auf die Herausgabe und Verbreitung
preiswerter Trotzki-Broschüren. Seit Ende 1931/Anfang 1932
fanden Trotzkis in kurzen Abständen verfasste Analysen der
deutschen Entwicklung einen wachsenden Widerhall bei Mitgliedern
von KPD, SPD und Sozialistischer Arbeiterpartei (SAP), ja sogar
bei „linksbürgerlichen Kreisen“. Im Juni 1932 bezifferte Anton
Grylewicz die Gesamtauflage der seit April 1931 herausgegebenen
Broschüren auf 67.000, von denen zum damaligen Zeitpunkt 55.000
Exemplare verbreitet worden waren. Appelle wie der folgende im
internen Mitteilungsblatt der Reichsleitung waren keine
Seltenheit: „Jeder Genosse muß es sich zur Pflicht machen,
mindestens 10 Stk. der neuen Broschüre des Gen. Trotzki: "Der
einzige Weg zu verbreiten“. Neben der Herausgabe und Verbreitung
von Trotzki- Broschüren widmete die LO seit Anfang 1932 ihrer
Monatszeitung Permanente Revolution verstärkte Aufmerksamkeit.
Ab 1. Januar 1932 erschien die Permanente Revolution
vierzehntägig und schließlich ab Ende Juli 1932 als
Wochenzeitung im Zeitungsformat. Die Auflage, die sich seit dem
Erscheinen der ersten Ausgabe mehr als verdoppelt hatte, wurde
im August 1932 mit 5.000 Exemplaren pro Nummer angegeben. Im
Vergleich zur ersten trotzkistischen Zeitschrift, dem Kommunist,
stellte die Permanente Revolution aufgrund ihres verbesserten
Inhalts und des häufigeren Erscheinens sicherlich einen
Fortschritt dar. Die Zeitung und die Broschüren Trotzkis waren
das eigentliche Bindeglied der LO.
ORGANISATORISCHER
AUFSCHWUNG
Die propagandistischen Anstrengungen der Linken Opposition
erhöhten den Einfluss ihrer Ideen in einem Ausmaß, das im
Verhältnis zur Größe der Organisation bedeutend war. In
Diskrepanz dazu befand sich die organisatorische Entwicklung der
LO, wenn auch hier seit Ende 1931 ein deutliches Wachstum und
die Gründung neuer Ortsgruppen zu verzeichnen waren. Vor allem
die Hamburger und die Bruchsaler LO vergrößerten ihre
Mitgliederzahlen. In Oranienburg schloß sich eine größere
ArbeiterInnengruppe der LO an. Der Linken Opposition gehörten
sowohl winzige Propaganda- Stützpunkte als auch einige wenige,
aber örtlich relativ einflussreiche Gruppen in kleineren Städten
wie Bruchsal, Oranienburg oder Dinslaken an. Dem zum größeren
Teil aus älteren Kadern bestehenden Kern der LO schlossen sich
seit Ende 1931 vor allem jüngere, das heißt 18- bis 35- jährige
Menschen an. Trotz ihrer Jugend waren sie meist schon mehrere
Jahre Mitglieder, teilweise auch FunktionärInnen der KPD oder
des Kommunistischen Jugendverbandes (KJV) gewesen. Von ihrer
sozialen Zusammensetzung her war die LO im Gegensatz zu der auch
heute noch verbreiteten Legende des „intellektuellen
Trotzkismus“ eine ArbeiterInnenorganisation. Lediglich in
Universitätsstädten wie Berlin oder Leipzig waren StudentInnen
stärker vertreten. Insgesamt dürfte die Linke Opposition Ende
1932 ungefähr 600 Mitglieder in 44 Ortsgruppen und Stützpunkten
gezählt haben. Die Organisationsstruktur der LO orientierte sich
an den ursprünglichen Prinzipien des demokratischen
Zentralismus. Die Leitung einer Ortsgruppe wurde von der
örtlichen Mitgliederversammlung gewählt. Sofern regional eine
größere Anzahl funktionsfähiger Ortsgruppen der LO angehörten,
konstituierten sie sich auf einer Bezirkskonferenz zu einem
Bezirk und wählten sich eine Bezirksleitung. Außer dem bereits
1930 geschaffenen Bezirk Sachsen entstanden bis Anfang 1932
weitere Bezirke unter anderem Rhein- Ruhr, Berlin-Brandenburg,
Wasserkante und Südwest. Die Reichskonferenz, auf der die
Ortsgruppen durch Delegierte vertreten waren, wählte das
Führungsorgan der LO, die 16-köpfige Reichsleitung. Eine
siebenköpfige Redaktionskommission besorgte die Herausgabe der
Permanenten Revolution.
EINHEITSFRONT GEGEN
FASCHISMUS IN BRUCHSAL …
Richten wir an dieser Stelle unser Augenmerk auf die
nordbadische Kleinstadt Bruchsal. Denn dort befand sich die mit
100 Mitgliedern stärkste lokale Organisation der LO. Sehr zum
Ärger der führenden badischen KPDFunktionäre stellten die
„Trotzkisten“ dort die einzige kommunistische Kraft dar. Alle
Versuche der KPD-Bürokratie, die Bruchsaler LO um Paul Speck zu
„liquidieren“, scheiterten an deren starker Verankerung in der
Bruchsaler ArbeiterInnennschaft. Die Linke Opposition spielte
eine führende Rolle in den örtlichen Gewerkschaften und der
ArbeiterInnensportbewegung. Bei den badischen Kommunalwahlen
erhielten die Bruchsaler Linksoppositionellen 889 Stimmen und
damit neun Gemeinderatssitze. Im Gemeindeparlament setzten sich
die Vertreter der LO vor allem für die Interessen der
Erwerbslosen ein. Auf Initiative der Bruchsaler LO gelang es
gegen den anfänglichen Widerstand der örtlichen SPD-Führung, im
Oktober 1931 einen paritätischen Aktionsausschuss aus LO, SPD,
Gewerkschaften und anderen proletarischen Organisationen zu
bilden. Zu Versammlungen gegen Lohnabbau und Faschismus konnte
der Aktionsausschuss jeweils weit über 1000 Menschen
mobilisieren. Das starke Wachstum der Bruchsaler LO-Gruppe und
ihr Einfluss in den umliegenden Ortschaften Forst, Bretten und
Heidelsheim verdankte sie nicht zuletzt diesen Bemühungen.
Offensichtlich auf Anweisung einer höheren Parteiinstanz verließ
die SPD 1932 das Einheitskomitee. Die „bewusste
Sprengungspolitik“ des örtlichen SPD-Führers, so meinte die
Bruchsaler Linke Opposition, sei dadurch erleichtert worden,
dass ihre Einheitsfrontpolitik nicht über Bruchsal hinaus
verwirklicht worden war. Trotz dieses Rückschlags konnte die
Bruchsaler LO ihren politischen Einfluss ausweiten. Bei den
Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 erhielt die LO für die KPD
1.000 Stimmen, die SPD lediglich 500 Stimmen. In seiner
Broschüre Was nun? nannte Trotzki Bruchsal „trotz der
bescheidenen Ausmaße ein Vorbild für das ganze Land“. …
.....UND IN ORANIENBURG
Eine andere relativ einflussreiche Ortsgruppe der Linken
Opposition befand sich in Oranienburg. Die dortige KPD schloss
am 8. Januar 1932 Helmut Schneeweiß, den örtlichen Leiter des
Kampfbundes gegen den Faschismus, wegen angeblicher
Zugehörigkeit zur LO aus. Die KPD zog damit einen Schlussstrich
unter die schon längere Zeit schwelenden Differenzen in der
Einheitsfrontfrage. 56 weitere Mitglieder des Kampfbundes, die
sich mit Schneeweiß solidarisiert hatten, wurden ebenfalls
ausgeschlossen. Mit entscheidend für den Übertritt der
Oranienburger DissidentInnen zur Linken Opposition war die
politische Anziehungskraft der Schriften Trotzkis. Die neue
LO-Gruppe und der Proletarische Selbstschutz Oranienburg, einer
Nachfolgeorganisation des Kampfbundes, waren personell
weitgehend deckungsgleich. Dank dieser fast 100 ArbeiterInnen
und Arbeitslose umfassenden Organisation stellte die
Oranienburger LO einen für die örtlichen Verhältnisse
beachtlichen politischen Faktor dar. Sie wurde sofort im Sinne
der Einheitsfrontbestrebungen der LO aktiv. Das
Arbeiter-Mai-Komitee, ein Bündnis aus LO bzw. Proletarischem
Selbstschutz und SPD organisierte 1932 eine erfolgreiche 1.
Mai-Demonstration. Es zeigte derart deutlich die isolierenden
Folgen der ultralinken KPD-Politik auf, dass die KPD sich kurze
Zeit später gezwungen sah, dem in Arbeiter-Kampfkomitee
umbenannten Einheitsfrontorgan beizutreten. Das aus je fünf
VertreterInnen von SPD, KPD und LO zusammengesetzte Komitee
entfaltete eine intensive Aktivität. Außer der Veranstaltung
mehrerer antifaschistischer Kundgebungen und der Schaffung von
Arbeiterschutzstaffeln widmete es der koordinierten Betriebs-
und Erwerbslosenarbeit besondere Aufmerksamkeit. Ähnlich wie in
Bruchsal übte die Oranienburger Einheitsfrontbewegung einen
starken Einfluss auf die umliegenden Ortschaften aus. Auch dort
entstanden Einheitsfrontkomitees und Selbstschutz-organisationen
der ArbeiterInnenschaft. In verschiedenen anderen Städten
ergriff die LO die Initiative zur Bildung lokaler
Einheitsfrontausschüsse. Meist scheiterten diese Bestrebungen
jedoch schon im Anfangsstadium, weil die LO dort zu schwach war,
um den Widerstand sozialdemokratischer und stalinistischer
Funktionäre zu brechen.
LETZTE WARNUNG
Anfang Januar 1933 schlug die Permanente Revolution erneut
Alarm: „1933 [wird] das Jahr der Entscheidung sein“. (Permanente
Revolution, 3. Jg., Nr. 1, 1. Januarwoche 1933.) Die Ernennung
Hitlers zum Reichskanzler stellte für die Linke Opposition das
Ende der Epoche der „bonapartistischen“ Übergangsregimes dar,
der mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Regierungen
Papen oder Schleicher. Noch ein letztes Mal warnte die
Permanente Revolution: „Hitlers Programm ist die völlige
Zerschlagung aller politischen und gewerkschaftlichen
Organisationen der Arbeiterschaft, um den Weg für eine noch
ungeheuerlichere Verelendung der Arbeiterschaft zu öffnen. Sein
außenpolitisches Ziel ist der Krieg mit Sowjetrußland.“
(Permanente Revolution, 3. Jg., Nr. 5, 1. Februarwoche 1933,
Hervorhebungen im Original.)
ERNEUTE STALINISTISCHE
PROVOKATION
In dieser politisch entscheidenden Situation organisierte die
GPU eine erneute Spaltung der Linken Opposition. Bereits im
Herbst 1932 hatten Roman Well und sein Bruder Adolf Senin durch
eine Verschärfung der organisationsinternen Debatte diesen
Schritt vorbereitet. Es war kein Zufall, dass dies fast
zeitgleich zu Trotzkis Reise nach Kopenhagen im November 1932
und der dortigen inoffiziellen Konferenz der Internationalen
Linken Opposition geschah. In der zweiten Januar-Hälfte 1933
versuchten Well und Konsorten der ArbeiterInnenöffentlichkeit
mit einer gefälschten Ausgabe der Permanenten Revolution
weiszumachen, dass die Mehrheit der LO politisch und
organisatorisch mit Trotzki und der ILO gebrochen habe. Sowohl
die Rote Fahne der KPD als auch das Komintern-Organ Inprekorr
verbreiteten umgehend die Meldung vom „Zusammenbruch der
deutschen Trotzki-Gruppe“. Davon konnte jedoch keine Rede sein.
Etwa 35 Mitglieder spalteten sich mit diesem Coup von der LO ab.
Bezeichnenderweise kommentierten andere linke Organisationen wie
SAP, KPO, Leninbund und die Landau-Gruppe mit unverhohlener
Befriedigung die Spaltung. Zwar fiel es der LO nicht schwer, die
absurden Behauptungen der stalinistischen Agenten als „bestellte
Arbeit“ zu widerlegen. Dennoch musste die LO zugeben: „Daß
solche Leute so lange in unseren Reihen weilten, ist sicher
Ausdruck unserer Schwäche.“
WIDERSTAND UND
EMIGRATION
Die Machtübergabe an Hitler und die Errichtung der Nazi-
Diktatur markierte für Trotzki die „bedeutendste Niederlage in
der Geschichte der Arbeiterklasse“. Erneut hatte die Linke
Opposition im Wettlauf mit der politischen Entwicklung wichtige
Zeit verloren: Aufgrund der Auseinandersetzungen mit der
Well-Gruppe konnte die ursprünglich für Ende Januar 1933
geplante Reichskonferenz der LO erst in der Illegalität
stattfinden. Am 11. und 12. März 1933 trafen sich Delegierte der
Ortsgruppen, Vertreter der Reichsleitung und der ILO in Leipzig,
um die neue Situation zu analysieren. Hauptaufgabe sei es, den
Widerstand der Arbeiterklasse zu organisieren, den Aufbau einer
neuen Partei lehnte die Konferenz noch ab. Zwar glaubte sich die
Linke Opposition im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut auf die
Illegalität vorbereitet, aber sie musste bereits in den ersten
Monaten der NS-Diktatur zahlreiche Verhaftungen vor allem in den
örtlich bekannten Gruppen hinnehmen (Oranienburg,
Westdeutschland, Leipzig …) Schon nach Papens Staatsstreich am
20. Juli 1932 hatte die LO auf Beschluss der Reichsleitung mit
der Vorbereitung auf die Illegalität begonnen. Die Ortsgruppen
waren in kleine, drei bis fünf Personen umfassende Gruppen
aufgeteilt worden. Diese wählten jeweils eine Leitungsperson,
die zusammen mit den anderen auf Ortsebene eine sogenannte
Fünfergruppe bildete. Diese wiederum wählte eine Kontaktperson
zur Bezirksleitung bzw. direkt zur Reichsleitung. Durch diese
Maßnahmen sollte die LO besser vor dem Zugriff staatlicher
Repressionsorgane geschützt werden. Trotz der geringen Größe und
der spärlichen materiellen Ressourcen der Linken Opposition
dürfen ihre organisatorischen und propagandistischen
Anstrengungen im Widerstand nicht unterschätzt werden. Die
Zugehörigkeit zur Internationalen Linken Opposition erwies sich
erneut als großer politischer und organisatorischer Vorteil. Sie
milderte anfangs die Probleme, die aus der zwangsläufigen
Trennung in eine im Untergrund arbeitende Inlands- und eine im
Exil aktive Auslandsorganisation resultierten. Es war deshalb
auch kein Zufall, dass Unser Wort, die neue Zeitung der LO,
schon ab Mitte März 1933 in Prag herausgegeben werden konnte.
Unser Wort war nicht nur eine der ersten Zeitschriften der
illegalen deutschen Opposition gegen die Nazis, sie war auch
eine der Publikationen, die am längsten überlebten. Ihre letzte
Ausgabe erschien im Sommer 1941 in New York. Insgesamt
flüchteten zunächst etwa 50 Mitglieder der Linken Opposition ins
Ausland. Nicht nur in Prag, sondern auch in Paris, Amsterdam,
Antwerpen, Basel, Wien, Reichenberg, Kopenhagen und London
entstanden Gruppen und Stützpunkte. Sie betreuten von dort aus
den jeweils geographisch benachbarten Inlandsbezirk. So war zum
Beispiel die Amsterdamer Gruppe für die westdeutsche LO
zuständig. Im Sommer 1933 wurde Paris als Sitz des
Auslandskomitees (AK) bestimmt. Das Auslandskomitee stellte die
offizielle Führung der LO dar. Allerdings war die Verbindung
zwischen Exil- und Inlandsgruppen sehr fragil. Wege und
Möglichkeiten der Kommunikation und des Materialtransports
mussten erst mühsam gefunden, weiter entwickelt und oft neu
hergestellt werden. Obwohl die Gestapo die Kontakte mit dem
Ausland immer wieder unterbrechen konnte, besaßen die meisten
Inlandsgruppen zunächst ausreichende technische und politische
Ressourcen, um eigenständig arbeiten zu können. Neben illegal
hektographierten Flugblättern und Zeitschriften (wie Das andere
Deutschland, Der Vortrupp, Die kritische Parteistimme, Der Rote
Kurier) konnte sich der Widerstand auf das Zentralorgan Unser
Wort stützen. Es wurde nach Deutschland eingeschmuggelt und
beispielsweise in Berlin vervielfältigt. Wie Oskar Hippe, ein
führendes Mitglied der Gruppe berichtete, stellte die Berliner
LO etwa 300 bis 400 kleinformatige Fotoabzüge von jeder
Zeitungsseite her und verkaufte die Reproduktionen zusammen mit
einem einfachen Vergrößerungsglas der Warenhauskette Woolworth
an interessierte Kontakte. Offensichtlich konnte die LO in den
ersten Monaten der Nazi-Diktatur nicht nur die durch
Verhaftungen entstandenen Lücken teilweise wieder schließen. Sie
vermochte sogar kurzfristig, neue Kräfte vor allem aus SPD und
KPD zu gewinnen. Dadurch war trotz des NS-Terrors die
Funktionsfähigkeit der LO zunächst relativ gut gesichert, aber
die politische Verständigung über die neue Lage stand noch aus.
FÜR EINE NEUE PARTEI
Zur gleichen Zeit, als die Mehrheit der LO auf ihrer
Reichskonferenz den Kurs auf eine neue Partei ablehnte, hatte
Trotzki für die Vorbereitung einer neuen Kommunistischen Partei
plädiert. Die kampflose Niederlage der KPD im Frühjahr 1933, die
er mit der politischen Kapitulation der SPD zu Beginn des Ersten
Weltkriegs verglich, bedeute ihr Ende als revolutionäre Partei.
Der Bruch der Internationalen Linken Opposition mit der
bisherigen Orientierung auf die Reform von KPD und Komintern und
die Wende zum Aufbau neuer revolutionärer Parteien und einer
neuen Internationale führte zu Namensänderungen. Seit Herbst
1933 nannte sich die LO Internationale Kommunisten Deutschlands
(IKD), die ILO hieß seitdem Liga der Kommunisten-
Internationalisten (LKI). In dieser Phase war die SAP ein enger
Bündnispartner. Aber noch bevor die damaligen
Vereinigungsverhandlungen zwischen SAP und ILO/LKI bzw. SAP und
LO/IKD endgültig scheiterten, legte das Auslandskomitee der LO/IKD
mehr Wert als bisher darauf, die eigene Organisation in der
Öffentlichkeit herauszustellen. So erregten die Übertritte der
ehemaligen KPD-Reichstagsabgeordenten Maria Reese sowie der
prominenten Altkommunisten Karl Friedberg (d.i. Karl Retzlaw)
und Erich Wollenberg zur IKD einiges Aufsehen. Allerdings löste
Trotzkis Werben um die früheren „linken“ KPD-Führer Ruth Fischer
und Arkadij Maslow Entsetzen in den Reihen des Auslandskomitees
und der Pariser IKD-Gruppe aus. Eher Anlass zur Freude bot die
Umstellung von Unser Wort auf wöchentliches Erscheinen Anfang
Februar 1934.
„KADERARBEIT“
Im März 1934 diskutierten Delegierte aus vier IKD-Bezirken und
Vertreter des AK auf einer illegalen Organisationskonferenz, die
als Hochzeitsfeier getarnt war, ihre Widerstandstaktik. Zwar war
die besondere Bedeutung der „Kaderarbeit“ unstrittig, aber die
Bedingungen erlaubten nur ausnahmsweise die angestrebte
Konzentration auf die Betriebsarbeit, um die Verbindung zu den
Arbeitermassen wiederherstellen zu können. In der Realität
beschränkte sich die „Kaderarbeit“ im wesentlichen auf
Diskussionen und Schulungen in kleinen Zirkeln, denen nur
Mitglieder oder enge SympathisantInnen der IKD angehörten.
Darüber hinaus gab es Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen:
dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK),
sozialdemokratischen sowie parteiunabhängigen Gruppen und vor
allem zur SAP – trotz der Differenzen im Exil. Die IKD vermied
es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als Organisation im Inland
wahrnehmbar in Erscheinung zu treten. Nur ausnahmsweise wurden
zu dieser Zeit noch Flugblätter verteilt oder Widerstandsparolen
an Häuserwände gemalt. Ende 1934 analysierte die IKD, dass sich
das Bild des Faschismus zu verändern beginne. Die NS-Diktatur
stützte sich mehr als zuvor auf den Staatsapparat und weniger
auf seine aktive „ursprüngliche Massenbasis. Der Übergang zu
dieser „zweiten Periode“ des Faschismus, der „bonapartistischen“
Phase eines „Faschismus ohne Massenbasis“ wurde allerdings erst
Ende 1935 konstatiert. Die „französische Wendung“ der LKI 1934,
das heißt die Taktik des Entrismus in die Sozialdemokratie,
drängte zeitweise die Fragen des deutschen Widerstands in den
Hintergrund. Die folgenden heftigen internen
Auseinandersetzungen lähmten im Spätsommer desselben Jahres die
Organisation. Im Herbst gelang es einer Minderheit des
Auslandskomitees eine Zwei-Drittel- Mehrheit der IKD für die
Billigung der Eintrittstaktik zu gewinnen. Die Mehrheit des AK
um Bauer (d.i. Erwin Ackerknecht) spaltete sich ab und schloss
sich zunächst der SAP an, um schließlich mit anderen ehemaligen
SAP-Mitgliedern als Gruppe Neuer Weg eine kurzzeitige Existenz
zu fristen.
1934: Die NS-Diktatur stützte sich mehr als zuvor auf den
Staatsapparat
An Weihnachten 1934 fand die zweite Reichskonferenz der IKD
unter den größtmöglichen Sicherheitsvorkehrungen geheim in der
Schweiz statt. Die Delegierten des innerdeutschen Widerstands
und der Exilgruppen tagten in einem Bildhaueratelier in
Dietikon, in der Nähe von Zürich. Auf der Konferenz, die einem
Teilnehmer zufolge „ziemlich friedlich“ verlief, spielte
paradoxerweise die „Entrismus“-Frage nur eine untergeordnete
Frage. Im Mittelpunkt stand die Diskussion über die politische
Lage in Nazi- Deutschland und die Aufgaben des Widerstands vor
allem in den Betrieben. Neben der Fortsetzung der „zähen
revolutionären Kaderarbeit“ wurde eine verstärkte Hinwendung der
damals noch etwa 200 Mitglieder zählenden Organisation zur SAP
beschlossen. Neben einem Auslandskomitee wählten die Delegierten
eine Inlandsleitung der IKD.
DER ENTSCHEIDENDE
SCHLAG
Abgesehen von den schweren Verlusten in den ersten Monaten nach
der Machtübergabe an die Nazis war die Linke Opposition und
spätere IKD zunächst weitgehend vor weiteren Verhaftungen
verschont geblieben. Im Sommer 1935 warnte das Reichenberger
IKD-Mitglied Julik (d.i. Wenzel Kozlecki) im internen
Informationsdienst der IKD: „Wir dürfen… vor uns selbst kein
Versteck spielen. Unsere weitere Existenz hängt davon ab,
inwieweit und in welchem Zeitraum wir verstehen, die für unsere
Entwicklung angepassten organisatorischen Verhältnisse
herbeizuführen. Wehe uns, wenn wir im Verhältnis zur Gestapo zu
kurz treten.“ (Informationsdienst, Nr. 7/8 von August 1935, S.
22, Hervorhebungen im Original.) Diese Warnungen kamen zu spät.
Bereits im Frühjahr 1935 war es der Gestapo gelungen, die
Grundlage für ihre späteren Erfolge zu schaffen. Ab Herbst 1935
schnappte die Falle zu. Verhaftungen, Folterungen durch die
faschistischen Schergen, neue Verhaftungen, neue Folterungen –
in Hamburg, Berlin, Gelsenkirchen, Solingen, Köln, Essen, Neuß,
in Frankfurt am Main, in Magdeburg, in Danzig, um nur die
wichtigsten Gruppen zu nennen. Von November 1935 bis Ende 1936 –
im Laufe eines Jahres – waren die Strukturen des innerdeutschen
IKD praktisch zerschlagen worden. Nach dieser Verhaftungswelle
verfügte die IKD seit Anfang 1937 nur noch über zwei intakte
Gruppen, die eine in Berlin- Charlottenburg, die andere in
Dresden. In weiteren Städten standen lediglich einzelne
Mitglieder noch in Kontakt mit dem Auslandskomitee. Die
Verhafteten mussten teilweise eine mehrjährige Untersuchungshaft
ertragen, während der die Gestapo durch Folterung weitere
Informationen über die IKD zu erpressen versuchte. Die Anklagen
wegen „Vorbereitung des Hochverrats“ dienten als Grundlage für
die Verhängung meist hoher Gefängnis- oder Zuchthausstrafen. Für
viele Opfer der NSJustiz war nach der Verbüßung ihrer
Haftstrafen der Leidensweg nicht beendet. Vor allem die
WiderstandskämpferInnen, die die Gestapo als Leitungsmitglieder
der IKD identifizieren konnte, wurden danach in
Konzentrationslager in „Schutzhaft“ überführt. Eine nicht
bekannte Zahl von linksoppositionellen Kommunisten wurde in der
Gefangenschaft durch Nazis ermordet, teilweise wie im Falle
Werner Scholems mit Unterstützung von Stalinisten. Viele der
Verurteilten mussten während des Zweiten Weltkriegs im
Strafbataillon 999 Kriegsdienst leisten. Nach Schätzung des
Auslandskomitees waren 1940 mindestens 150 IKD-Mitglieder
Gefangene des Regimes.
STALINISTISCHER TERROR
Nach der Verhaftungswelle 1935/36 hatte die IKD den wesentlichen
Bezugspunkt ihrer politischen Arbeit verloren. Dadurch
verschlechterte sich die in nahezu jeder Hinsicht schwierige
Situation der Exilorganisation noch mehr. Abgesehen vom
„Kirchenkampf“ setzte sich die IKD immer seltener mit
innerdeutschen Fragen, dafür umso mehr mit internationalen
Themen (Belgien, Frankreich und natürlich Spanien) sowie mit den
Streitigkeiten in der deutschen Emigration auseinander.
Existenziell verschärfte sich die Lage der Flüchtlinge durch die
Moskauer Schauprozesse ab August 1936 und die damit verbundene
beispiellose stalinistische Hetze gegen den „Trotzkismus“ als
„Spionage- und Diversionsagentur des Faschismus“. Den Worten
folgten blutige Taten. Der mittlerweile NKWD genannte
stalinistische Geheimdienst ermordete Moulin (d.i.Hans Freund),
Rudolf Klement, Erwin Wolf und später Walter Held (d.i.Heinz Epe),
– um nur einige führende IKD-Mitglieder zu nennen. Im
Überlebenskampf der LKI unterstützten die Exilgruppen der IKD
aktiv die Kampagne zur Verteidigung Leo Trotzkis und anderer
Opfer der stalinistischen Verfolgungen.
NIEDERGANG IM EXIL
Vor diesem düsteren politischen Hintergrund entwickelte sich
eine neue Krise in der Exil-IKD. Ihre Eskalation führte im
Sommer 1937 zum Ausschluss einer kleinen Oppositionsgruppe um
Jan Bur (d. i. Walter Nettelbeck), die mit Fischer-Maslow
sympathisierte. Unter dem Einfluss von Josef Webers Theorie der
„rückläufigen Bewegung“ der Klassenkämpfe beschloss die
Exil-Konferenz der IKD am 25. und 26. August 1937 eine Abkehr
von der an Weihnachten 1934 festgelegten Orientierung. Die
späteren politischen Bruchlinien mit der IV. Internationale
waren hiermit inhaltlich bereits angedeutet. Johre (d.i. Josef
Weber) und Oskar Fischer (d.i. Otto Schüssler) stimmten als
IKDVertreter auf der geheim tagenden Konferenz der LKI am 3.
September 1938 für die Gründung der IV. Internationale, die am
Vorabend des Zweiten Weltkriegs das politische und
organisatorische Überleben des revolutionären Marxismus sichern
sollte. Die zweite Etappe des Exils begann schon kurze Zeit
später mit der Ausdehnung des Nazi-Reiches. Die Mitglieder der
Reichenberger IKD mussten vor den deutschen Truppen nach Prag
und von dort gemeinsam mit ihren Prager GenossInnen weiter
zunächst nach Frankreich oder Großbritannien flüchten. Seit dem
Beginn des Zweiten Weltkriegs war die Redaktion von Unser Wort
und später auch die Leitung der IKD nach New York verlegt
worden, wo sich bereits 1938 eine Ortsgruppe konstituiert hatte.
Ein Teil der Kopenhagener IKD um Georg Jungclas arbeitete auch
nach der Besetzung Dänemarks im April 1940 im Untergrund weiter.
Sie unterstützzten eine im Widerstand aktive dänische
ArbeiterInnengruppe der IV. Internationale. Der andere Teil
flüchtete nach Schweden. Mit Beginn des sogenannten
Westfeldzuges der Wehrmacht waren auch die Exilgruppen in den
Niederlanden, Belgien und Frankreich direkt bedroht. Einige
Mitglieder konnten nach England flüchten, wo sie sich der
Londoner IKD anschlossen. Andere tauchten unter, wurden aber
meist von der Gestapo verhaftet. Eine dritte Gruppe, darunter
die gesamte Pariser IKD, wurde in südfranzösische
Internierungslager deportiert. Nur eine Minderheit von ihnen
gelangte in den Besitz USamerikanischer Visa und konnte sich in
die Vereinigten Staaten absetzen. Die anderen fielen entweder
ihren faschistischen Häschern in die Hände oder schlossen sich
der Résistance an. Außerhalb Europas und den USA fanden
IKD-Mitglieder in Argentinien, Kuba und Mexiko eine Zuflucht.
Anfang 1940 bestand die Auslands- IKD aus 10 Gruppen in Amerika
und Europa mit insgesamt etwa 70 Mitgliedern. Im Herbst 1941
wendete sich die Mehrheit der Exil- IKD unter dem maßgeblichen
Einfluss Johres von der angeblich „in jeder Beziehung
(theoretisch, politisch, methodisch) absolut unzulänglich[en]“
Arbeit der IV. Internationale ab und versuchte mit „Drei Thesen
über die Lage in Europa und die politischen Aufgaben“ für eine
„radikale Neuorientierung“ zu werben. Nach Kriegsende waren das
Auslandskomitee der IKD und seine UnterstützerInnen nicht mehr
bereit, auf der politischen Grundlage und im organisatorischen
Rahmen der IV. Internationale weiterzuarbeiten. Mit der
Herausgabe des ersten Heftes von Dinge der Zeit im Juni 1947
verwirklichte die Gruppe um Johre ihr lange gehegtes Projekt.
Ihr Ziel war nun die „Schaffung einer Weltorganisation für
inhaltliche Demokratie“.
Obwohl die Führung der IV. Internationale seit Anfang der 40er
Jahre die Entwicklung der Exil-IKD mit großer Skepsis betrachtet
hatte, wurde sie weiterhin als Bestandteil der Bewegung
betrachtet. Allerdings erwartete sie von der Strömung um Johre
keine Impulse für den aus ihrer Sicht so dringend erforderlichen
Wiederaufbau der deutschen Organisation.
FORTSETZUNG DES
WIDERSTANDS
In Zusammenarbeit mit der französischen Sektion, der Parti
ouvrier internationaliste (POI), und dem damaligen
Linkskommunisten Paul Thalmann gelang es einer winzigen Gruppe
deutscher Mitglieder der IV. Internationale um Viktor (d.i. Paul
Widelin), ab dem Frühjahr 1943 Widerstand in den deutschen
Besatzungstruppen zu organisieren. Die Bildung
kommunistisch-internationalistischer Zellen in der Wehrmacht,
die Herausgabe von Flugblättern und einer Zeitung mit dem
programmatischen Titel Arbeiter und Soldat war nur ein Aspekt
ihrer kühnen Aktivitäten. Ein anderer bestand in der Lieferung
deutscher Waffen und der Vermittlung deutscher Deserteure an die
bewaffneten Widerstandsgruppen der POI. Im Herbst 1943 gelang es
der Gestapo, diesen antimilitaristischen Ansatz blutig zu
unterdrücken.
Seit März 1944 bemühte sich eine Kommission deutscher Mitglieder
der IV. Internationale die Aktivitäten des kleinen Kreises von
EmigrantInnen zu reorganisieren, der alle bisherigen
Verfolgungen überlebt hatte. Als Bund der
Kommunisten-Internationalisten sorgte diese Gruppe für die
illegale Herausgabe eines hektographierten Bulletins unter dem
alten Titel Unser Wort sowie für das Erscheinen weiterer
Ausgaben von Arbeiter und Soldat. Die Verhaftung und Ermordung
Viktors/Widelins durch die Gestapo im Sommer 1944 bedeutete
einen weiteren schweren Rückschlag für die Reorganisation der
deutschen Sektion.
Die kurz vor Kriegsende im Konzentrationslager verfasste
„Erklärung der Buchenwalder Trotzkisten“ forderte die Errichtung
eines „Rätedeutschland in einem Räteeuropa“. Die Reste der
Charlottenburger IKD wollten zur gleichen Zeit bewaffnete
Arbeitergruppen aufbauen. Dies waren heroische, aber symbolische
Gesten, denn die deutsche Revolution fand nicht statt.
Eine kleine Schar deutscher Mitglieder der IV. Internationale um
Georg Jungclas, der aus der Nazihaft befreit worden war, musste
mehr als 15 Jahre nach der Gründung der Linken Opposition die
deutsche Sektion neu aufbauen.
VERSUCH EINER BILANZ
Welches Resümee können wir ziehen? Die ersten 15 Jahre des
organisierten deutschen „Trotzkismus“ waren geprägt von der
scharfen Krise der ArbeiterInnenbewegung. SPD und KPD hatten die
politische Spaltung und Lähmung der ArbeiterInnenklasse zu
verantworten, die direkt in die verheerende Kapitulation von
1933 führte. Sie ermöglichte nicht nur die faschistische
Diktatur, sondern auch den späteren zeitweiligen Triumph des
Stalinismus.
Die Linke Opposition konnte diese katastrophalen Entwicklungen
nicht verhindern, aber sie skizzierte eine realistische
Alternative zum Versagen der sozialdemokratischen und
stalinistischen „Realpolitiken“ und den ihnen zugrunde liegenden
Ideologien. Eine Alternative, die in ihren Grundgedanken auch
heute noch aktuell ist.
Die Geschichte von LO und IKD ist ein Beleg für oft
unterschätzte oder gar missachtete Funktion kleiner
Organisationen. Zum einen als sensible Seismographen sich
ankündigender gesellschaftlicher Veränderungen und zum anderen
als Zentren praktischen politischen Widerstands, die keinen
Vergleich zur Wirksamkeit von parlamentarisch orientierten und
bürokratisierten Massenparteien zu scheuen brauchen.
Ohne die politische und organisatorische Unterstützung auf
internationaler Ebene hätte die LO und spätere IKD kaum ihre
auch heute noch wertvollen Beiträge zur Analyse und zur
Bekämpfung der finsteren Barbarei dieser Zeit leisten können.
Und sie hätte nicht – zumal in ihren Reihen (stalinistische)
Spitzel und Provokateure aktiv waren – die Kontinuität und das
Überleben ihrer eigenen Strömung sichern können – als kleines,
aber nützliches Instrument im Kampf gegen Ausbeutung und
Unterdrückung.
Der unerschrockene und beharrliche Kampf entschlossener und
aufrechter Menschen, die sich in LO und IKD organisiert hatten,
ist ein Teil der besseren deutschen Geschichte im 20.
Jahrhundert. Er hat es verdient, vor dem Vergessen bewahrt zu
werden.
Editorische
Anmerkungen
Den Text stammt aus Inprekorr Nr.
396/397 November/Dezember 2004 wir spiegelten von