Einleitung
In den ersten Jahren nach der russischen Revolution
herrschte die Ansicht, daß der Kaplismus sich in einer Endkrise, in
seiner Todeskrise befinde. Als die revolutionäre Bewegung der Arbeiter
in Westeuropa abflaute, gab die 3. Internationale diese Theorie auf.
Sie wurde dann aber festgehalten von der Oppositionsbewegung der
K.A.P., die die Anerkennung der Todeskrise zu einem
Unterscheidungsmerkmal zwischen dem revolutionären und dem
reformistischen Standpunkt machte. Die Frage der Notwendigkeit und
Unabwendbarkeit des kapitalistischen Zusammenbruchs, und in welcher
Weise dieser zu verstehen sei, ist für die Arbeiterklasse, für ihre
Erkenntnis und Taktik, die wichtigste aller Fragen. Rosa Luxemburg
hatte sie schon 1912 in ihrem Buch Die Akkumulation des Kapitals
behandelt, und sie kam dort zu dem Ergebnis, daß in einem reinen,
geschlossenen kapitalistischen System der für Akkumulation dienende
Mehrwert nicht realisiert werden kann, daß stetige Ausdehnung des
Kapitalismus durch Handel mit nicht- kapitalistischen Ländern nötig
ist. Das bedeutet: wenn diese Ausbreitung nicht mehr möglich ist,
bricht der Kapitalismus zusammen; er kann als wirtschaftliches System
nicht mehr weiter bestehen. Auf diese Theorie, die sofort nach ihrem
Erscheinen von verschiedenen Seiten bestritten wurde, hat sich die K.A.P. oft berufen. Eine ganz andere Theorie wurde 1929 von Henryk
Grossmann entwickelt in seinem Werk Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems.
Darin leitet er ab, daß der Kapitalismus reinökonomisch zusammenbrechen
muß, in dem Sinne, daß er, unabhängig von menschlichem Eingreifen,
Revolutionen, als ökonomisches System unmöglich weiter bestehen kann.
Die schwere und andauernde Krise, die 1930 einsetzte, hat zweifellos
die Geister für eine solche Theorie der Todeskrise empfänglicher
gemacht. In dem kürzlich erschienen Manifest der United Workers of
America wird Grossmann’s Theorie zu der theoretischen Basis einer
Neuorientierung der Arbeiterbewegung gemacht. Daher ist es nötig, sie
kritisch zu untersuchen. Dazu ist es unvermeidlich, zuerst die
Fragestellung bei Marx und die damit verbundenen vorherigen
Diskussionen darzulegen.
Marx und Rosa Luxemburg
In dem 2. Teil des Kapital hat
Man die allgemeinen Bedingungen des Gesamtprozesses der
kapitalistischen Produktion behandelt. In dem abstrakten Fall
der reinen kapitalistischen Produktion findet alle Produktion
für den Markt statt: alle Produkte sind als Waren zu kaufen und
zu verkaufen. Der Wert der Produktionsmittel geht auf das
Produkt über und neuer Wert wird durch die Arbeit hinzugefügt.
Dieser neue Wert zerfällt in zwei Teile dem Wert der
Arbeitskraft, der als Lohn bezahlt und von den Arbeitern zum
Kaufen von Lebensmitteln benutzt wird, und dem Rest, dem
Mehrwert, der dem Kapitalisten zufällt. Wird letzterer für
Lebens- und Genußmittel verwendet, so findet einfache
Reproduktion statt; wird ein Teil akkumuliert zu neuem Kapital,
dann hat man eine Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter.
Damit die Kapitalisten die
Produktionsmittel, die sie brauchen, auf dem Markt finden, und
die Arbeiter gleichfalls die Lebensmittel, die sie brauchen, muß
ein bestimmtes Verhältnis zwischen allen Produktionsgebieten
vorhanden sein. Ein Mathematiker würde dies leicht in
algebraischen Formeln zum Ausdruck bringen: Marx hat statt
dessen Zahlenbeispiele gegeben, phantasierte Fälle mit dazu
gewählten Zahlen, die als Illustration dienen, um diese
Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen. Er unterscheidet zwei
Sphären oder Hauptgebiete der Produktion, dasjenige der
Produktionsmittel (I) und dasjenige der Konsumtionsmittel (II).
In jedem wird ein bestimmter Wert der gebrauchten
Produktionsmittel auf das Produkt ungeändert übertragen
(konstantes Kapital c). Von dem neu hinzugefügten Wert wird ein
bestimmter Teil für die Arbeitskraft bezahlt (variables Kapital
v), und der andere Teil ist Mehrwert (m). Setzt man für das
Zahlenbeispiel die Annahme, daß das konstante Kapital 4 mal das
variable ist (mit der Entwicklung der Technik steigt diese
Zahl), und daß der Mehrwert gleich dem variablen Kapital ist
(das wird bestimmt durch die Ausbeutungsrate), so genügen im
Fall der einfachen Reproduktion die folgenden Zahlen diesen
Bedingungen:
I
|
4400c plus 1100v plus 1100m
|
|
(= 550 k plus 550 akk (= 440c plus 110v) ) = 6600
|
|
II
|
1600c plus 400v plus 400m
|
|
(= 200 k plus 200 akk (= 160c plus 40v) ) = 2400
|
|
Jede Zeile genügt den Bedingungen. Weil v plus m, die
für Konsumtionsmittel verwendet werden, zusammen die Hälfte sind von c,
dem Wert der Produktionsmittel, muß in der 2. Sphäre halb soviel an
Wert produziert werden als in der 1. Sphäre. Dann ist das richtige
Verhältnis getroffen: die 6000 produzierten Produktionsmittel sind
gerade nötig, um für die folgende Umschlagsperiode 4000c für die erste
und 2000c für die 2. Sphäre zu liefern; und die 3000 in II produzierten
Lebensmittel reichen genau, um 1000 plus 500 für die Arbeiter und 1000
plus 500 für die Kapitalisten bereitzustellen.
Um den Fall der Kapitalakkumulation in ähnlicher
Weise zu illustrieren, muß man angeben, welcher Teil des Mehrwerts für
Akkumulation dient; dieser Teil wird im nächsten Jahr (der Einfachheit wegen
nimmt man eine Produktionsperiode von jedesmal einem Jahre) zum Kapital
geschlagen, so daß dann ein größeres Kapital in jeder Produktionssphäre
angewandt wird. Wir nehmen in unserem Beispiel an, daß die Hälfte des Mehrwerts
akkumuliert (also für neue c und v verwandt) und die andere Hälfte verzehrt wird
(Konsum k). Die Berechnung des Verhältnisses von I zu II wird nun etwas
verwickelter, aber es läßt sich natürlich finden. Es stellt sich heraus, daß bei
den gegebenen Annahmen das Verhältnis 11 zu 4, wird, wie sich in den folgenden
Zahlen zeigt:
I
|
4400c plus 1100v plus 1100m
|
|
(= 550 k plus 550 akk (= 440c plus 110v) ) = 6600
|
|
II
|
1600c plus 400v plus 400m
|
|
(= 200 k plus 200 akk (= 160c plus 40v) ) = 2400
|
|
Die Kapitalisten brauchen 4400 plus 1600 zur Erneuerung,
440 plus 160 zur Erweiterung ihrer Produktionsmittel, und sie finden in
der Tat 6600 an Produktionsmitteln auf dem Markt. Die Kapitalisten
brauchen 550 plus 200 für ihren Konsum, die alten Arbeiter 1100 plus
400, die neu eingestellten 110 plus 40 für Lebensmittel; was zusammen
die tatsächlich an Lebensmittel produzierten 2400 gleich ist. Im
nächsten Jahre findet dann alles in um 10 % größerer Stufenleiter
statt:
I
|
4840c plus 1210v plus 1210m
|
|
(= 605 k plus 484c plus 121v) = 7260
|
|
II
|
1760c plus 440v plus 440m
|
|
(= 220 k plus 176c plus 44v) = 2640
|
|
So kann dann, jedes Jahr in derselben Proportion steigend, weiterproduziert werden.
Natürlich bildet dies ein ungeheuer vereinfachter Fall.
Man kann es verwickelter und damit der Wirklichkeit ähnlicher machen,
wenn man für die Gebiete 1 und II eine verschiedene organische
Zusammensetzung (Verhältnis c zu v) annimmt, oder auch eine
verschiedene Akkumulationsrate oder wenn man das Verhältnis c zu v
allmählich zunehmen läßt, wobei auch das Verhältnis von. 1 zu II jedes
Jahr anders wird. In allen diesen Fällen wird die Rechnung
komplizierter, aber sie läßt sich immer durchführen, da immer eine
unbekannte Zahl, das Verhältnis von I zu II aus der Bedingung berechnet
wird, daß Nachfrage und Angebot sich decken müssen.
Solche Beispiele sind in der Literatur zu finden. In der
Wirklichkeit findet natürlich nie ein völliger Ausgleich in einer
Periode statt; Waren werden für Geld verkauft, und erst nachher wird
das Geld zum Kaufen verwendet, wobei Schatzbildung als Puffer und
Reservoir dient. Auch bleiben Waren unverkauft liegen; außerdem wird
mit nicht kapitalistischen Gebieten Handel getrieben. Aber das
Wesentliche, worauf es ankommt, ist in diesen Reproduktionsschemas klar
zu sehen: damit die Produktion, sich erweiternd, ihren stetigen
Fortgang nimmt, sind bestimmte Verhältnisse zwischen den
Produktionsgebieten nötig, die in der Praxis dann annähernd erfüllt
sind; und diese Verhältnisse hängen von den vorhandenen Daten:
organischer Zusammensetzung des Kapitals, Ausbeutungsrate,
akkumulierter Fraktion des Mehrwerts ab.
Marx hatte keine Gelegenheit, diese Beispiele alle fein sauber auszuarbeiten (vgl. Engels Einleitung zu Bd.II des Kapitals).
Das war wohl die Ursache, daß Rosa Luxemburg glaubte, hier eine Lücke
zu finden, ein Problem, das Marx nicht gesehen und daher ungelöst
gelassen hat, und zu dessen Lösung sie dann ihr Werk Die Akkumulation des Kapitals
(1912) abgefaßt hat. Das Problem, wer die Produkte kaufen muß, in denen
der Mehrwert enthalten sei. Wenn die Abteilungen I und II sich
gegenseitig immer mehr Produktionsmittel und Lebensmittel verkaufen, so
wäre das ein zweckloses Sich-im-Kreise-drehen, wobei nichts
herauskommt. Die Lösung liege 4arin, daß außerhalb des Kapitalismus
stehende Käufer auftreten, fremde überseeische Märkte, deren Eroberung
daher eine Lebensfrage für den Kapitalismus sei. Dies sei die
wirtschaftliche Grundlage des Imperialismus.
Nach dem Obenstehenden ist wohl klar, daß Rosa Luxemburg
sich darin geirrt hat. In dem Schema als Beispiel ist unzweideutig die
Tatsache zu erkennen, daß alle Produkte innerhalb des Kapitalismus
selbst verkauft werden; nicht nur die Übertragenen Wertteile 4400 plus
1600, sondern auch die 440 plus 160, in denen der akkumulierte Mehrwert
enthalten ist, werden als körperliche Produktionsmittel von den
Kapitalisten gekauft, die im nächsten Jahr mit im Ganzen 6600 an
Produktionsmitteln anfangen wollen. Und ähnlich werden die 110 plus 40
aus dem Mehrwert tatsächlich von den hinzukommenden Arbeitern gekauft.
Zwecklos ist auch nichts daran: produzieren, einander verkaufen,
konsumieren, akkumulieren, mehr produzieren ist der ganze Inhalt des
Kapitalismus, also des Lebens der Menschen in dieser Produktionsweise.
Ein ungelöstes Problem, das Marx nicht gesehen haben sollte, ist hier
nicht vorhanden.
Rosa Luxemburg und Otto Bauer
Bald nach dem Erscheinen des Buches von Rosa Luxemburg
ist daher von verschiedener Seite die Kritik gekommen. So hat auch in
einem Artikel in der Neuen Zeit (7.-14. März 1913)
Otto Bauer eine Kritik gegeben. Natürlich wird darin, wie bei jeder
anderen Kritik, gezeigt, daß Produktion und Abnahme zueinander stimmen.
Aber hier hat die Kritik diese besondere Form, daß die Akkumulation mit
dem Bevölkerungswachstum in Zusammenhang gebracht wird. Otto Bauer
setzt zuerst sozialistische Gesellschaft voraus, wo die Bevölkerung
jährlich um 5 % wächst; daher muß auch die Produktion von
Lebensmitteln in demselben Verhältnis wachsen, wobei, durch den
Fortschritt der Technik, die Produktionsmittel stärker zunehmen müssen.
Ähnlich muß im Kapitalismus, aber hier nicht durch planmäßige Regelung,
sondern durch Akkumulation von Kapital, diese Erweiterung stattfinden.
Deshalb wird als Zahlenbeispiel ein Schema aufgestellt, das diesen
Bedingungen in einfachster Weise genügt: eine jährliche Zunahme des
variablen Kapitals um 5 % des konstanten Kapitals um 10 % und
eine Ausbeutungsrate von 100 % (m = v). Durch
diese Bedingungen ist dann zugleich festgelegt, welcher Teil des
Mehrwerts akkumuliert wird, um gerade die angenommene Zunahme des
Kapitals zu ergeben, und welcher Teil verzehrt wird. Es erfordert keine
schwere Berechnung, ein Schema aufzustellen, das von Jahr zu Jahr die
richtige Zunahme aufweist.
1. Jahr
|
200 000c
|
plus 100 000v
|
plus 100 000m
|
|
(= 20 000c
|
plus 5 000v
|
plus 75 000k)
|
|
2. Jahr
|
220 000c
|
plus 105 000v
|
plus 105 000m
|
|
(= 26 000c
|
plus 5 250v
|
plus 77 750k)
|
|
3. Jahr
|
242 000c
|
plus 110 250v
|
plus 110 250m
|
|
(= 24 200c
|
plus 5 512v
|
plus 80 538k)
|
|
Bauer führt es für 4 Jahre durch und berechnet auch die
Zahlen für die Produktionsgebiete I und II gesondert. Für den Zweck,
daß kein Problem im Sinne Rosa Luxemburgs vorlag, war das ausreichend.
Aber der Charakter dieser Kritik mußte selbst Kritik
hervorrufen. Sein Grundgedanke erhellt schon aus der Einführung mittels
des Bevölkerungszuwachses in einer sozialistischen Gesellschaft. Der
Kapitalismus erscheint hier als ein noch nicht geregelter Sozialismus,
als ein noch nicht gebändigtes, noch wild um sich schlagendes Füllen,
das nur der zähmenden Hand des sozialistischen Dompteurs bedarf. Die
Akkumulation dient hier nur der durch den Bevölkerungszuwachs nötigen
Erweiterung der Produktion, sowie der Kapitalismus überhaupt der
Versorgung der Menschheit mit Lebensmitteln dient; beides findet aber,
durch den Mangel an Planmäßigkeit, schlecht, unregelmäßig, bald zu
viel, bald zu wenig, in Katastrophen statt. Nun mag auch die zahme
Zunahme von 5 % jährlich passen für eine sozialistische
Gesellschaft, wo alles Menschtum sauber einrangiert ist. Aber als
Beispiel für den Kapitalismus, wie er war und ist, paßt sie schlecht.
Seine ganze Geschichte ist ein Vorwärtsstürmen, eine gewaltige
Ausbreitung, weit über die Grenzen des Bevölkerungszuwachses hinaus.
Die treibende Kraft war der Akkumulationstrieb; möglichst viel von dem
Mehrwert wurde als neues Kapital angelegt, und zu seiner Verwertung
wurden stets größere Kreise der Bevölkerung in den Prozeß
hineingezogen. Es war ja, und es ist noch, ein großer Überschuß an
Menschen vorhanden, die noch außerhalb oder halbwegs stehen als Reserve
und, je nach dem Bedürfnis aufgesogen oder abgestoßen, für das
Verwertungsbedürfnis des akkumulierten Kapitals bereit stehen. Dieser
wesentliche Grundcharakter des Kapitalismus würde in der Bauerschen
Darstellung völlig verkannt.
Es war selbstverständlich, daß Rosa Luxemburg dies zum
Zielpunkt ihrer Gegenkritik nahm. Gegen den Nachweis, daß in den
Marxschen Schemas kein Problem des Nichtstimmens lag, konnte sie nicht
viel anderes vorbringen, als höhnende Ausrufe, daß in künstlichen
Zahlenbeispielen alles schön zum Klappen gebracht werden konnte. Aber
die Verbindung mit dem Wachstum der Bevölkerung als das regulierende
Prinzip der Akkumulation war dem Geiste der Marxschen Lehren so völlig
zuwid.er, daß hier der Nebentitel ihrer Antikritik paßte: was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben.
Es handelt sich hier nicht einfach um einen wissenschaftlichen Irrtum
(wie bei Rosa Luxemburg selbst); es spiegelt sich darin der
praktisch-politische Standpunkt der damaligen Sozialdemokraten, Sie
fühlten sich als die künftigen Staatsmänner, die an die Stelle der
herrschenden Politiker tretend, die Organisation der Produktion
durchführen sollen, und die daher in dem Kapitalismus nicht den
völligen Gegensatz zu einer durch Revolution zu verwirklichenden
proletarischen Diktatur sehen, sondern vielmehr eine noch ungeregelte,
verbesserungsfähige Form der Lebensmittelbeschaffung.
Das Grossmannsche
Reproduktionsschema
An das von Otto Bauer aufgestellte Reproduktionsschema
knüpft Henryk Grossmann an. Er hat bemerkt, daß es sich nicht
unbeschränkt fortsetzen läßt, sondern bei längerer Fortsetzung auf
Widersprüche stößt. Das ist sehr leicht einzusehen. Otto Bauer setzt
ein konstantes Kapital 200 000 voraus, das jedes Jahr um 10 %
zunimmt, und ein variables Kapital 100 000, das jedes Jahr um 5 %
zunimmt; die Mehrwertrate wird 100 % gesetzt, d.h. der Mehrwert
ist in jedem Jahre gleich dem variablen Kapital. Eine Größe, die jedes
Jahr um 10 % zunimmt, hat sich den Regeln der Mathematik gemäß
nach 7 Jahren verdoppelt, nach 14 Jahren vervierfacht, nach 23 Jahren
verzehnfacht, noch 46 Jahren verhundertfacht. Eine Größe, die jedes
Jahr um 5 % zunimmt, hat sich nach 46 Jahren nur verzehnfacht. Das
variable Kapital und der Mehrwert, die im ersten Jahr halb so groß als
das konstante Kapital waren, sind nach 46 Jahren nur noch der
zwanzigste Teil des viel kolossaler gewachsenen konstanten Kapitals.
Der Mehrwert reicht also gar nicht für den 10 prozentigen Zuwachs des
konstanten Kapitals.
Das liegt nicht einfach an den von Bauer gewählten
Zuwachsraten von 10 und 5 %. Denn tatsächlich nimmt der Mehrwert
im Kapitalismus weniger rasch zu als das Kapital. Daß dadurch die
Profitrate in der Entwicklung des Kapitalismus fortwährend abnehmen
muß, ist eine bekannte Tatsache, und Marx widmet diesem Fallen der
Profitrate mehrere Kapitel. Wenn die Profitrate auf 5 % fällt,
kann nicht mehr das Kapital um 10 % vergrößert werden, denn die
Vergrößerung des Kapitals aus akkumuliertem Mehrwert ist notwendig
kleiner als dieser Mehrwert selbst. Die Akkumulationsrate hat
selbstverständlich die Profitrate als obere Grenze (vgl. Marx, Das Kapital,
III, S.251, wo er sagt, daß „mit der Profitrate die Rate der
Akkumulation fällt“). Die Benutzung einer festen Zahl 10 % die für
ein paar Jahre, wie bei Bauer zulässig war, Wird unzulassig, wenn man
das Reproduktionsschema auf längere Zeit fortsetzt.
Grossmann führt jedoch das Bauersche Schema unbekümmert
von Jahr zu Jahr weiter, und glaubt damit den wirklichen Kapitalismus
wiederzugeben. Er findet dann die folgenden Werte für konstantes und
variables Kapital, Mehrwert, Akkumulation nötigen und den für Konsum
der Kapitalisten übrig bleibenden Betrag (alles in Tausende abgerundet).
|
Konst. Kap. |
Var. Kap. |
Mehrw. |
Akkumulation |
Konsum |
Anfangs
|
200
|
100
|
100
|
20 plus 5 = 25
|
75
|
nach 20 Jahren
|
1222
|
253
|
253
|
122 plus 13 = 135
|
118
|
30
|
3170
|
412
|
412
|
317 plus 21 = 338
|
74
|
34
|
4641
|
500
|
500
|
464 plus 25 = 489
|
11
|
35
|
5106
|
525
|
525
|
510 plus 26 = 536
|
–11
|
Nach dem 21. Jahr nimmt der für den Konsum übrig
bleibende Teil des Mehrwerts ab; im 34. Jahr verschwindet er nahezu,
und im 35. Jahr ist sogar ein Defizit; der Shylock des konstanten
Kapitals fordert unerbittlich sein Pfund Fleisch, es will um 10 %
zunehmen, während die armen Kapitalisten hungernd daneben stehen und
nichts zum eigenen Konsum behalten.
Nach dem 21. Jahr nimmt der für den Konsum übrig
bleibende Teil des Mehrwerts ab; im 34. Jahr verschwindet er nahezu,
und im 35. Jahr ist sogar ein Defizit; der Shylock des konstanten
Kapitals fordert unerbittlich sein Pfund Fleisch, es will um 10 %
zunehmen, während die armen Kapitalisten hungernd daneben stehen und
nichts zum eigenen Konsum behalten.
Vom 35. Jahre an könnte somit die Akkumulation nicht mit
dem Bevölkerungszuwachs – auf Basis des jeweiligen technischen
Fortschritts - Schritt halten. Die Akkumulation wäre zu klein, es würde
notwendig eine Reservearmee entstehen, die mit jedem Jahr anwachsen
müßte. (Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, S.126)
Unter solchen Umständen werden die Kapitalisten nicht an
Fortführung der Produktion denken. Und sollten sie, sie können es
nicht; denn wegen des Fehlbetrags von 11 an Akkumulation müssen sie die
Produktion einschränken. (Tatsächlich hätten sie das schon früher tun
müssen, wegen ihrer Konsumausgaben.) Damit wird ein Teil der Arbeiter
arbeitslos; dann wird ein Teil des Kapitals unbeschäftigt und der
produzierte Mehrwert weniger, die Masse des Mehrwerts sinkt und ein
noch größeres Defizit für die Akkumulation tritt auf, mit noch mehr
zunehmender Arbeitslosigkeit. Das ist dann der ökonomische
Zusammenbruch des Kapitalismus. Er ist wirtschaftlich unmöglich
geworden. Damit ist die Aufgabe gelöst, die Grossmann S.79 stellt:
Wie, auf welche Weise kann die Akkumulation die kapitalistische Produktion zum Zusammenbruch bringen?
Hier findet also statt, was in der älteren marxistischen
Literatur immer als ein blödes Mißverständnis der Gegner behandelt
wurde, für das der Name „der große Kladeradatsch“ gebräuchlich war.
Ohne daß eine revolutionäre Klasse da ist, die Bourgeoisie zu besiegen
und zu enteignen, tritt rein wirtschaftlich ein Ende des Kapitalismus
ein; die Maschine will nicht mehr drehen, sie stockt, die Produktion
ist unmöglich geworden. Mit den Worten Grossmanns:
... trotz der periodischen Unterbrechungen geht der
Gesamtmechanismus mit dem Fortschreiten der Kapitalakkumulation immer
mehr seinem Ende notwendig entgegen ... Dann gewinnt die
Zusammenbruchstendenz die Oberhand und setzt sich in ihrer absoluten
Geltung als „letzte Krise“ durch. (S.140)
Und an einer späteren Stelle:
... aus unserer Darstellung (ist) zu ersehen, daß der
Zusammenbruch des Kapitalismus, obwohl unter gegebenen Voraussetzungen
objektiv notwendig und in bezug auf den Zeitpunkt seines Eintretens
exakt berechenbar, dennoch nicht „von selbst“ automatisch zu dem
erwarteten Zeitpunkt zu erfolgen braucht und deshalb bloß passiv
abzuwarten sei. (S.601)
In diesem Satz, wo man einen Augenblick glauben möchte,
daß von der aktiven Rolle des Proletariats als Akteur der Revolution
die Rede ist, wird nur über Änderungen des Lohns und der Arbeitszeit
gehandelt, die die zahlenmäßigen Grundlagen und Resultate der Rechnung
etwas verschieben. Und in diesem Sinne führt er weiter aus:
So zeigt es sich, daß der Gedanke eines aus objektiven
Gründen notwendigen Zusammenbruchs durchaus nicht im Widerspruch zum
Klassenkampf steht, daß vielmehr der Zusammenbruch trotz seiner
objektiv gegebenen Notwendigkeit durch die lebendigen Kräfte der
kämpfenden Klassen im starken Maße beeinflußbar ist und für das aktive
Eingreifen der Klassen einen gewissen Spielraum läßt. Eben deshalb
mündet bei Marx die ganze Analyse des Reproduktionsprozesses in den
Klassenkampf aus. (S.602)
Das „deshalb“ ist köstlich; als ob Klassenkampf bei Marx nur Kampf um Lohnforderungen und Arbeitszeit bedeutet.
Sehen wir uns die Grundlage dieses Zusammenbruchs etwas
näher an. Worauf beruht die notwendige Zunahme des konstanten Kapitals
mit jedesmal 10 %? In dem oben gegebenen Zitat wird gesagt, daß
der technische Fortschritt (bei gegebenem Bevölkerungszuwachs) einen
bestimmten jährlichen Zuwachs des konstanten Kapitals vorschreibt. Man
könnte dann, ohne den Umweg des Reproduktionsschemas sagen: wenn die
Profitrate kleiner wird als diese vom technischen Fortschritt
geforderte Zuwachsrate, muß der Kapitalismus zugrunde gehen. Abgesehen
davon, daß dies nichts mit Marx zu tun hat: was ist der von der Technik
geforderte Kapitalzuwachs? Verbesserungen in der Technik werden
eingeführt in gegenseitiger Konkurrenz, uni den Extraprofit (relativen
Mehrwert) zu ergattern; aber das geht nicht weiter als die finanziellen
Mittel vorhanden sind. Jedermann weiß auch, daß Dutzende von neuen
Erfindungen, von technischen Verbesserungen, nicht eingeführt werden
und oft absichtlich von den Unternehmern unterdrückt, damit nicht der
vorhandene technische Apparat entwertet wird. Die Notwendigkeit des
technischen Fortschritts wirkt nicht als äußerer Zwang; sie wirkt
mittels der Menschen und für diese gilt das Müssen nicht weiter als ihr
Können.
Aber nehmen wir an, daß es richtig ist, und daß infolge
des technischen Fortschritts das konstante Kapital sich nach dem Schema
zum veränderlichen verhalten muß: im 30. Jahre wie 3170 zu 412, im 34.
wie 4641 zu 500, im 35. wie 5106 zu 525, im 36. wie 5616 zu 551. Der
Mehrwert im 35. Jahr ist nur 525 Tausend und reicht nicht aus, 510
Tausend zum konstanten und 26 Tausend zum variablen Kapital
hinzuzufügen. Grossmann läßt das konstante Kapital um 510 Tausend
wachsen und behält dann bloß 15 Tausend als Zuwachs des variablen
Kapitals! 11 Tausend zu wenig. Er sagt dazu:
11.509 Arbeiter (auf 551 Tausend) bleiben arbeitslos, es
bildet sich die Reservearmee Und weil nicht die ganze
Arbeiterbevölkerung in den Produktionsprozeß eintritt, so wird nicht
die ganze Summe des zusätzlichen konstanten Kapitals (510.563) zum
Ankauf von Produktionsmitteln erforderlich sein. Sollte bei einer
Bevölkerung von 551.584 ein konstantes Kapital von 561.6200 angewendet
werden, so muß bei einer Bevölkerung von 540.075 ein konstantes Kapital
von nur 5.499.015 angewendet werden Somit verbleibt ein Kapitalüberschuß
von 117.185 ohne Anlagemöglichkeit. So zeigt uns das Schema ein
Schulbeispiel für den Tatbestand, an den Marx dachte, als er den
entsprechenden Abschnitt des 3. Bandes des Kapital“ mit der Überschrift versah: Überfluß von Kapital bei Überfluß an Bevölkerung. (S.126)
Grossmann hat offenbar nicht bemerkt, daß diese 11.000
nur deshalb arbeitslos werden, weil er, ganz willkürlich, ohne einen
Grund anzugeben, das Defizit ganz auf das variable Kapital abwälzt und
das konstante Kapital ruhig 10 % zunehmen läßt, als ob nichts los
ist; als er dann aber gewahr wird, daß für all diese Maschinen keine
Arbeiter da sind, oder richtiger, kein Geld da ist, ihnen Löhne zu
zahlen, läßt er auch diese Maschinen lieber nicht bauen und muß nun
Kapital unbenutzt liegen lassen. Nur durch diesen Schnitzer gerät er in
das „Schulbeispiel“ für eine Erscheinung, die bei den gewöhnlichen
kapitalistischen Krisen auftritt. In Wirklichkeit werden die
Unternehmer ihre Produktion nur soviel erweitern können, als ihr
Kapital, für Maschinen und Lohn zusammen reicht. Ist im Ganzen zu wenig
Mehrtwert da, so wird er (bei dem angenommenen technischen Zwang)
proportional auf die Bestandteile des Kapitals verteilt werden; die
Rechnung zeigt, daß von dem 525.319 betragenden Mehrwert 500.409 zu dem
konstanten, 24.910 zu dem variablen Kapital geschlagen werden müssen,
um das richtige, dem technischen Fortschritt entsprechende Verhältnis
zu haben; nicht 11.000 sondern 1.356 Arbeiter werden freigesetzt und
von überschüssigem Kapital ist keine Rede. Führt man das Schema in
dieser richtigen Weise weiter, so findet statt einer katastrophalen
eine sehr langsam zunehmende Freisetzung von Arbeitern statt.
Wie ist es nun möglich, diesen angeblichen Zusammenbruch
auf das Konto von Marx zu schieben und durch viele Kapitel hindurch
Dutzende von Zitaten von Marx zu bringen? Diese Zitate beziehen sich
alle auf die wirtschaftlichen Krisen, auf den. Konjunkturwechsel von
Aufschwung und Niedergang. Während das Schema dazu dienen sollte, einen
nach 35 Jahren einsetzenden endgültigen ökonomischen Zusammenbruch zu
zeigen, heißt es 2 Seiten weiter:
Die hier zur Darstellung gelangte Marx’sche Theorie des Wirtschaftszyklus. (S.123)
Nur dadurch, daß er fortwährend Sätze von Marx, die über
die periodischen Krisen handeln, durch seine Ausführungen streut, kann
Grossmann den Schein erwecken, er stelle eine Theorie von Marx dar. Bei
Marx findet sich aber nichts von einem endgültigen Zusammenbruch nach
dem Grossmannschen Schema. Allerdings: ein paar Zitate führt Grossmann
an, die nicht über die Krisen handeln. So schreibt er S.263:
Es zeigt sich, daß die kapitalistische Produktionsweise an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet ... (Marx, Kapital, III, S.252)
Schlägt man aber das Kapital, III, S. 292, auf, so liest man dort:
Das wichtige aber in ihrem (d.h. Ricardo s und der
anderen Okonomen) Horror vor der fallenden Profitrate ist das Gefühl,
daß die kapitalistische Produktionsweise an der Entwicklung der
Produktivkräfte eine Schranke findet ...
Das ist wohl etwas anderes. Und S.79 zitiert er, um nachzuweisen, daß sogar das Wort Zusammenbruch von Marx stammt:
Dieser Prozeß würde bald die kapitalistische Produktion
zum Zusammenbruch bringen, wenn nicht widerstrebende Tendenzen
beständig wie der dezentralisierend neben der zentripetalen Kraft
wirken. (a.a.O., S.256)
Diese widerstrebenden Tendenzen, das betont Grossmann mit Recht, beziehen sich auf das „bald“, so daß der Prozeß mit
ihnen bloß langsamer stattfindet. Spricht Marx hier nun von einem
reinwirtschaftlichen Zusammenbruch? Lesen wir den vorhergehenden Satz
bei Marx:
Es ist diese Scheidung zwischen Arbeitsbedingungen hier
und Produzenten dort, die den Begriff des Kapitals bildet, die mit der
urprünglichen Akkumulation sich eröffnet, dann als beständiger Prozeß
in der Akkumulation und Konzentration des Kapitals erscheint, und hier
endlich sich dz Zentralisation schon vorhandener Kapitale in wenigen
Händen und Entkapitalisierung (dahin verändert sich nun die
Expropriation) vieler ausdrückt.
Es ist hiernach wohl klar, daß der dann folgende
Zusammenbruch, wie so oft bei Marx, einfach für das Ende des
Kapitalismus durch den Sozialismus steht.
Mit den Marx-Zitaten ist es also nichts: aus ihnen ist
eine wirtschaftliche Endkatastrophe ebensowenig zu lesen, wie sie aus
dem Reproduktionsschema abzuleiten ist. Kann es dann aber zur
Darstellung und Erklärung der periodischen Krisen dienen? Grossmann
sucht beides zu einer festen Einheit zu vereinigen:
Die Marx sehe Zusammenbruchstheorie ist zugleich eine Krisentheorie
lautet die Überschrift des 8. Kapitels (S.137). Aber als
Nachweis gibt er nichts als eine Figur S.141, wo eine schief
emporlaufende „Akkumulationslinie“ in kleinere Stücke zerschnitten
wird. Nach dem Schema soll aber erst nach 35 Jahren der Zusammenbruch
beginnen, während nach 5 oder 7 Jahren als jedesmal die Krise einsetzt,
in dem Schema alles noch in schönster Ordnung ist.
Will man einen rascheren Zusammenbruch bekommen, so geht
das, wenn der jährliche Zuwachs des konstanten Kapitels nicht 10 %
sondern viel größer ist. Tatsächlich findet bei steigender Konjunktur
in dem Wirtschaftszyklus ein viel rascheres Wachstum des Kapitals
statt, das dann aber nichts mit dem technischen Fortschritt zu tun hat;
der Produktionsumfang wird sprunghaft erweitert. Allerdings nimmt dabei
auch das variable Kapital rasch und sprunghaft zu. Woher dann nach 5
oder 7 Jahren ein Zusammenbruch kommen muß, bleibt dunkel. Das heißt:
die wirklichen Ursachen, die die rasch steigende und dann
zusammenbrechende Konjunktur bewirken, sind ganz anderer Natur als was
in dem Grossmannschen Reproduktionsschema steht.
Marx spricht von Überakkumulation, die die Krise
einleitet, einem Zuviel an akkumuliertem Mehrwert, das keine Anlage
findet und den Profit drückt; Grossmanns Zusammenbruch entsteht durch
ein Zuwenig an akkumuliertem Mehrwert.
Gleichzeitiger Überfluß an unbeschäftigtem Kapital und
an unbeschäftigten Arbeitern ist eine typische Krisenerscheinung; das
Schema führt zu einem Mangel an genügendem Kapital, der nur durch den
schon erwähnten Fehler Grossmanns zu einem Kapitalüberfluß
umkonstruiert werden kann. Also: während das Grossmann’sche Schema
einen endgültigen Zusammenbruch nicht beweisen kann, paßt es auch nicht
auf die wirklichen Zusammenbruchserscheinungen, die Krisen.
Es mag noch hinzugefügt werden, daß es, seinem Ursprunge
nach, an dem gleichen Fehler Otto Bauers leidet: das wirkliche
stürmische Vorwärtsdrängen des Kapitalismus über die Welt, immer mehr
Völker in seine Gewalt bringend, wird hier durch eine zahme regelmäßige
Bevölkerungszunahme von 5 % jährlich dargestellt, als wäre der
Kapitalismus in eine geschlossene Staatswirtschaft eingepfercht.
Grossmann contra Marx
Grossmann brüstet sich damit, daß er hier zum ersten
Male die Theorie von Marx wieder richtig gestellt hat gegenüber den
Entstehungen der Sozialdemokraten.
„Eine dieser neu gewonnenen Erkenntnisse“, sagt er stolz
im Anfang der Einleitung, „ist die nach folgende Zusammenbruchstheorie,
die tragende Säule im ökonomischen Gedankensystem von Karl Marx.“
Wie wenig dasjenige, was er als Zusammenbruchstheorie
ansieht, mit Marx zu tun hat, haben wir gesehen. Immerhin konnte er,
bei seiner besonderen Interpretation, doch glauben, mit Marx in
Übereinstimmung zu sein. Aber es gibt andere Punkte, wo das nicht gilt.
Weil er sein Schema für ein richtiges Bild der kapitalistischen
Entwicklung hält, leitet er aus ihm zu verschiedenen Punkten
Erklärungsweisen ab, die, wie er zum Teil selbst bemerkt hat, den in
Das Kapital entwickelten Anschauungen widersprechen.
Das gilt erstens für die industrielle Reservearmee. Nach
dem Grossmann’schen Schema muß vom 35. Jahre an eine Anzahl Arbeiter
arbeitslos werden, eine Reservearmee entstehen.
Die Entstehung der Reservearmee, d.h. die Freisetzung
der Arbeiter, von der hier gesprochen wird, muß streng von der
Freisetzung der Arbeiter durch die Maschine unterschieden werden. Die
Verdrängung der Arbeiter durch die Maschine, die Marx im empirischen
Teil des 1. Bandes des Kapital beschreibt (13. Kapitel), ist eine
technische Tatsache ... (S.128-129) ... Aber die Freisetzung der
Arbeiter, die Entstehung der Reservearmee, von der Marx im
Akkumulationskapitel (Kap. 23) spricht, ist – das wurde bisher in der
Literatur gänzlich außer acht gelassen – nicht durch die technische
Tatsache der Einführung von Maschinen verursacht, sondern durch die
mangelnde Verwertung ... (S.130)
Das kommt auf den Tiefsinn hinaus: daß die Spatzen
davongeflogen, kam nicht durch den Flintenschuß, sondern durch ihre
Schreckhaftigkeit. Die Arbeiter werden durch die Maschinen verdrängt;
durch Erweiterung der Produktion finden sie teilweise wieder Arbeit; in
diesem Gehen und Kommen bleibt ein Teil unterwegs oder draußen. Soll
nun die Tatsache, daß sie noch nicht wieder eingestellt sind, die
Ursache ihrer Arbeitslosigkeit heißen? Liest man das 23. Kapitel des Kapital,
so handelt es sich dort immer um die Verdrängung durch die Maschine als
Ursache der Reservearmee, die je nach der Konjunktur teilweise
aufgesogen oder aufs neue freigesetzt wird und sich selbst auch als
Überbevölkerung reproduziert. Grossmann bemüht sich einige Seiten um
den Nachweis, daß hier das ökonomische Verhältnis c : v, und
nicht das technische Verhältnis Pm : A wirkt; tatsächlich ist
beides identisch. Aber diese Bildung der Reservearmee nach Marx, die
von Anfang des Kapitalismus an immerfort und überall stattfindet, wo
Arbeiter durch Maschinen ersetzt werden, ist nicht identisch
mit der angeblichen Bildung der Reservearmee nach Grossmann, die erst
als Folge der Überakkumulation nach 34 Jahren technischen Fortschritts
eintritt.
Ähnliches gilt für den Kapitalexport. In langen
Ausführungen werden nacheinander alle marxistischen Autoren
abgeschlachtet, Varga, Bucharin, Nachimson, Hilferding. Otto Bauer,
Rosa Luxemburg, weil sie alle die Ansicht bekunden, daß der
Kapitalexport wegen des größeren Profits stattfindet. Mit den Worten
Vargas:
Nicht weil es absolut unmöglich wäre, Kapital im Inlande
zu akkumulieren ... sondern weil Aussicht auf höheren Profit besteht,
wird Kapital ausgeführt. (Vgl. S.498)
Diese Auffassung bekämpft Grossmann als unrichtig und unmarxistisch:
Nicht der höhere Profit des Auslandes, sondern der
Mangel an Anlagemöglichkeiten im Inland ist der letzte Grund des
Kapitalexports. (S.561)
Er bringt dann viele Zitate aus Marx über
Überakkumulation, und verweist auf sein Schema, wo nach dem 35. Jahre
steigende Kapitalmassen keine Verwendung im Inlande mehr finden;
deshalb müssen sie exportiert werden.
Wir erinnern daran, daß nach dem Schema jedoch zu wenig
Kapital vorhanden war für die vorhandene Bevölkerung, und der Überfluß
an Kapital bei ihm nur ein Rechenfehler war. Übrigens hat er bei all
seinen Marxzitaten vergessen, dasjenige anzuführen, wo Marx selbst über
den Kapitalexport spricht:
Wird Kapital ins Ausland geschickt, so geschieht es
nicht, weil es absolut nicht im Inland beschäftigt werden könnte. Es
geschieht, weil es zu höherer Profitrate im Auslande beschäftigt werden
kann. (Kapital, III, S.266)
Das Fallen der Profitrate ist einer der wichtigsten
Teile der Kapitaltheorie bei Marx; er hat es zuerst theoretisch
erklärt, und nachgewiesen, wie in dieser Falltendenz, die sich
periodisch in den Krisen durchsetzt, die Vergänglichkeit des
Kapitalismus verkörpert ist. Bei Grossmann ist es ein anderes Phänomen,
das hervortritt: nach dem 35. Jahr werden Arbeiter massenhaft
freigesetzt und wird zugleich Kapital überflüssig gemacht; dadurch wird
das Defizit an Mehrwert im nächsten Jahr schlimmer, werden also noch
mehr Arbeiter und noch mehr Kapital stillgelegt; mit der Abnahme der
Arbeiterzahl nimmt die Masse des produzierten Mehrwerts ab, und so
sinkt der Kapitalismus immer tiefer in die Katastrophe hinein. Hat
Grossmann da selbst nicht den Widerspruch bemerkt? Ja doch; und so
setzt er sich in dem Kapitel Die Ursachen der Verkennung der Marx’schen Akkumulations- und Zusammenbruchstheorie, nach einer einleitenden Betrachtung, ans Werk:
„So ist die Zeit für die Rekonstruktion der Marx’schen
Zusammenbruchslehre herangereift.“ (S.195) „Äußerlich mochte der
Umstand den Anlaß zum Mißverständnis ... gegeben haben“, daß das 3.
Kapitel von Bd.III, wie Engels im Vorwort sagte, ‚in einer Reihe unvollständiger mathematischer Bearbeitungen‘ vorlag.“
Engels nahm bei ihrer Bearbeitung die Hilfe seines Freundes, des Mathematikers Samuel Moore in Anspruch.
„Aber Moore war kein Nationalökonom ... Die
Entstehungsweise dieses Teiles des Werkes also macht es schon im voraus
glaubhaft, daß hier zu Mißverständnissen und Irrtümern reichlich.
Gelegenheit bestand und daß diese Irrtümer dann auch auf das Kapitel
von dem tendenziellen Fall du Profitrate ... leicht übertragen werden
konnten.“ (Nota bene: diese Kapitel lagen von Marx fertig vor!,) „Die
Wahrscheinlichkeit des Irrtums erhebt sich fast zur Gewißheit, wenn wir
erwägen, daß es sich dabei um e in Wort handelt, das aber
unglücklicherweise den Sinn der ganzen Darstellung vollständig
entstellt das unvermeidliche Ende des Kapitalismus wird dem relativen
Fall der Profitrate, statt -masse, zugeschrieben. Hier hat sich Engels
oder Moore sicher verschrieben.“ (S.195)
So sieht also die Rekonstruktion der Marx’schen Lehre aus! Und in einer Note wird noch ein Zitat angeführt und gesagt:
Bei den in Klammem gesetzten Worten hat sich Engels oder
Marx selbst verschrieben, es sollte richtigerweise heißen „und zugleich
eine Profitmasse, welche relativ fällt“. (Kapital, III, S.229)
Nun ist es Marx selbst schon, der sich verschreibt! Und
nun handelt es sich hier um eine Stelle, wo der Sinn unzweideutig klar
ist, wie der Wortlaut im Kapital sie gibt. Die ganze
Darlegung bei Marx, die mit jenem änderungsbedürftigen Satz endet,
dient als Fortsetzung eines Satzes, wo Marx erklärt:
Die Masse des von ihm produzierten Mehrwerts, daher die absolute Masse des von ihm produzierten Profits kann also wachsen, trotz des progressiven Falls der Profitrate ... Dies kann nicht nur der Fall sein, es muß der Faß sein – vorübergehende Schwankungen abgerechnet – auf Basis der kapitalistischen Produktion. (a.a.O., S.228)
Dann folgt eine Darlegung, weshalb die Profitmasse wachsen muß, und wieder heißt es:
Im Fortschritt des Produktions- und Akkumulationsprozesses muß
also die Masse der aneignungsfähigen und angeeigneten Mehrarbeit und
daher die absolute Masse des vom Gesellschaftskapital angeeigneten
Profits wachsen. (a.a.O., S.229)
Also das völlige Gegenteil der von Grossmann
ausgedachten Zusammenbruchserscheinungen. Und in den folgenden Seiten
wird das noch öfters wiederholt; das ganze 13. Kapitel besteht aus
einer Darlegung über:
Das Gesetz, das der durch die Entwicklung der
Produktivkraft verursachte Fall der Profitrate begleitet ist von einer
Zunahme der Profitmasse. (a.a.O., S.236)
Es kann also nicht der geringste Zweifel darüber
bestehen, daß Marx genau sagen will, was dort gedruckt steht und sich
durchaus nicht verschrieben hat. Und wenn Grossmann schreibt:
Der Zusammenbruch kann indessen durch den Fall der
Profitrate nicht erfolgen. Wie könnte ein prozentuales Verhältnis, wie
die Profirate, eine reine Zahl, den Zusammenbruch eines realen Systems
herbeiführen! (S.196)
so spricht er damit noch einmal aus, daß er von dem
ganzen Marx nichts verstanden hat und daß sein Zusammenbruch sich in
völligem Widerspruch zu Marx befindet.
Hier wäre die Stelle, wo er sich von der Haltlosigkeit
seiner Konstruktion hätte überzeugen können. Hätte er sich aber hier
von Marx belehren lassen, dann wäre seine ganze Theorie gefallen und
sein Buch ungeschrieben geblieben.
Das Grossmann’sche Werk kann man am richtigsten
bezeichnen als eine Zusammenstoppelung von Hunderten von Zitaten aus
Marx, unrichtig angewandt und zusammengeleimt durch eine
selbstkonstruierte Theorie. Jedesmal wo eine Beweisführung nötig wäre,
wird ein Marxzitat angeführt, das dazu nicht paßt, und die Richtigkeit
der Marx’schen Aussagen muß dem Leser den Eindruck der Richtigkeit der
Theorie vortäuschen.
Der Historische Materialismus
Die Frage verdient schließlich Beachtung, wie ein
Nationalökonom, der glaubt die Anschauungen von Marx richtig
wiederzugeben, ja sogar mit naiver Selbstsicherheit erklärt, als erster
die richtige Interpretation zu geben, so völlig daneben hauen kann und
sich in völligem Widerspruch zu Marx befindet. Die Ursache liegt in
dem. Mangel an historisch-materialistischer Einsicht. Die Marx’sche
Ökonomie ist gar nicht zu verstehen, wenn man sieh nicht die
historisch-materialistische Denkweise zu eigen gemacht hat.
Für Marx wird die Entwicklung der menschlichen
Gesellschaft, also auch die wirtschaftliche Entwicklung des
Kapitalismus, durch eine feste Notwendigkeit, wie durch ein Naturgesetz
bestimmt. Aber zugleich ist sie das Werk der Menschen, die darin ihre
Rolle spielen, indem jeder mit Bewußtsein und Absicht – obgleich nicht
Bewußtsein des gesellschaftlichen Ganzen – seine Taten bestimmt. Für
die bürgerliche Anschauungsweise liegt darin ein Widerspruch; entweder
das Geschehen hängt von menschlicher Willkür ab, oder, wenn es durch
feste Gesetze beherrscht wird, wirken diese als ein außer-
menschlicher, mechanischer Zwang. Für Marx setzt sich alle
gesellschaftliche Notwendigkeit mittels der Menschen durch; das
bedeutet, daß das menschliche Denken, Wollen und Handeln – obgleich es
dem eigenen Bewußtsein als Willkür erscheint – durch die Wirkungen der
Umwelt völlig bestimmt wird; und nur durch die Gesamtheit dieser,
hauptsächlich durch gesellschaftliche Kräfte bestimmten menschlichen
Taten setzt sich in der gesellschaftlichen Entwicklung eine
Gesetzmäßigkeit durch.
Die gesellschaftlichen Kräfte, die die Entwicklung
bestimmen, sind daher nicht nur die rein ökonomischen, sondern auch die
dadurch. bestimmten allgemein-politischen Taten, die der Produktion die
nötigen Rechtsnormen verschaffen müssen. Die Gesetzmäßigkeit liegt
nicht nur in der Wirkung der Konkurrenz, die Preise und Profite
ausgleicht und Kapitalien konzentriert, sondern auch in der
Durchführung der freien Konkurrenz, der freien Produktion durch
bürgerliche Revolutionen. Nicht nur in der Bewegung der Löhne, in der
Ausdehnung und dem Zusammenschrumpfen der Produktion in Prosperität und
Käse, in dem Schließen der Fabriken und dem Entlassen von Arbeitern,
sondern auch in der Empörung, dem Kampf der Arbeiter, in ihrer
Eroberung der Herrschaft über Gesellschaft und Produktion zwecks
Durchführung neuer Rechtsnormen. Die Ökonomie, als Totalität der für
ihre Lebensnotwendigkeit arbeitenden und strebenden Menschen, und die
Politik (im weitesten Sinne) als das Wirken und Kämpfen dieser Menschen
als Gesamtheit, als Klasse, für ihre Lebensnotwendigkeit bilden ein
einziges einheitliches Gebiet gesetzmäßiger Entwicklung. Die
Kapitalakkumulation, die Krisen, die Verelendung, die proletarische
Revolution, die Besitzergreifung der Herrschaft durch die
Arbeiterklasse bilden zusammen eine als Naturgesetz wirkende,
untrennbare Einheit, den Zusammenbruch des Kapitalismus.
Die bürgerliche Denkweise, die diese Einheit nicht
erfaßt, hat nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der
Arbeiterbewegung immer eine große Rolle gespielt. In der alten
radikalen Sozialdemokratie galt die – aus historischen Umständen
verständliche – fatalistische Anschauung, die Revolution werde
naturnotwendig einmal kommen, aber jetzt sollen die Arbeiter keine
gefährlichen Aktionen versuchen. Der Reformismus bezweifelte die
Notwendigkeit der gewaltsamen“ Revolution, und glaubte die Vernunft der
Staatsmänner und Führer werde durch Reform und Organisation das Kapital
bändigen. Andere glaubten, das Proletariat müsse durch moralische
Predigten zu revolutionärer Tugend erzogen werden. Immer fehlte das
Bewußtsein, daß diese Tugend nur durch die ökonomischen Kräfte, die
Revolution nur durch die geistigen Kräfte in den Menschen ihre
Naturnotwendigkeit finden. Jetzt treten andere Anschauungen auf. Der
Kapitalismus hat sich einerseits mächtig und unangreifbar gezeigt gegen
allen Reformismus, alle Führerkunst und alle Revolutionsversuche;
lächerlich unbedeutend erscheint dies alles gegen seine gewaltige
Kraft. Aber zugleich tritt in furchtbaren Krisen seine innere
Unhaltbarkeit hervor. Und wer jetzt Marx zur Hand nimmt und studiert,
kommt tief unter den Eindruck der unabwendbaren Gesetzmäßigkeit des
Zusammenbruchs und nimmt begeistert diesen Gedanken in sich auf.
Wenn aber seine tiefste Denkweise bürgerlich ist, kann
er diese Notwendigkeit nicht anders verstehen, als eine
außermenschliche Macht. Der Kapitalismus ist ihm ein mechanisches
System, in welchem die Menschen als Wirtschaftspersonen, Kapitalisten,
Käufer, Verkäufer, Lohnempfänger etc., mitspielen, aber sonst einfach
passiv zu erleiden haben, was der Mechanismus kraft seiner inneren
Struktur über sie verhängt.
Diese mechanistische Auffassung kann man auch erkennen
in den Darlegungen Grossmanns über den Arbeitslohn, wo er heftig
losfährt gegen Rosa Luxemburg:
Überall begegnet man einer unglaublichem barbarischen
Verstümmelung der grundlegendsten Elemente der Marx’chen Lohntheorie
(S.585)
gerade dort, wo sie vollkommen richtig den Wert der
Arbeitskraft als eine mit der gewonnenen Lebenshaltung selbst dehnbare
Größe behandelt. Für Grossmann ist der Wert der Arbeitskraft
keine elastische, sondern eine fixe Größe (S.586);
solche Wilkürlichkeiten als Kampf der Arbeiter können
keinen Einfluß darauf haben; nur bei einer größeren Intensität der
Arbeit muß mehr verausgabte Arbeitskraft ersetzt werden, muß also
deshalb der Lohn steigen.
Es ist hier die gleiche maschinenmäßige Auffassung: der
Mechanismus bestimmt die ökonomischen Größen, während die kämpfenden
und handelnden Menschen außerhalb dieses Zusammenhanges stehen. Er
beruft sich dabei wieder auf Marx, wo dieser über den Wert der
Arbeitskraft sagt:
Für ein bestimmtes Land, zu einer bestimmten Periode
jedoch, ist der Durchschnitts-Umkreis der notwendigen Lebensmittel
gegeben. (Kap.1, S.134);
aber er hat leider wieder übersehen, daß bei Marx der Satz unmittelbar vorangeht:
Im Gegensatz zu den anderen Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element.
Von seiner bürgerlichen Denkweise aus sagt daher Grossmann in seiner Kritik verschiedener sozialdemokratischer Auffassungen:
Wir sehen: der Zusammenbruch des Kapitalismus wurde
entweder geleugnet, oder aber voluntaristisch mit politischen,
außerökonomiscrhen Momenten begründet. Ein ökonomischer Nachweis der
Notwendigkeit des Zusammenbruchs des Kapitalismus wurde nicht erbracht.
(S.58-59)
Und er zitiert mit Zustimmung einen Ausspruch
Tugan-Baranowsky’s daß zuerst ein strenger Beweis zu liefern sei für
die Unmöglichkeit des Fortbestehens des Kapitalismus und damit erst die
Notwendigkeit der Verwandlung des Kapitalismus in sein Gegenteil
bewiesen sei. Tugan selbst verneint diese Unmöglichkeit und will dem
Sozialismus eine ethische Begründung geben. Daß Grossmann sich diesen
liberalen russischen Ökonomen, der bekanntlich dem Marxismus immer
völlig fremd gegenüberstand, als Schwurzeugen wählt, zeigt wie sehr er
ihm, trotz entgegengesetztem praktischen Standpunkt, im Grund des
Denkens verwandt ist. (Vgl. auch S.108) Die Marx’sche Auffassung daß
der Zusammenbruch des Kapitalismus die Tat der Arbeiterklasse sein
wird, also eine politische Tat ist (in der weitesten Bedeutung dieses
Wortes: allgemein-gesellschaftlich, was von Besitzergreifung der
ökonomischen Herrschaft untrennbar ist), kann er nur verstehen als
„voluntaristisch“, d.h. daß es dem freien Willen, der Willkür der
Menschen anheim gestellt wird.
Der Zusammenbruch des Kapitalismus bei Marx hängt in der
Tat von dem Willen der Arbeiterklasse ab; aber dieser Wille ist nicht
Willkür, nicht frei, sondern selbst vollkommen bestimmt durch die
ökonomische Entwicklung. Die Widersprüche der kapitalistischen
Ökonomie, die in der Arbeitslosigkeit, in den Krisen, in den Kriegen,
in den Klassenkämpfen immer aufs neue hervortreten, bestimmen den
Willen des Proletariats immer aufs neue auf die Revolution. Nicht weil
der Kapitalismus ökonomisch zusammenbricht, und deshalb die Menschen,
Arbeiter und andere, durch Notwendigkeit gezwungen, eine neue
Organisation schaffen, kommt der Sozialismus. Sondern weil der
Kapitalismus, wie er lebt und wächst, für die Arbeiter stets
unerträglicher wird und sie in den Kampf treibt, immer wieder, bis in
ihnen der Wille und die Kraft gewachsen sind, die Kapitalherrschaft zu
stürzen und eine neue Organisation aufzubauen, bricht der Kapitalismus
zusammen. Nicht weil diese Unerträglichkeit von außen demonstriert,
sondern weil sie spontan als solche empfunden wird, treibt sie zur Tat.
Die Marx’sche Theorie, als Ökonomie zeigt, wie jene Erscheinungen
unabwendbar immer stärker auftreten, und als Historischer
Materialismus, daß aus ihnen dann notwendig der revolutionäre Wille und
die revolutionäre Tat entstehen.
Die neue Arbeiterbewegung
Daß das Buch Grossmanns unter den Wortführern der neuen
Arbeiterbewegung einige Beachtung gefunden hat, ist aus dem Grunde
verständlich, daß er sich gegen dieselben Gegner wendet wie sie. Sie
hat die Sozialdemokratie und den Parteikommunismus der 3.
Internationale, zwei Äste desselben Stammes, zu bekämpfen, weil diese
die Arbeiterklasse an dem Kapitalismus anpassen. Er wirft den
Theoretikern dieser Richtungen vor, daß sie die Marx’schen Lehren
verunstaltet und gefälscht haben, und er betont den notwendigen
Zusammenbruch des Kapitalismus. Seine Schlußfolgerungen klingen ähnlich
wie die unsrige; Sinn und Wesen sind jedoch völlig verschieden. Wir
sind auch der Meinung, daß die sozialdemokratischen Theoretiker, so
gute Kenner der Theorie sie oft waren, doch Marx Lehre verunstaltet
haben; aber ihr Irrtum war ein historischer, war der als Theorie
festgeronnene Niederschlag einer früheren Kampfperiode des
Proletariats. Sein Irrtum ist der eines bürgerlichen Nationalökönomen,
der den Kampf des Proletariats praktisch nie kannte, und daher dem
Wesen des Marxismus verständnislos gegenübersteht.
Ein Beispiel, wie seine Schlußfolgerungen scheinbar mit
den Anschauungen der neuen Arbeiterbewegung übereinstimmen, aber im
Wesen völlig entgegengesetzt sind, finden wir in seiner Lohntheorie.
Nach seinem Schema tritt nach dem 35. Jahre in dem Zusammenbruch eine
rasch steigende Arbeitslosigkeit ein. Dadurch wird der Arbeitslohn tief
unter den Wert der Arbeitskraft sinken, ohne daß ein wirksamer
Widerstand möglich ist.
Hier ist die objektive Grenze der gewerkschaftlichen Aktion gegeben. (S.599)
So bekannt dies klingt, so ist doch die Grundlage
verschieden. Die schon lange eingetretene Machtlosigkeit der
gewerkschaftlichen Aktion ist nicht einem ökonomischen Zusammenbruch,
sondern einer gesellschaftlichen Machtverschiebung zuzuschreiben.
Jedermann weiß, wie die gestiegene Macht der Unternehmerverbände des
konzentrierten Großkapitals die Arbeiterklasse relativ machtloser
machte. Hier kommt jetzt die Wirkung einer schweren Krise hinzu, die
die Löhne herunterdrückt, wie das in jeder früheren Krise geschah. Der
reinwirtschaftliche Zusammenbruch des Kapitalismus, den Grossmann
konstruiert, bedeutet nicht eine völlige Passivität des Proletariats.
Denn wenn dieser Zusammenbruch stattfindet, dann muß eben die
Arbeiterklasse aufstehen, um die Produktion auf neuer Grundlage wieder
zu errichten.
So drängt die Entwicklung zur Entfaltung und zur
Zuspitzung der inneren Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit, bis die
Lösung nur durch den Kampf beider herbeigeführt werden kann. (S.599)
Und dieser Endkampf steht auch mit dem Lohnkampf im
Zusammenhang, wenn (wie schon oben erwähnt) bei Herunterdrückung des
Lohnes die Katastrophe etwas aufgeschoben, bei Lohnsteigerung dagegen
beschleunigt wird. Aber die ökonomische Katastrophe ist doch das
wesentliche Moment, und die Neuregelung wird den Menschen zwangsweise
aufgenötigt. Zwar werden die Arbeiter als Bevölkerungsmasse die
wuchtige Kraft der Revolution abgeben, genau so wie sie in früheren
bürgerlichen Revolutionen die Massenkraft der Aktion bildeten; dies ist
aber, wie bei einer Hungerrevolte in, Großen, unabhängig von ihrer
revolutionären Reife, von ihrer Fähigkeit selbst, die Herrschaft über
die Gesellschaft in die Hand zu nehmen und zu behalten. Das bedeutet,
daß eine revolutionäre Gruppe, eine Partei mit sozialistischen Zielen
als neue Herrschaft an die Stelle der alten treten muß, um statt des
Kapitalismus irgendeine Planwirtschaft einzuführen. Diese Theorie der
ökonomischen Katastrophe paßt also gerade für Intelligenzler, die die
Unhaltbarkeit des Kapitalismus erkennen und eine Planwirtschaft wollen,
weiche durch fähige Ökonomen und Führer aufgebaut werden muß. Und man
wird darauf rechnen müssen, daß noch manche ähnliche Theorie aus diesen
Kreisen aufkommen oder dort Beifall finden wird.
Auch auf revolutionäre Arbeiter wird die Theorie der
notwendigen Katastrophe eine gewisse Anziehungskraft ausüben können.
Sie sehen die übergroßen Massen des Proletariats noch an den alten
Organisationen, den alten Führern, den alten Methoden hängen, Blind für
die Aufgaben, die die neue Entwicklung ihnen auferlegt, passiv,
unbeweglich, ohne Anzeichen revolutionärer Tatkraft. Und die wenigen
Revolutionäre, die die Entwicklung erkennen, möchten den dumpfen Massen
eine tüchtige wirtschaftliche Katastrophe wünschen, damit sie endlich
aus dem Schlafe erwachen und in Aktion treten. Auch gäbe die Theorie,
daß der Kapitalismus jetzt in eine Endkrise getreten ist, eine so
schlagende und einfache Widerlegung allen Reformismus und aller
Parteiprogramme, die Parlamentsarbeit und Gewerkschaftsbewegung
voranstellen, eine so bequeme Beweisführung, daß eine revolutionäre
Taktik notwendig ist, daß revolutionäre Gruppen sie sympathisch
begrüßen müssen. Aber so einfach und bequem ist nun, einmal der Kampf
nicht, auch nicht der theoretische Kampf der Gründe und Beweisführungen.
Der Reformismus war nicht nur in der Krise, sondern auch
schon während der Prosperität eine falsche Taktik, die das Proletariat
schwächte. Parlamentarismus und Gewerkschaftstaktik haben sich nicht
nur in dieser Krise, sondern schon während einiger Jahrzehnte unfähig
erwiesen. Nicht wegen eines ökonomischen Zusammenbruchs des
Kapitalismus, sondern wegen seiner ungeheuren Machtentfaltung, seiner
Ausdehnung über die ganze Erde, seiner Zuspitzung der politischen
Gegensätze, seiner gewaltigen Stärkung der inneren Macht muß das
Proletariat zu Massenaktionen greifen, zum Aufbieten der Kraft der
ganzen Klasse. In dieser Machtverschiebung liegt der Grund für die
Neuorientierung der Arbeiterbewegung.
Nicht eine Endkatastrophe, aber viele Katastrophen hat
die Arbeiterklasse zu erwarten, politische, wie die Kriege, und
ökonomische, wie die Krisen, die periodisch bald regelmäßiger, bald
unregelmäßig, aber im Ganzen mit dem zunehmenden Umfang des
Kapitalismus immer verheerender werden. Darin werden die Illusionen und
die Ruhetendenzen des Proletariats immer wieder zusammenbrechen, werden
immer schärfere und tiefere Klassenkämpfe ausbrechen. Es erscheint als
Widerspruch, daß die heutige Krise, so tief und verheerend wie keine
zuvor, nichts von einer erwachenden proletarischen Revolution zeigt.
Aber die Beseitigung alter Illusionen ist ihre erste große Aufgabe;
einerseits der Illusion, mittels sozialdemokratischer Parlamentspolitik
und gewerkschaftlicher Aktion durch Reformen den Kapitalismus
erträglich zu machen, andererseits der Illusion mittels einer sich
revolutionär gebärenden kommunistischen Partei als Führerin den
Kapitalismus in einem Sturmlauf überrennen zu können. Die
Arbeiterklasse selbst, als Masse, hat den Kampf zu führen, und sie hat
sich noch in den neuen Kampfformen zurechtzufinden, während die
Bourgeoisie schon ihre Macht fester ausbaut. Schwere Kämpfe können
nicht ausbleiben. Und mag diese Krise auch abflauen, neue Krisen werden
kommen und neue Kämpfe. In diesen Kämpfen wird die Arbeiterklasse ihre
Kampfkraft entwickeln, ihre Ziele herausfinden, sich schulen, sich
selbständig machen und lernen, die eigenen Geschicke, d.h. die
gesellschaftliche Produktion selbst in die Hand zu nehmen. In diesem
Prozeß vollzieht sich der Untergang des Kapitalismus. Die
Selbstbefreiung des Proletariats ist der Zusammenbruch des Kapitalismus.
Editorische
Anmerkungen
Der Text wurde zuerst
in den Niederlanden anonym
veröffentlicht in:
Rätekommunist, Nr.1, Juni 1934.
Wieder veröffentlicht wurde er in
Gottfried Mergner, Gruppe
Internationaler Kommunisten Hollands, Rowohlt,
Reinbek-Hamburg, 1971.
OCR-Scan red. trend
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