In
weniger als einer Woche hat sich die anfangs friedliche
Demonstration von 300 Mönchen in der tibetischen Hauptstadt
Lhasa zu einer größeren Bewegung gegen die Besetzung Tibets
durch China gewandelt und ist sogar bis in Chinas Kerngebiet
vorgedrungen.
Die Proteste
wurden durch die andauernde nationale Unterdrückung des
tibetischen Volkes und die heftige Unterdrückung gegen
friedliche Demonstranten angefacht. Am 14. März steigerten sich
die Proteste zu erbitterten Gefechten mit der Polizei und später
auch mit Einheiten der chinesischen Armee, der
„Volksbefreiungsarmee.“ Berichte sprechen von Dutzenden Toten.
Die Antwort der BewohnerInnen des ältesten Stadtviertels Lhasas,
Barkhor, entlud sich in Plünderungen chinesischer Geschäfte und
im Verbrennen ihrer Waren auf den Straßen.
Als die
Nachricht von diesen Ereignissen die Runde machten,
demonstrierten tibetanische Gemeinden in den Provinzen Setschuan,
Kchinghai und Gansu in Solidarität mit ihren ethnischen
Landsleuten. In Xiahe (Gansu) griffen DemonstrantInnen Polizei-
und Regierungsgebäude an. Der 10. März ist der Jahrestag der
chinesischen Invasion 1950 und des Aufstandes gegen die
Besatzungsmacht 1959. 2008 haben RegierungsgegnerInnen die
bevorstehenden Olympischen Spiele in Peking zum Anlass erkoren,
um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf ihre Sache zu
lenken.
Es ist
beileibe nicht das erste Mal seit 1959, dass sich solche
Proteste ereignen. Die größte Herausforderung für das
Zentralregime gab es 1989, als sich die Stimmung gegen die
chinesische Herrschaft mit der sich ausbreitenden ökonomischen
Ungleichstellung, der Korruption im Staatsapparat und steigender
Inflation nicht nur in Tibet, sondern in ganz China verband. Die
blutige Unterdrückung in Tibet war unmittelbarer Vorbote des
Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989.
Chinas Statthalter in Tibet war damals Hu Jintao, der heutige
chinesische Präsident.
Seither
verfolgt die Zentralregierung eine Politik der Verminderung des
Anteils der TibeterInnen auf den Stand einer Minderheit in ihrem
angestammten Gebiet - durch großzügige Umsiedlung von
Han-Chinesen nach Tibet. Damit soll die Behauptung untermauert
werden, dass Tibet nur ein gewöhnlicher Teil von China ist. Als
offizielle Rechtfertigung dafür soll die These herhalten, dass
Tibet geschichtlich Teil des chinesischen Reiches gewesen sei.
Außerdem bedeute die chinesische Herrschaft heute sozialen
Fortschritt für das Volk von Tibet. Beide Argumente sind
falsch.
Geschichte
Tibet
unterhielt lange Beziehungen zu China und entrichtete Abgaben an
den Kaiser. Es gab allerdings auch Jahrhunderte lange Perioden,
in denen keine unmittelbare Abhängigkeit bestand. Die tibetische
Gesellschaft unterschied sich stets von der Chinas. Die
gegenwärtigen Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrsanbindung
und des Wohnraums kommen nicht so sehr den TibeterInnen,
sondern eher den hanchinesischen Neusiedlern zu Gute und
erleichtern dem Zentralregime die Kontrolle über die Bewohner.
Selbst
wenn die chinesischen Thesen über Tibet zuträfen, berühren sie
nicht den entscheidenden Punkt. Viele der heutigen
Nationalitäten waren einstmals feste Bestandteile von
vorkapitalistischen Staaten. Als nächstliegende Parallelen
können Korea, Japan oder Vietnam gelten, die auch dereinst dem
chinesischen Kaiser steuerpflichtig waren, heute aber
unbestritten eigenständige Nationen bilden. Das lässt sich auch
von vielen Nationen innerhalb Europas oder Vorderasiens sagen,
die früher dem heiligen römischen, dem Habsburger oder dem
osmanischen Reich angehörten.
Auch die
Briten bauten Eisenbahnen durch Indien und Afrika, aber nicht
aus Verantwortung für die Völkerschaften in den eroberten
Landstrichen. Die Eisenbahnstrecken dienten der Zufuhr von
Truppen und der Ausfuhr von Reichtümern, wie in Tibet heute.
Es
stimmt, dass die überkommene tibetische Gesellschaft auf
niedriger Entwicklungsstufe stehen geblieben ist. Unter der
Herrschaft des Dalai Lama, der großen Kaste der Klostervorsteher
und der feudalen Landbesitzer war Tibet alles andere als ein
Paradies. Ganz im Gegenteil: dieses System beutete die große
Mehrheit der Bauern und Klosterschüler brutal aus. Nur die
gnadenlose Unterdrückung durch Chinas Stalinisten verklärt diese
alte Gesellschaft als heile Welt. Die Überstülpung des
‚Fortschritts’ von außen durch den chinesischen Staat trug nur
dazu bei, dass die Menschen in Tibet sich wieder enger an die
traditionelle Elite banden. Das war auch so, als die chinesische
Wirtschaft nach einem korrupten und bürokratisierten Plan
organisiert wurde. Heute, unter kapitalistischen Verhältnissen,
trifft das umso mehr zu.
Mit der
Wiederherstellung des Kapitalismus unter Deng Xiaoping Anfang
der 90er Jahre schwand jede Möglichkeit einer planvollen
Entwicklung Tibets, die der Bevölkerung hätte zu Gute kommen
können. Die Diktatur der chinesischen KP und das Verbot
jeglicher unabhängiger politischer Betätigung macht es
unmöglich, den Grad der Tiefe der realen Unterstützung für die
exilierte geistliche Führung um den Dalai Lama in der
Bevölkerung auszuloten. Das Mitführen der tibetischen
Nationalflagge, Symbol für seine Richtung, auf Demonstrationen
ist jedoch ein Indiz dafür, dass sein Einfluss immer noch weit
reicht. Aber die Geschwindigkeit und Heftigkeit, mit der die
Proteste in Zusammenstöße mit der Staatsmacht und Unruhen
mündeten, weisen darauf hin, dass die pazifistische Taktik und
die Strategie des Kompromisses mit der chinesischen Führung, die
der Dalai Lama pflegt, an Einfluss unter der jüngeren
tibetischen Generation einbüsst.
Die
Tibeter sollten sich auch keinerlei Illusionen in die westlichen
Imperialisten hingeben. Diese haben nur zaghafte Kritik an der
chinesischen Unterdrückung geäußert und wollen Tibet vor allem
als Druckmittel für eine weitere Öffnung der chinesischen
Wirtschaft benutzen. Das Eindringen westlichen Kapitals in Tibet
würde dem Land nicht Nutzen bringen, sondern nur einer anderen
Ausbeuterschicht unterordnen. Hinzu kommt, dass derzeit die
Bürokratie der chinesischen KP für den Imperialismus weitaus
wertvoller ist als der Dalai Lama.
Dimensionen
Die
Bewegung in Tibet hat die Besatzung erschüttert und Schockwellen
in China und sogar in ganz Asien erzeugt. Sie hätte das Pekinger
Regime kaum zu einem ungünstigeren Zeitpunkt treffen können. Im
„olympischen Jahr“ steht China im Scheinwerferlicht der
Weltöffentlichkeit, worauf die Staatsführung so lange gewartet
hat. Die Proteste der ArbeiterInnen und Bauern könnten nun
ausgerechnet ausbrechen, wenn die ganze Welt zuschaut.
Angriffe
auf chinesische Siedler sind jedoch eine Strategie, welche die
tibetischen Massen in die Irre führt. Chinesische Läden als
Zielscheibe lassen vermuten, es handele sich bei den führenden
Kräften in Lhasa um tibetische Ladenbesitzer, die sich im
Konkurrenzkampf um den zunehmenden chinesischen Touristenstrom
unterlegen fühlen. Sie werden nur der Parteibürokratie helfen,
die Rebellion in Tibet von Widerständen und Erhebungen, die in
China an der Tagesordnung sind, abzuspalten.
Wir
müssen klar machen, dass der wahre Feind des tibetischen Volkes
und der chinesischen Zuwanderer der chinesische Partei- und
Staatsapparat ist. Das Ringen um Selbstbestimmung muss
demokratisch und als Klassenkampf mit dem Ziel einer
gesellschaftlichen Umwälzung in ganz Asien geführt werden.
Nationale Freiheit des tibetischen Volkes kann nur durch den
Beistand der ArbeiterInnen und Bauern in ganz China erlangt
werden. Die tibetischen Massen müssen sich klare und weit
reichende Ziele stecken. Die Rückkehr des Dalai Lama als
Gottkönig in einer wieder errichteten Theokratie hätte
verheerende Auswirkungen und würde die Wiedererschaffung eines
reaktionären asiastischen Despotismus bedeuten.
Der
Wirtschaftsaufbau muss den Lebensstandard und die Chancen für
die Masse der Bevölkerung in gemeinsamem Interesse von
TibeterInnen und Han-Chinesen heben. Die Entwicklung des von der
KP eingeführten und auch in Tibet erste Spuren hinterlassenden
Kapitalismus vermag nur einer winzigen Minderheit Wohlstand zu
bringen, während die Massen zunehmend verarmen.
Gesellschaftliches Eigentum an Land und moderner Industrie und
deren Aufbau entlang eines demokratischen Planes ist das einzige
Programm, was den materiellen Fortschritt absichern kann bei
gleichzeitiger Beachtung der Rechte von verschiedenen
Gemeinschaften.
Die Welt
steht am Rande einer wachsenden Wirtschaftskrise. Die
herrschenden Klassen in Asien wollen alles tun, um die Kosten
dafür auf die Arbeiter und Bauern abzuwälzen. Aber selbst in
Jahren relativen wirtschaftlichen Aufschwungs stehen sie vor
zunehmenden Herausforderungen. Die nepalesische Bevölkerung hat
die verhasste Monarchie gestürzt, in Pakistan hat es eine Reihe
von tiefen gesellschaftlichen und politischen Krisen gegeben, in
Indien greifen Bauernaufstände um sich. Die Zeit ist reif für
die Verbindung demokratischer und nationaler
Auseinandersetzungen mit der Schlacht gegen den Kapitalismus und
für gesellschaftliche Umwälzung in ganz Asien. Die Formierung
einer revolutionären Partei und einer neuen Weltpartei für die
soziale Revolution, die 5. Internationale im Kampf für dieses
Programm könnte dringlicher nicht sein.
- Nieder
mit der chinesischen Besatzung in Tibet!
-
Bedingungslose Unterstützung für alle, die gegen diese
Besetzung kämpfen!
- Nein
zur Restauration der Theokratie des Dalai Lama!
- Für
eine souveräne Verfassungsgebende Versammlung als
Beschlussorgan über die Zukunft des Landes!
- Für
eine Arbeiter- und Bauernregierung in Tibet!
-
Imperialisten: Hände weg von Tibet!
- Für
weltweite Solidaritätsbekundungen mit der tibetischen
Bevölkerung!
Editorische
Anmerkungen
Den Flugi-Text erhielten wir durch
die ARBEITERMACHT-INFOMAIL,
Nummer 353 vom 24. März
2008
zur Veröffentlichung
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