Phänomenologie
[griech] - eigtl: Lehre von den Erscheinungen.
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1. Als Wort ist Phänomenologie das erstemal von
LAMBERT zur Bezeichnung desjenigen
Teils seiner Lehre gebraucht worden, in dem er eine Theorie
der Erscheinungen als Grundlage und Voraussetzung der
Erfahrungserkenntnis entwickelt und der er die Aufgabe
zuspricht, den Schein (den Irrtum, die Falschheit) innerhalb
der Erscheinung bloßzulegen, um zu ihrem Wesen, zu ihrer
Wahrheit vorzudringen (Org4). KANT verwendet das Wort in
seiner Naturphilosophie zur Benennung der dort entworfenen
Lehre von den empirischen Naturerscheinungen bloß als
Vorstellungen im Unterschied zur Lehre vom
Ding an sich (Met Anfgr Naturw IV).
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Phänomenologie als Wort wird ferner von brentano und seinen
Anhängern im Sinne von deskriptiver (beschreibender)
Psychologie, von E. von HARTMANN zur Benennung seiner Lehre
von den Erscheinungsformen des sittlichen Bewußtseins und
anderen gebraucht. Zur Bezeichnung eines philosophischen Systems
bzw. einer philosophischen Richtung wird das Wort
«Phänomenologie» erst von und seit HUSSERL verwendet.
HEGEL versteht unter Phänomenologie
die Erscheinungsformen des Geistes in der dialektischen und
historischen Stufenfolge seiner Gestalten von den unmittelbaren
sinnlichen Gegebenheiten über das Selbstbewußtsein, die
Sittlichkeit, Kunst, Religion, Wissenschaft, Philosophie bis zum
absoluten Wissen. Die Phänomenologie des Geistes ist so
für HEGELder Weg, den jedes Individuum mit seinem zunächst
gewöhnlichen (unmittelbaren) Bewußt-sein zurücklegen
muß, um zum philosophischen Bewußtsein aufzusteigen.
Dieser Weg ist zugleich die als Wissen dargestellte
konzentrierte Erfahrung der wissenschaftlichen Entwicklung der
Menschheit von ihren Anfängen bis zu der in der (hegelschen)
Gegenwart erreichten Höhe, wobei die logisch-methodischen und
historischen Aspekte dieser Entwicklung als Einheit betrachtet
werden. In diesem Gedanken hegels ist ein rationelles und
dialektisches Moment enthalten, das im dialektischen und
historischen Materialismus in der Lehre von der Einheit des
Logischen und des Historischen seine Konkretisierung und als
Problem seine wissenschaftliche Lösung erfahren hat.
2. von HUSSERL begründete Strömung der spätbürgerlichen
deutschen Philosophie. Die Phänomenologie entwickelte sich um
die Jahrhundertwende im Zusammenhang mit der beginnenden Abkehr
der spätbürgerlichen deutschen Philosophie vom
NeuKANTianismus. Hauptinhalt dieser Abkehr vom
NeuKANTianismus war das Ersetzen seiner rationalistisch
orientierten Erkenntnismethoden durch irrationalistische und die
versuchte Eliminierung seines subjektiven Idealismus durch die
Konstituierung einer Pseudoobjektivität als Voraussetzungen zum
Aufbau einer, breite Kreise der Intelligenz ansprechenden,
irrationalistischen Weltanschauung. Die Phänomenologie nimmt
sich vor allem der Erfindung einer irrationalistischen
«Erkenntnismethode» an, während Weltanschauungsfragen in ihr
eine untergeordnete Rolle spielen. Die Ansätze zu einer
Weltanschauung, die sich in ihr finden, werden nach dem Kriege
von den sie ablösenden und von ihr stark beeinflußten
philosophischen Richtungen, der neuen Ontologie und dem
Existentialismus, übernommen und weitergeführt. In
Anbetracht dessen, daß es der Phänomenologie vornehmlich um die
Entwicklung einer neuen philosophischen Methode ging, wird oft
statt «Phänomenologie» auch «phänomenologische Methode»
gesagt. In der Tat können beide Namen synonym gebraucht werden.
HUSSERL entwickelte die Phänomenologie als philosophische
Methode im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, und zwar
zunächst als rein akademische Angelegenheit. Erst seine Schüler
(M. Scheler, Heidegger,
Pfänder, Geiger,
Reinach, O. Becker)
und Anhänger (vor allem N. HARTMANN) verschafften ihr
Breitenwirkung, indem
sie sie als philosophisch-methodische Grundlage zum
Aufbau ihrer eigenen philosophischen Lehren benutzten oder in
einzelnen Disziplinen (Ethik, Logik) oder Einzelwissenschaften
(Mathematik, Soziologie) zur Anwendung brachten. Die
Phänomenologie als philosophische Methode ist nach HUSSERL nicht
Erkenntnis im eigentlichen Sinn, sondern geistiges Schauen,
Intuition. Die Intuition wird von HUSSERL bewußt den
unabdingbaren Bestandteilen jeder wissenschaftlichen Erkenntnis,
dem diskursiven Erkennen und der Abstraktion, entgegengestellt.
Das Organon der phänomenologischen Methode ist die
Wesensschau: ein innerliches, geistiges Aussprechen des
Gegenstandes, wie er in der geistigen Schau gegeben ist, nicht,
wie er außerhalb des Bewußtseins existiert. Zwar fordert HUSSERL
die prinzipielle Einbeziehung der Frage nach der Realität des
Gegenstandes in die Wesensschau, aber nur als ihre allgemeinste
Bedingung, von der während der «Schau» selber abzusehen ist. Mit
dieser Forderung will HUSSERL dem neukantianischen
Subjektivismus aus dem Wege gehen und seiner Lehre eine
Wendung zum Objektiven geben. In Wirklichkeit treibt er diesen
jedoch auf die Spitze. Am Ende steht keine echte Objektivität,
sondern eine Pseudoobjektivität. Denn die Wesensschau hat den
Erkenntnisgegenstand unabhängig von seiner Existenz, seinem
Dasein, der Art und Weise seines Gegebenseins, ausschließlich in
seiner Washeit (das, was der Gegenstand für sich ist) geistig zu
sehen (zu schauen). Zu erreichen ist die Wesensschau vor allem
mit Hilfe der eidetischen Reduktion, d. h. der
Konzentration auf das Wesen des Gegenstandes und die dieses
Wesen erfassenden psychischen Akte, der «Ausklammerung» der
Außenwelt, des Bewußtseins, des bereits vorhandenen Wissens über
den Gegenstand, der bekannten wissenschaftlichen Methoden, jeder
Art von Beweisführung überhaupt. Es versteht sich von selbst,
daß eine solche Methode die These zur Voraussetzung haben muß,
daß der objektiven Realität keine Selbständigkeit zukommt, daß
sie nur Intentionalität, Bewußtes, Erscheinendes ist.
Eben deshalb kann nach HUSSERL die Frage nach der Realität eines
Gegenstandes, die Frage nach der objektiven Realität
schlechthin, bei jedem Erkenntnisvorgang «ausgeklammert» werden.
In der wohl besten Einführung in die Phänomenologie HUSSERLs
wird dazu formuliert: «Es kommt darauf an, zu beschreiben, nicht
zu erklären oder zu analysieren. In dieser ersten Weisung, die
hussbrl der beginnenden Phänomenologie gab, nämlich
.beschreibende Psychologie' zu sein oder zu den Sachen selbst
zurückzukehren, liegt als erstes eine Nichtanerkennung der
Wissenschaften. Ich bin nicht das Ergebnis oder der
Kreuzungspunkt der vielfachen Kausalitäten, die meinen
Körper oder mein Psychisches bestimmen, ich kann mich
weder als einen Teil der Welt denken, als das einfache Objekt
der Biologie, der Psychologie und der Soziologie, noch mich ganz
im Universum der Wissenschaften erschöpfen. Alles, was ich von
der Welt weiß, selbst durch die Wissenschaft, weiß ich von
meiner Sicht oder meiner Erfahrung der Welt aus, ohne welche die
Symbole der Wissenschaften keinen Sinn besäßen. Das gesamte
Universum der Wissenschaften ist auf der erlebten Welt
errichtet, und wenn wir die Wissenschaften selbst mit Strenge
denken und ihre Bedeutung und ihre Reichweite genau würdigen
wollen, müssen wir zunächst jene Erfahrung der Welt erwecken,
deren zweiter Ausdruck sie sind. Die Wissenschaft hat nicht und
wird niemals den gleichen Daseinssinn haben wie die
wahrgenommene Welt, aus dem einfachen Grunde, weil sie eine
Bestimmung oder eine Erklärung der Welt ist... Die
wissenschaftlichen Ansichten, denen zufolge ich ein Moment der
Welt bin, sind immer naiv und heuchlerisch, weil sie immer
stillschweigend die andere Sicht, die des Bewußtseins, mit
einbegreifen, durch welche sich zunächst eine Welt um mich herum
ordnet und für mich zu existieren beginnt. Zu den Sachen selbst
zurückkehren, heißt zu dieser Welt vor aller Erkenntnis
zurückkehren, von der die Erkenntnis immer spricht und im
Verhältnis zu der jede wissenschaftliche Bestimmung abstrakt,
zeichenhaft und abhängig ist.» Denn: «Die Welt ist kein Objekt,
deren Konstitutionsgesetz ich besitze,
sie ist das natürliche Milieu und das Feld all meiner Gedanken
und all meiner ausdrücklichen Wahrnehmungen. Die Wahrheit wohnt
nicht nur in dem inneren Menschen ..., oder vielmehr: es gibt
keinen inneren Menschen, der Mensch ist in der Welt, er kennt
sich in der Welt. Wenn ich vom Dogmatismus des gesunden
Menschenverstandes aus oder vom Dogmatismus der Wissenschaft aus
zu mir selbst komme, treffe ich nicht auf ein Zentrum innerer
Wahrheit, sondern au/ein der Welt hingegebenes Subjekt» (Merleau-Ponthy,
Phenomenologie de la Perception 1945). Diese Ausführungen
unterstreichen deutlich den pseudo-objektiven
Charakter der Phänomenologie HUSSERLs. Gerade dadurch machte die
Phänomenologie innerhalb der bürgerlichen Philosophie der Zeit,
vor allem in Deutschland, Schule. Insbesondere daraus erklärt
sich die tiefgehende Wirkung der Phänomenologie auf solche
einflußreichen spätbürgerlichen philosophischen Richtungen wie
die neue Ontotogie und den Existentialismus.
HUSSERLs phänomenologische Methode ist ein ebenso
großangelegter wie verfehlter Versuch, die Grundfrage der
Philosophie zu umgehen und den philosophischen Materialismus,
den der Neukantianismus noch direkt bekämpfte und als Gegner
betrachtete, als vorwissenschaftliche Weltansicht
einfach abzutun. In mehr oder minder starker Nachfolge
HUSSERLs nimmt eine solche Haltung die gesamte imperialistische
deutsche Philosophie, mit Ausnahme des Neuthomismus, der
Grundfrage der Philosophie und dem philosophischen Materialismus
gegenüber ein. Mit der Phänomenologie beginnt die indirekte,
verlogene Bekämpfung des Materialismus durch die
spätbürgerliche deutsche Philosophie.
HUSSERL gab vor, mit der phänomenologischen Methode jenseits
von Idealismus und Materialismus zu stehen. In Wirklichkeit ist
seine Lehre eine moderne Neuauflage des Platonismus, der
in ihr subjektiv-idealistisch umgebogen ist. In ihren
Konsequenzen ist die Phänomenologie subjektiver Idealismus,
die dem Subjektivismus des etwa in der gleichen Zeit
entstehenden Empiriokritizismus in nichts nachsteht, ihn
durch ihre methodische Willkür sogar übertrifft.
Der subjektiv-idealistische Grundcharakter der Phänomenologie
wird oft übersehen, weil HUSSERL im Anschluß an bolzano und
brentano seine phänomenologische Methode u. a. in der
Auseinandersetzung mit dem Psychologismus in der Logik
entwickelte. Soweit im Rahmen der formalen Logik verblieben
wird, war damit ein Fortschritt im Hinblick auf die
Weiterentwicklung der Logik und ihre Befreiung von der
psychologistischen Betrachtungsweise gegeben. Allein auch die
Phänomenologie gehorcht den Gesetzen der bürgerlichen
Philosophie in der Epoche des Imperialismus, deren Grundtendenz
subjektiv-idealistisch ist. Die von LENIN
in Materialismus und Empiriokritizismus am subjektiven
Idealismus machs und seiner Anhänger geübte Kritik trägt
prinzipiellen Charakter und hat Gültigkeit für die gesamte
bürgerliche Philosophie seit der allgemeinen Krise des
Kapitalismus. Keine der vielen imperialistischen philosophischen
Richtungen konnte und kann sich der grundlegenden Kritik lenins
entziehen. Das zeigt sich am Beispiel der Phänomenologie ganz
deutlich. HUSSERL verfällt der Illusion, die Sphäre des
Bewußtseins verlassen zu haben, sobald er die Bewußtseinsakte
nicht mehr psychologisch, sondern «gegenstandstheoretisch»
untersucht. Mit anderen Worten: HUSSERL meint, wenn er die
Gegenständlichkeit einer Erscheinung sowohl als integrierenden
Bestandteil des Erkenntnisprozesses als auch als Wesensstruktur
der objektiven Realität ausgibt, jedem Subjektivismus eine
Absage erteilt zu haben. Ein solches Vorgehen ist jedoch - wie
lenin am Beispiel des Empiriokritizismus nachwies -
lediglich eine neue Variante des klassischen subjektiven
Idealismus berkeleys, die darauf hinausläuft, den Gegensatz von
Materie und Bewußtsein (und damit auch von Materialismus und
Idealismus) zu neutralisieren. Mit der phänomenologischen
Methode hat Hus-sbrl außer auf den deutschen auch auf den
französischen Existentialismus
nachhaltig eingewirkt (MERLEAU-PONTHY,
SARTRE).
Editorische
Anmerkungen
Der Text wurde entnommen
aus:
Buhr, Manfred,
Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S.835ff
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