Das Philosophische Wörterbuch  BAND 2

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

03/09

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Phänomenologie [griech] - eigtl: Lehre von den Erscheinungen.

1. Als Wort ist Phänomenologie das erstemal von LAMBERT zur Bezeichnung desjenigen Teils seiner Lehre gebraucht worden, in dem er eine Theorie der Erscheinungen als Grundlage und Voraussetzung der Erfahrungserkenntnis entwickelt und der er die Aufgabe zuspricht, den Schein (den Irrtum, die Falschheit) innerhalb der Erscheinung bloßzulegen, um zu ihrem Wesen, zu ihrer Wahrheit vorzudringen (Org4). KANT verwendet das Wort in seiner Naturphilosophie zur Benennung der dort entworfenen Lehre von den empirischen Naturerscheinungen bloß als Vorstellungen im Unterschied zur Lehre vom Ding an sich (Met Anfgr Naturw IV).


Phänomenologie als Wort wird ferner von brentano und seinen Anhängern im Sinne von deskriptiver (beschreibender) Psychologie, von E. von HARTMANN zur Benennung seiner Lehre von den Erscheinungsformen des sittlichen Bewußtseins und anderen gebraucht. Zur Bezeichnung eines philosophischen Systems bzw. einer philosophischen Richtung wird das Wort «Phänomenologie» erst von und seit HUSSERL verwendet.

HEGEL versteht unter Phänomenologie die Erscheinungsformen des Geistes in der dialektischen und historischen Stufenfolge seiner Gestalten von den unmittelbaren sinnlichen Gegebenheiten über das Selbstbewußtsein, die Sittlichkeit, Kunst, Religion, Wissenschaft, Philosophie bis zum absoluten Wissen. Die Phänomenologie des Geistes ist so für HEGELder Weg, den jedes Individuum mit seinem zunächst gewöhnlichen (unmittelbaren) Bewußt-sein zurücklegen muß, um zum philosophischen Bewußtsein aufzusteigen. Dieser Weg ist zugleich die als Wissen dargestellte konzentrierte Erfahrung der wissenschaftlichen Entwicklung der Menschheit von ihren Anfängen bis zu der in der (hegelschen) Gegenwart erreichten Höhe, wobei die logisch-methodischen und historischen Aspekte dieser Entwicklung als Einheit betrachtet werden. In diesem Gedanken hegels ist ein rationelles und dialektisches Moment enthalten, das im dialektischen und historischen Materialismus in der Lehre von der Einheit des Logischen und des Historischen seine Konkretisierung und als Problem seine wissenschaftliche Lösung erfahren hat.

2. von HUSSERL begründete Strömung der spätbürgerlichen deutschen Philosophie. Die Phänomenologie entwickelte sich um die Jahrhundertwende im Zusammenhang mit der beginnenden Abkehr der spätbürgerlichen deutschen Philosophie vom NeuKANTianismus. Hauptinhalt dieser Abkehr vom NeuKANTianismus war das Ersetzen seiner rationalistisch orientierten Erkenntnismethoden durch irrationalistische und die versuchte Eliminierung seines subjektiven Idealismus durch die Konstituierung einer Pseudoobjektivität als Voraussetzungen zum Aufbau einer, breite Kreise der Intelligenz ansprechenden, irrationalistischen Weltanschauung. Die Phänomenologie nimmt sich vor allem der Erfindung einer irrationalistischen «Erkenntnismethode» an, während Weltanschauungsfragen in ihr eine untergeordnete Rolle spielen. Die Ansätze zu einer Weltanschauung, die sich in ihr finden, werden nach dem Kriege von den sie ablösenden und von ihr stark beeinflußten philosophischen Richtungen, der neuen Ontologie und dem Existentialismus, übernommen und weitergeführt. In Anbetracht dessen, daß es der Phänomenologie vornehmlich um die Entwicklung einer neuen philosophischen Methode ging, wird oft statt «Phänomenologie» auch «phänomenologische Methode» gesagt. In der Tat können beide Namen synonym gebraucht werden.

HUSSERL entwickelte die Phänomenologie als philosophische Methode im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, und zwar zunächst als rein akademische Angelegenheit. Erst seine Schüler (M. Scheler, Heidegger, Pfänder, Geiger, Reinach, O. Becker) und Anhänger (vor allem N. HARTMANN) verschafften ihr Breitenwirkung, indem sie sie als philosophisch-methodische Grundlage zum Aufbau ihrer eigenen philosophischen Lehren benutzten oder in einzelnen Disziplinen (Ethik, Logik) oder Einzelwissenschaften (Mathematik, Soziologie) zur Anwendung brachten. Die Phänomenologie als philosophische Methode ist nach HUSSERL nicht Erkenntnis im eigentlichen Sinn, sondern geistiges Schauen, Intuition. Die Intuition wird von HUSSERL bewußt den unabdingbaren Bestandteilen jeder wissenschaftlichen Erkenntnis, dem diskursiven Erkennen und der Abstraktion, entgegengestellt. Das Organon der phänomenologischen Methode ist die Wesensschau: ein innerliches, geistiges Aussprechen des Gegenstandes, wie er in der geistigen Schau gegeben ist, nicht, wie er außerhalb des Bewußtseins existiert. Zwar fordert HUSSERL die prinzipielle Einbeziehung der Frage nach der Realität des Gegenstandes in die Wesensschau, aber nur als ihre allgemeinste Bedingung, von der während der «Schau» selber abzusehen ist. Mit dieser Forderung will HUSSERL dem neukantianischen Subjektivismus aus dem Wege gehen und seiner Lehre eine Wendung zum Objektiven geben. In Wirklichkeit treibt er diesen jedoch auf die Spitze. Am Ende steht keine echte Objektivität, sondern eine Pseudoobjektivität. Denn die Wesensschau hat den Erkenntnisgegenstand unabhängig von seiner Existenz, seinem Dasein, der Art und Weise seines Gegebenseins, ausschließlich in seiner Washeit (das, was der Gegenstand für sich ist) geistig zu sehen (zu schauen). Zu erreichen ist die Wesensschau vor allem mit Hilfe der eidetischen Reduktion, d. h. der Konzentration auf das Wesen des Gegenstandes und die dieses Wesen erfassenden psychischen Akte, der «Ausklammerung» der Außenwelt, des Bewußtseins, des bereits vorhandenen Wissens über den Gegenstand, der bekannten wissenschaftlichen Methoden, jeder Art von Beweisführung überhaupt. Es versteht sich von selbst, daß eine solche Methode die These zur Voraussetzung haben muß, daß der objektiven Realität keine Selbständigkeit zukommt, daß sie nur Intentionalität, Bewußtes, Erscheinendes ist. Eben deshalb kann nach HUSSERL die Frage nach der Realität eines Gegenstandes, die Frage nach der objektiven Realität schlechthin, bei jedem Erkenntnisvorgang «ausgeklammert» werden.

In der wohl besten Einführung in die Phänomenologie HUSSERLs wird dazu formuliert: «Es kommt darauf an, zu beschreiben, nicht zu erklären oder zu analysieren. In dieser ersten Weisung, die hussbrl der beginnenden Phänomenologie gab, nämlich .beschreibende Psychologie' zu sein oder zu den Sachen selbst zurückzukehren, liegt als erstes eine Nichtanerkennung der Wissenschaften. Ich bin nicht das Ergebnis oder der Kreuzungspunkt der vielfachen Kausalitäten, die meinen Körper oder mein Psychisches bestimmen, ich kann mich weder als einen Teil der Welt denken, als das einfache Objekt der Biologie, der Psychologie und der Soziologie, noch mich ganz im Universum der Wissenschaften erschöpfen. Alles, was ich von der Welt weiß, selbst durch die Wissenschaft, weiß ich von meiner Sicht oder meiner Erfahrung der Welt aus, ohne welche die Symbole der Wissenschaften keinen Sinn besäßen. Das gesamte Universum der Wissenschaften ist auf der erlebten Welt errichtet, und wenn wir die Wissenschaften selbst mit Strenge denken und ihre Bedeutung und ihre Reichweite genau würdigen wollen, müssen wir zunächst jene Erfahrung der Welt erwecken, deren zweiter Ausdruck sie sind. Die Wissenschaft hat nicht und wird niemals den gleichen Daseinssinn haben wie die wahrgenommene Welt, aus dem einfachen Grunde, weil sie eine Bestimmung oder eine Erklärung der Welt ist... Die wissenschaftlichen Ansichten, denen zufolge ich ein Moment der Welt bin, sind immer naiv und heuchlerisch, weil sie immer stillschweigend die andere Sicht, die des Bewußtseins, mit einbegreifen, durch welche sich zunächst eine Welt um mich herum ordnet und für mich zu existieren beginnt. Zu den Sachen selbst zurückkehren, heißt zu dieser Welt vor aller Erkenntnis zurückkehren, von der die Erkenntnis immer spricht und im Verhältnis zu der jede wissenschaftliche Bestimmung abstrakt, zeichenhaft und abhängig ist.» Denn: «Die Welt ist kein Objekt, deren Konstitutionsgesetz ich besitze, sie ist das natürliche Milieu und das Feld all meiner Gedanken und all meiner ausdrücklichen Wahrnehmungen. Die Wahrheit wohnt nicht nur in dem inneren Menschen ..., oder vielmehr: es gibt keinen inneren Menschen, der Mensch ist in der Welt, er kennt sich in der Welt. Wenn ich vom Dogmatismus des gesunden Menschenverstandes aus oder vom Dogmatismus der Wissenschaft aus zu mir selbst komme, treffe ich nicht auf ein Zentrum innerer Wahrheit, sondern au/ein der Welt hingegebenes Subjekt» (Merleau-Ponthy, Phenomenologie de la Perception 1945). Diese Ausführungen unterstreichen deutlich den pseudo-objektiven Charakter der Phänomenologie HUSSERLs. Gerade dadurch machte die Phänomenologie innerhalb der bürgerlichen Philosophie der Zeit, vor allem in Deutschland, Schule. Insbesondere daraus erklärt sich die tiefgehende Wirkung der Phänomenologie auf solche einflußreichen spätbürgerlichen philosophischen Richtungen wie die neue Ontotogie und den Existentialismus.

HUSSERLs phänomenologische Methode ist ein ebenso großangelegter wie verfehlter Versuch, die Grundfrage der Philosophie zu umgehen und den philosophischen Materialismus, den der Neukantianismus noch direkt bekämpfte und als Gegner betrachtete, als vorwissenschaftliche Weltansicht einfach abzutun. In mehr oder minder starker Nachfolge HUSSERLs nimmt eine solche Haltung die gesamte imperialistische deutsche Philosophie, mit Ausnahme des Neuthomismus, der Grundfrage der Philosophie und dem philosophischen Materialismus gegenüber ein. Mit der Phänomenologie beginnt die indirekte, verlogene Bekämpfung des Materialismus durch die spätbürgerliche deutsche Philosophie.

HUSSERL gab vor, mit der phänomenologischen Methode jenseits von Idealismus und Materialismus zu stehen. In Wirklichkeit ist seine Lehre eine moderne Neuauflage des Platonismus, der in ihr subjektiv-idealistisch umgebogen ist. In ihren Konsequenzen ist die Phänomenologie subjektiver Idealismus, die dem Subjektivismus des etwa in der gleichen Zeit entstehenden Empiriokritizismus in nichts nachsteht, ihn durch ihre methodische Willkür sogar übertrifft.

Der subjektiv-idealistische Grundcharakter der Phänomenologie wird oft übersehen, weil HUSSERL im Anschluß an bolzano und brentano seine phänomenologische Methode u. a. in der Auseinandersetzung mit dem Psychologismus in der Logik entwickelte. Soweit im Rahmen der formalen Logik verblieben wird, war damit ein Fortschritt im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Logik und ihre Befreiung von der psychologistischen Betrachtungsweise gegeben. Allein auch die Phänomenologie gehorcht den Gesetzen der bürgerlichen Philosophie in der Epoche des Imperialismus, deren Grundtendenz subjektiv-idealistisch ist. Die von LENIN in Materialismus und Empiriokritizismus am subjektiven Idealismus machs und seiner Anhänger geübte Kritik trägt prinzipiellen Charakter und hat Gültigkeit für die gesamte bürgerliche Philosophie seit der allgemeinen Krise des Kapitalismus. Keine der vielen imperialistischen philosophischen Richtungen konnte und kann sich der grundlegenden Kritik lenins entziehen. Das zeigt sich am Beispiel der Phänomenologie ganz deutlich. HUSSERL verfällt der Illusion, die Sphäre des Bewußtseins verlassen zu haben, sobald er die Bewußtseinsakte nicht mehr psychologisch, sondern «gegenstandstheoretisch» untersucht. Mit anderen Worten: HUSSERL meint, wenn er die Gegenständlichkeit einer Erscheinung sowohl als integrierenden Bestandteil des Erkenntnisprozesses als auch als Wesensstruktur der objektiven Realität ausgibt, jedem Subjektivismus eine Absage erteilt zu haben. Ein solches Vorgehen ist jedoch - wie lenin am Beispiel des Empiriokritizismus nachwies - lediglich eine neue Variante des klassischen subjektiven Idealismus berkeleys, die darauf hinausläuft, den Gegensatz von Materie und Bewußtsein (und damit auch von Materialismus und Idealismus) zu neutralisieren. Mit der phänomenologischen Methode hat Hus-sbrl außer auf den deutschen auch auf den französischen Existentialismus nachhaltig eingewirkt (MERLEAU-PONTHY, SARTRE).

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S.835ff

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